Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherung für Reha-Sport bei Überschreitung der Leistungshöchstdauer
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über Leistungen für ärztlich verordneten Rehabilitationssport (Reha-Sport) in Gruppen.
Der 1975 geborene Kläger leidet nach Frakturen der Brustwirbelkörper an einer Querschnittslähmung mit Spastik der unteren
Extremitäten. Er wird krankengymnastisch behandelt und nimmt seit 1998 auf Kosten der Beklagten an den Übungsstunden einer
Selbsthilfegruppe körperbehinderter Menschen teil. Am 22.5.2007 erhielt er vom Deutschen Rollstuhl-Sportverband die Lizenz
zum Fachübungsleiter C Rehabilitationssport "Peripheres und zentrales Nervensystem".
Am 27.11./18.12.2006 verordnete der Allgemeinmediziner Dr. P. dem Kläger - einen Leistungsantrag unterstützend - in einer
Folgeverordnung weiteren Reha-Sport in der Form "Bewegungsspiele in Gruppen" mit dem Ziel des Erhalts der Selbstständigkeit
und der Erweiterung der verbliebenen Funktionen. Der Arzt bestätigte die Notwendigkeit von 120 Übungseinheiten innerhalb eines
Blocks von 36 Monaten wegen einer psychischen Belastungsreaktion des Klägers, um einer psychischen Dekompensation entgegenzuwirken.
Die Ärztinnen Dr. L. und Dr. S. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) betonten jeweils in Stellungnahmen
die Wichtigkeit der Übungsteilnahme für den Kläger bzw hielten eine ständige Bewegungstherapie für "zwingend erforderlich"
und ein "angemessenes, regelmäßiges Sport- und Bewegungsprogramm" für ihn für "grundsätzlich ... medizinisch sinnvoll". Beide
sahen sich aber an der Befürwortung der Leistungsgewährung gehindert durch die in der "Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport
und das Funktionstraining" (vom 1.10.2003; Rahmenvereinbarung 2003) festgelegte Leistungshöchstdauer, die nur bei krankheits-/behinderungsbedingt
fehlender Motivation überschritten werden dürfe. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme für weiteren Reha-Sport ab (Bescheid
vom 18.1.2007; Widerspruchsbescheid vom 26.9.2007).
Das SG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 5.3.2008). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Er
habe keinen Anspruch auf Reha-Sport in Gruppen gemäß §
27 Abs
1 Nr
6, §
40 SGB V iVm §
44 Abs
1 Nr
3 SGB IX, weil derartige Aktivitäten nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 4-2500 §
43 Nr 1 - Funktionstraining) "Hilfe zur Selbsthilfe" bezweckten und nicht auf Dauer angelegt seien. Zwar sei der Reha-Sport
beim Kläger medizinisch notwendig. Das allgemein auf die Steigerung oder Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit gerichtete
Ziel des Reha-Sports könne der Kläger jedoch auch allein außerhalb seiner Gruppe erreichen; denn er verfüge mit seinen Kenntnissen
als Übungsleiter über bessere Kenntnisse und höhere Motivation als "einfache" Teilnehmer solcher Veranstaltungen (Urteil vom
12.11.2009).
Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung von §
44 Abs
1 Nr
3 SGB IX iVm §
43 SGB V. Das LSG-Urteil lasse außer Acht lasse, dass der Anspruch auf Funktionstraining nicht mengenmäßig oder temporär beschränkt
werden dürfe. Ähnlich wie beim Funktionstraining komme es für die Leistungspflicht für den Reha-Sport allein auf die medizinische
Notwendigkeit an, die das LSG ausdrücklich bejaht habe. Der Betroffene dürfe dann nicht darauf verwiesen werden, den Reha-Sport
eigenständig durchzuführen.
In der mündlichen Verhandlung vom 2.11.2010 haben die Beteiligten in Bezug auf die begehrte Kostenerstattung für die Zeit
von Dezember 2006 bis 12.11.2009 einen - an das Ergebnis des Revisionsverfahrens über den Naturalleistungsanspruch ab 13.11.2009
anknüpfenden - Teilvergleich geschlossen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. November 2009 und des Sozialgerichts Regensburg vom 5. März 2008
aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 26. September 2007 zu verurteilen, ihn ab 13. November 2009 mit ärztlich verordnetem Rehabilitationssport in Gruppen zu
versorgen, hilfsweise, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. November 2009 aufzuheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet.
Die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse sind rechtswidrig und aufzuheben.
Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten ärztlich verordneten Reha-Sport in Gruppen auch auf seinen Antrag
von November 2006 hin für die Zeit ab 13.11.2009.
Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) - wie der Kläger - haben gemäß §
11 Abs
2 Satz 1
SGB V "Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehahabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen,
die notwendig sind, um eine Behinderung ... abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu
verhüten oder ihre Folgen zu mindern." Diese Leistungen werden unter Beachtung des
SGB IX erbracht, soweit im
SGB V nichts anderes bestimmt ist (§
11 Abs
2 Satz 3
SGB V; vgl BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 §
40 Nr
4, RdNr
18 mwN). §
43 Abs
1 Nr
1 SGB V regelt, dass die Krankenkasse neben den Leistungen, die nach §
44 Abs
1 Nr
2 bis 6
SGB IX sowie nach §§
53 und
54 SGB IX als ergänzende Leistungen zu erbringen sind, weitere Leistungen zur Reha ganz oder teilweise erbringen oder fördern kann,
wenn sie zuletzt Krankenbehandlung gewährt hat oder leistet. §
44 Abs
1 Nr
3 SGB IX sieht als ergänzende Leistung ua zur medizinischen Reha, welche die in §
6 Abs
1 Nr
1 bis 5
SGB IX genannten Reha-Träger (ua die Beklagte, §
6 Abs
1 Nr
1 SGB IX) zu erbringen haben, "ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" vor.
Aus dem Wortlaut des §
43 Abs
1 SGB V ("zu erbringen ... sind") folgt, dass ein Rechtsanspruch auf die ergänzende Leistung "Reha-Sport in Gruppen" besteht, wenn
die in der Regelung genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Verweisung des §
43 Abs
1 SGB V auf die darin angesprochenen Regelungen des
SGB IX über die Erbringung ergänzender Leistungen zur Reha bewirkt, dass diese Regelungen im Bereich der GKV Anwendung finden, weil
das
SGB V für den in §
44 Abs
1 Nr
3 SGB IX geregelten Reha-Sport nichts Abweichendes iS von §
11 Abs
2 Satz 3
SGB V und §
7 SGB IX bestimmt (vgl bereits BSG SozR 4-2500 §
43 Nr 1 RdNr 20 mwN in Bezug auf die parallele Situation beim Funktionstraining).
Wie der Senat bereits für das "Funktionstraining" am 17.6.2008 entschieden hat, ist die Rahmenvereinbarung 2003 grundsätzlich
nicht geeignet, eigenständig und gegen die gesetzlichen Vorgaben einen höchstzulässigen Leistungsumfang für reha-bedürftige
Leistungsberechtigte in Bezug auf ergänzende Leistungen zu begründen (BSG SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 31 ff). An dieser Rechtsprechung
hält der Senat fest. Auch im vorliegenden Fall ist die Rahmenvereinbarung noch in der bis 31.12.2006 geltenden Fassung anzuwenden,
da sich die zum 1.1.2007 geänderte Neufassung nur auf ärztliche Verordnungen vom 1.1.2007 an bezieht (Nr 20.3 Rahmenvereinbarung
2007). Diese Rechtslage gilt entsprechend für die ergänzende Leistung "Reha-Sport in Gruppen". Dem folgt inzwischen auch die
Beklagte. Auf die von der Beklagten ursprünglich hervorgehobenen, vermeintlich leistungsausschließenden Umstände kommt es
damit nicht an.
Wie der Senat in seinem oa Urteil (aaO RdNr 18 ff) im Einzelnen dargelegt hat, geben die maßgeblichen gesetzlichen Rechtsgrundlagen
für eine Höchstdauer der Gewährung von ergänzenden Leistungen nach §
43 Abs
1 Nr
1 SGB V iVm §
44 Abs
1 Nr
2 bis 6
SGB IX für Versicherte der GKV nichts her. Eine Einschränkung der Anspruchsdauer kann sich vielmehr allein dadurch ergeben, dass
die Leistungen jeweils individuell im Einzelfall geeignet, notwendig und wirtschaftlich sein müssen (vgl §
11 Abs
2 Satz 1
SGB V, §
43 Abs
1 SGB V iVm §
44 Abs
1 Nr
3 SGB IX, §
12 Abs
1 SGB V). Dementsprechend hatte der Senat in seinem oa Urteil die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, um noch feststellen zu
lassen, ob die begehrten (ärztlich zu verordnenden) Leistungen im dortigen Fall akzessorisch zu einer zuvor oder gleichzeitig
zu gewährenden Hauptleistung (Maßnahme der Krankenbehandlung einschließlich medizinischer Reha) waren - solche Leistungen
ergänzten -, und ob sie "notwendig" iS der genannten Regelungen des
SGB V und
SGB IX waren. Derartiges ist vorliegend indessen auf der Grundlage der für den Senat bindenden (§
163 SGG) Feststellungen des LSG zu bejahen.
Im Fall des Klägers hat das LSG festgestellt, dass die ihm ärztlich verordneten ergänzenden Leistungen die ihm ebenfalls gewährte
Krankengymnastik - ein Heilmittel - ergänzten. Es ist ferner gestützt auf die Beurteilung von MDK-Ärztinnen davon ausgegangen,
dass der RehaSport bei dem querschnittsgelähmten und daher in besonderer Weise gesundheitlich beeinträchtigten Kläger medizinisch
notwendig ist, weil die in der Rahmenvereinbarung aufgelisteten Vorgaben erfüllt sind. Soweit das LSG allerdings angenommen
hat, auch der hier begehrte Reha-Sport bezwecke bloße "Hilfe zur Selbsthilfe" und sei nicht auf Dauer angelegt, kann ihm nicht
gefolgt werden. Das lässt bezogen auf die hier betroffene GKV §
2a SGB V außer Betracht, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Die Auffassung
misst ferner dem besonderen Anliegen, behinderten Menschen zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe
besondere Rechte zu gewähren (§
10 SGB I, §
1 SGB IX) und dem auch ihnen im Rahmen der Rechtsvorschriften eingeräumten Wunsch- und Wahlrecht (§
33 SGB I) zu geringe Bedeutung bei.
Zu Unrecht stützt sich das LSG zum Beleg für seine Auffassung auf das BSG-Urteil vom 17.6.2008 zum Funktionstraining (vgl
BSG SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 36). Während beim "Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung"
in Betracht kommt, dass der Betroffene nach Erlernen von Übungen in der Gruppe (zB Wassergymnastik) nach bestimmter Zeit der
fachkundigen Anleitung und Überwachung in der Lage ist, derartige Übungen auch eigenständig durchzuführen und einer gruppenweise
durchgeführten Maßnahme nicht mehr bedarf, gilt das nicht in gleicher Weise für den Reha-Sport in Gruppen.
Die Sachlage bei der vom Gesetz von vornherein nicht nur als "Reha-Sport", sondern ausdrücklich als Reha-Sport "in Gruppen
unter ärztlicher Betreuung und Überwachung" bezeichneten ergänzenden Leistung unterscheidet sich von derjenigen des Funktionstrainings
in wesentlicher Hinsicht und kann folglich auch unterschiedlich geartete Ansprüche auslösen und in Bezug auf die "Notwendigkeit"
anders beurteilt werden. Das Gesetz misst bereits durch die Leistungskennzeichnung der Betätigung behinderter Menschen gerade
in einer rehabilitationsorientierten Sportgruppe einen besonderen Stellenwert im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die
physische und psychische Gesundheit bei, der über denjenigen des gesundheitlichen Nutzens allgemeinen Sporttreibens und sinnvoller
regelmäßiger körperteilbezogener gymnastischer Übungen hinausgeht. Die Hervorhebung des Sports "in Gruppen" beruht hier offensichtlich
auf der Erkenntnis, dass für behinderte Menschen - zumal für Menschen, die wie der Kläger in jungen Jahren auf einen Rollstuhl
angewiesen sind - häufig nur eine begrenzte Zahl von Sportarten in Betracht kommen wird (vgl hierzu allgemein die in Nr 5
bis 5.3 Rahmenvereinbarung 2003 hervorgehobenen Reha-Sportarten). Insoweit wirkt gerade das Gemeinschaftserlebnis, mit anderen
vergleichbar Betroffenen Sportliches leisten zu können, in besonderer Weise rehabilitativ. Selbst die Rahmenvereinbarung 2003
enthält teilweise bereichsspezifische Regelungen für "Reha-Sport" einerseits (Nr 2 bis 2.5, 4, 4.2, 4.4.2, 4.4.3, 4.6, 5 bis
5.3, 8 bis 8.8, 10 bis 10.3, 12 bis 12.2, 13 bis 13.3) und "Funktionstraining" andererseits (Nr 3 bis 3.4, 4.4.4, 6, 9 bis
9.8, 11 bis 11.4, 14 bis 14.4). Entsprechend wäre im Falle des Klägers auch gar nicht einmal erkennbar, auf welche von ihm
nur als Einzelperson zu betreibende und dem Reha-Sport in einer Gruppe gleichwertige sportliche Alternative - zumal "unter
ärztlicher Betreuung und Überwachung" - er zumutbar verwiesen werden könnte, insbesondere dann, wenn sein Revisionsvorbringen
zutreffen sollte, dass es bislang wesentlich auch um die Teilnahme am Rollstuhlbasketballsport ging.
Nach der dargestellten Zielrichtung des Reha-Sports in Gruppen ist die Notwendigkeit demnach auch unabhängig davon zu beurteilen,
über welche individuellen Vorkenntnisse der jeweilige Leistungsberechtigte bereits verfügt. Nach Sinn und Zweck der ergänzenden
Maßnahme, Betroffenen im Rahmen ihrer medizinisch notwendigen Reha und Krankenbehandlung auch sportliche Gruppenaktivitäten
auf Kosten der GKV zu ermöglichen, kommt es damit nicht darauf an, dass der Kläger die formelle Befähigung zum Fachübungsleiter
für Reha-Sport besitzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.