Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung eines Verfahrensmangels; Zurückweisung
der Berufung; Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung
Gründe:
I
Mit Schreiben vom 2. Februar 2000, dem ein Arztbrief mit mehreren ärztlichen Diagnosen beigefügt war, beantragte der Kläger
bei der beklagten Berufsgenossenschaft die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK). Die Beklagte lehnte die Anerkennung eines
hirnorganischen Psychosyndroms sowohl als BK nach der Anlage der
Berufskrankheiten-Verordnung als auch nach §
9 Abs
2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) ab (Bescheid vom 12. Oktober 2000, Widerspruchsbescheid vom 30. April 2001). Das angerufene Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 26. Oktober 2004 - S 9 U 1511/01). In seiner Berufungsbegründung hat der Kläger neben der Aufhebung des Urteils des SG beantragt: "Die Beklagte wird verpflichtet, die bei dem Kläger bestehende Erkrankung (Hirnorganisches Psychosyndrom) als
Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen."
Nach Anhörung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Beschluss vom 7. Januar 2008 dessen Berufung zurückgewiesen
und ist dabei "sachdienlich gefasst" von dem Antrag ausgegangen, "das Urteil ... und den Bescheid ... aufzuheben und festzustellen,
dass die bei dem Kläger bestehende Erkrankung (insbesondere ein hirnorganisches Psychosyndrom) eine Berufskrankheit der Anlage
zur
BKV bzw. nach §
9 Abs.
2 SGB VII ist, hilfsweise nach §
109 SGG Gutachten ... einzuholen."
In seiner fristgerecht beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Beschwerde rügt der Kläger ua, das LSG habe nicht durch
Beschluss gemäß §
153 Abs
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden dürfen, weil das vorliegende Verfahren sehr komplex und schwierig sei. Damit sei das LSG nicht vorschriftsmäßig
besetzt gewesen und es habe ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter vorgelegen.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 7. Januar 2008 beruht
auf einem Verfahrensmangel nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG. Er ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß §
160a Abs
5 SGG zurückzuverweisen.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3
SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil der angefochtene Beschluss des LSG unter Verletzung des §
153 Abs
4 SGG und damit in einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung (vgl §
33 SGG) ergangen ist (vgl BSG SozR 3-1500 §
153 Nr 13).
Nach §
153 Abs
4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des §
105 Abs
2 Satz 1
SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich hält. Voraussetzung für dieses Vorgehen ist neben den formellen Erfordernissen wie Einstimmigkeit und der Ausübung
des dem LSG eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist.
Denn wenn eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, gibt es keine Grundlage zur Ausübung von Ermessen durch das LSG.
Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass die mündliche Verhandlung das "Kernstück"
des gerichtlichen Verfahrens ist und den Zweck verfolgt, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und
mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Nicht erforderlich wird eine mündliche Verhandlung in der Regel nur dann
sein, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist, so dass Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr
geklärt werden müssen, oder wenn etwa im Berufungsverfahren lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird (vgl BSG
SozR 3-1500 § 153 Nr 13 mwN).
Die Voraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" ist vorliegend nicht gegeben, wie der Kläger unter Hinweis auf
die Komplexität des Verfahrens (Streit um die Anerkennung verschiedener BKen, einschließlich einer möglichen Wie-BK, sowie
um die Einwirkungen verschiedener chemischer Stoffe) zu Recht ausführt. Deutlich wird dies auch an der Antragstellung, denn
das LSG hat nicht über den Antrag des Klägers, so wie er in der Berufungsbegründung formuliert worden war, entschieden, sondern
darüber wie es - das LSG - den Antrag als "sachdienlich" angesehen hat. Dabei hat es ua dem nach seinem Wortlaut auf Anerkennung
einer "Berufskrankheit" beschränkten Antrag einen Antrag auf Anerkennung einer Krankheit "wie" eine BK nach §
9 Abs
2 SGB VII entnommen und die geltend gemachte Erkrankung "hirnorganisches Syndrom" durch den Zusatz "insbesondere" so erweitert, dass
ein tenorierbarer Antrag nicht mehr vorliegt. Schon diese Unklarheiten hätten eine mündliche Verhandlung zur Klarstellung
des vom Kläger mit seiner Berufung verfolgten Ziels erforderlich gemacht (vgl zum Streit um die Anerkennung mehrerer BKen:
BSG SozR 4-1500 § 55 Nr 4; vgl zu Kausalitätsbeurteilungen in der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, jeweils RdNr 13 ff).
Angesichts dieses Verfahrensmangels können die vom Kläger erhobenen weiteren Rügen dahingestellt bleiben.
Der Senat hat von der durch §
160a Abs
5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss wegen des festgestellten
Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Denn ohne
eine klare Antragstellung und darauf bezogene Sachverhaltsermittlungen kann über die zwischen den Beteiligten umstrittene
Anerkennung eines Versicherungsfalls und die Gewährung von Entschädigungsleistungen vom BSG nicht abschließend entschieden
werden.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.