Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall
Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 20.11.2014 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Der Kläger, der bei einem Baumarkt als Verkäufer beschäftigt ist, verletzte sich während des Verladens einer Waschmaschine
auf die Ladefläche des Kleintransporters eines Kunden. In dem Durchgangsarztbericht vom Folgetag wurde dokumentiert, dass
der Kläger die Waschmaschine mit beiden Armen umfasst und angehoben habe. Hierbei habe er einen einschießenden Schmerz im
rechten Ellenbogengelenk verspürt, woraufhin er die Maschine abgesetzt habe. Der Kläger habe auf mehrfaches Nachfragen berichtet,
nicht nachgefasst zu haben. Es bestehe der Verdacht auf eine distale Bizepssehnenruptur rechts. Gegenüber der Beklagten schilderte
der Kläger den Unfallhergang so, dass beim Anheben der Waschmaschine auf ca 1,80 m Höhe beim Nachfassen/Umfassen das Muskelband
im rechten Oberarm gerissen sei. Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall und die Gewährung von
Entschädigungsleistungen ab. Aus dem Durchgangsarztbericht gehe hervor, dass es zu keinem Nachfassen gekommen sei. Selbst
wenn eine äußere Einwirkung anzunehmen sei, sei diese nicht geeignet, den Riss der Bizepssehne rechtlich wesentlich zu verursachen
(Bescheid vom 20.5.2015). Den Widerspruch wies die Beklagte zurück, weil den Erstangaben vom Unfalltag wegen der Unkenntnis des Klägers von der Rechtslage
ein höherer Beweiswert zuzumessen sei als seinen späteren Einlassungen (Widerspruchsbescheid vom 27.11.2015). Das SG hat Beweis erhoben durch Vernehmung des damaligen Vorgesetzten des Klägers und Beiziehung einer vom Marktleiter unterzeichneten
Unfallanzeige sowie diverser Befundberichte. Weiterhin hat das SG ein orthopädisch-chirurgisches Sachverständigengutachten eingeholt. In der mündlichen Verhandlung vom 16.1.2018 hat das SG dem Kläger seine Angaben im Durchgangsarztbericht vorgehalten und die Einlassungen des Klägers hierzu protokolliert. Sodann
hat das SG durch Urteil vom selben Tag unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 20.11.2014
um einen versicherten Arbeitsunfall gehandelt habe. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Anheben einer 50 kg schweren Waschmaschine
stelle ohne Weiteres eine Einwirkung von außen kommender, nicht rein innerkörperlicher Kräfte auf den Körper des Klägers dar.
Auch bei einer gewillkürten Handlung liege eine äußere Einwirkung im Rechtssinne vor. Die Kammer habe sich auf die Darstellung
des Klägers in seiner persönlichen Anhörung stützen können, die mit der Schilderung in der Unfallanzeige übereinstimme. Hiernach
habe ein Nachfassen stattgefunden. Dem Umstand, dass der durchgangsärztliche Erstbericht Gegenteiliges vermerkt habe, sei
kein überwiegendes Gewicht beizumessen. Der Kläger habe plausibel dargelegt, dass es ihm angesichts einer nahe bevorstehenden
Urlaubsreise vorrangig um eine schnelle ärztliche Behandlung, nicht dagegen um eine genaue Darstellung des Hergangs des Unfalls
gegangen sei. Der Kläger habe diese Angaben durchgängig seit der Unfallanzeige gemacht. Für eine prozesstaktische Änderung
des Klagevorbringens bestünden keine Anhaltspunkte.
Auf die Berufung der Beklagten hat die Berichterstatterin des zuständigen Senats am LSG die Beteiligten gemäß §
155 Abs
3 und
4 iVm §
124 Abs
2 SGG zu einer Entscheidung durch sie anstelle des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung angehört. Nach entsprechenden
Einverständniserklärungen beider Beteiligter hat das LSG durch Entscheidung der Berichterstatterin als Einzelrichterin ohne
mündliche Verhandlung das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen(Urteil vom 2.6.2020). Der Kläger habe als angestellter Verkäufer zwar grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung iS des
§
2 Abs
1 Nr
1 SGB VII gestanden. Jedoch stehe das behauptete, von außen auf den Körper einwirkende Ereignis iS des §
8 Abs
1 S 2
SGB VII - die Waschmaschine sei durch Nachfassen abgefangen worden, als diese zu verkanten und abzurutschen drohte - zur Überzeugung
des Senats nicht im Sinne des Vollbeweises fest. Gewichtige Zweifel ergäben sich insbesondere aus dem eigenen Verhalten und
den widersprüchlichen Angaben des Klägers, der beim Durchgangsarzt nicht von einem Nachfassen gesprochen habe. Entgegen der
Auffassung des SG habe der Kläger mit seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem SG diese Diskrepanzen in den Hergangsschilderungen nicht überzeugend aufgeklärt. Soweit der Kläger nach detailreicher Schilderung
des Unfallhergangs erstmals ausführe, es sei ihm beim Durchgangsarzt vorrangig um eine schnelle Behandlung gegangen, sei dieser
Vortrag bereits durch seine weiteren Einlassungen in der Befragung widerlegt. Bei seinen divergierenden Angaben sei es "schlicht
nicht glaubhaft", dass der Kläger den genauen Unfallhergang beim Durchgangsarzt nicht vollständig geschildert habe. Die angegebenen
Gründe für eine unvollständige Unfallschilderung seien "insoweit als Schutzbehauptungen zu werten".
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und sinngemäß des
§
117 SGG (Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme). Die Berichterstatterin am LSG negiere die Überzeugung der Kammer des SG, die diese durch persönliche und unmittelbare Anhörung des Klägers gewonnen habe. Dabei habe sich das LSG selbst kein eigenes
Bild von der Glaubwürdigkeit des Klägers gemacht.
II
Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt den Anforderungen des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG, denn sie bezeichnet substantiiert Tatsachen, aus denen sich ein Verstoß gegen §
117 SGG ergibt.
Das LSG hat die Angaben des Klägers als nicht glaubhaft und die angegebenen Gründe für die vermeintlich unvollständige Unfallschilderung
gegenüber dem Durchgangsarzt als "Schutzbehauptungen" gewertet. Damit hat das LSG den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
nach §
117 SGG verletzt. Dieser Grundsatz ist nur gewahrt und eine sachgerechte Beweiswürdigung nur möglich, wenn sich alle die Entscheidung
treffenden Richter einen persönlichen Eindruck von der zu beurteilenden Person machen (BSG Urteil vom 15.8.2002 - B 7 AL 66/01 R - SozR 3-1500 § 128 Nr 15; vgl BSG Beschluss vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 7; BVerwG Beschluss vom 20.5.2015 - 2 B 4/15 - juris RdNr 10; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 15b; vgl auch BSG Beschluss vom 14.2.2018 - B 14 AS 220/17 B - juris RdNr 5 zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines unmittelbaren persönlichen Eindrucks von Zeugen). Die Berichterstatterin am LSG hat hier die Aussagen des Klägers als Schutzbehauptungen und nicht glaubhaft bezeichnet. Eine
solche Wertung durch den Richter bzw die Richterin ist ohne unmittelbaren Eindruck von der Person des Klägers im Regelfall
nicht zulässig(vgl Keller, aaO, § 117 RdNr 2). Dies gilt möglicherweise dann nicht, wenn der persönliche Eindruck, den der oder die Richter in einer früheren mündlichen
Verhandlung von einem Zeugen bzw Beteiligten gewonnen haben, protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht worden
ist und sich die Beteiligten dazu erklären konnten (BSG, aaO, mwN; insofern zweifelnd, wenn es gerade auf die Glaubwürdigkeit eines Klägers ankommt: Keller, aaO, § 117 RdNr 2 mwN). Gerade dies ist im vorliegenden Verfahren aber ohnehin nicht geschehen, weil keine mündliche Verhandlung vor dem LSG stattfand
(BSG Beschluss vom 18.6.2019 - B 9 V 38/18 B - juris RdNr 13) und auch sonst keinerlei richterlicher Hinweis darauf erfolgte, dass die Berichterstatterin am LSG die Aussagen des Klägers
vor dem SG einbeziehen und als nicht glaubhaft bzw als Schutzbehauptungen werten werde. Zwar kann der Kläger im sozialgerichtlichen
Verfahren nicht förmlich als Partei vernommen werden (vgl §
118 Abs
1 SGG, der nicht auf §
445 der
Zivilprozessordnung <ZPO> verweist). Dennoch liegt hier ein Verstoß gegen §
117 SGG vor, weil die für Zeugen maßgeblichen Grundsätze für die Befragung von Verfahrensbeteiligten entsprechend gelten (BSG Urteil vom 26.1.1983 - 9b RU 56/82 - juris RdNr 13; BSG Urteil vom 28.11.2007 - B 11a/7a AL 14/07 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 7 RdNr 11).
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das
LSG bei Beachtung des §
117 SGG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre (BSG Beschluss vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 9).
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG ggf auch zu prüfen haben, ob die unfallbringende Verrichtung des Verladens einer
Waschmaschine auf das Fahrzeug eines Kunden der grundsätzlich versicherten Tätigkeit als Beschäftigter beim Baumarkt gemäß
§
2 Abs
1 Nr
1 SGB VII zuzurechnen ist, oder ob der Kläger möglicherweise als Wie-Beschäftigter des Kunden gemäß §
2 Abs
2 Satz 1
SGB VII handelte. Ggf wird das LSG dann auch die Verbandszuständigkeit der Beklagten zu prüfen haben.
Des Weiteren könnte das LSG bei seiner erneuten Prüfung zu berücksichtigen haben, dass das Tatbestandsmerkmal eines "von außen
auf den Körper einwirkenden Ereignisses" gemäß §
8 Abs
1 Satz 2
SGB VII keines außergewöhnlichen Vorgangs bedarf. Vielmehr genügt jedes Ereignis, bei dem ein Teil der Außenwelt - wie auch das Gewicht
eines angehobenen Gegenstandes - auf den Körper einwirkt. Das Erfordernis der Einwirkung von außen dient der Abgrenzung von
unfallbedingten Gesundheitsschäden zu Gesundheitsbeeinträchtigungen aus inneren Ursachen sowie zu absichtlichen Selbstschädigungen
(vgl BSG Urteil vom 15.5.2012 - B 2 U 16/11 - BSGE 111, 52 = SozR 4-2700 § 2 Nr 21, RdNr 16). Soweit das LSG davon ausgeht, dass willentliche Kraftanstrengungen ohne eine zusätzliche Einwirkung, wie das Nachfassen,
kein geeigneter Unfallmechanismus für einen Bizepssehnenriss sein können, wird es zu beachten haben, dass die Aussagen der
Gutachter mit der einschlägigen Fachliteratur zur Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über Kausalbeziehungen
vollständig unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte abgeglichen werden müssen(vgl zur Literaturauswertung ohne Gutachten durch auf dem medizinischen Gebiet nicht fachgerecht ausgebildete Richter BSG Urteil vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10 RdNr 22). So benennt die vom LSG zitierte Quelle (Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 426 f) das Nachfassen bei Hebevorgängen nur als ein Beispiel für unphysiologische, überfallartig auf die muskulär gespannte Struktur
einwirkende Belastungen. Ggf wären daher weitere Ermittlungen zum Unfallhergang erforderlich und hierzu der Sachverständige
ergänzend zu hören. Dabei könnte auch zu berücksichtigen sein, dass der Kläger den Sehnenriss in einem Alter erlitten hat,
in dem Texturstörungen der Sehnenmatrix mit zunehmender Häufigkeit festgestellt werden(Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 415). Da die Abwägung, ob das Unfallereignis den Gesundheitsschaden wesentlich (mit-)verursacht hat, auf dem Boden der individuellen
körperlichen und seelischen Konstitution des einzelnen Versicherten im Zeitpunkt der jeweiligen Einwirkung zu treffen ist,
könnten regelhaft-altersgerechte und damit physiologisch-reguläre Texturstörungen ggf keine die Kausalität der versicherten
Einwirkung ausschließende Konkurrenzursache iS einer Vorerkrankung oder Schadensanlage darstellen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.