Herabsetzung des Bemessungsentgelts bei der Arbeitslosenhilfe, Wechsel vom Arbeitslosengeldbezug
Gründe:
I. Im Streit ist die Zahlung höherer Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 6. Oktober 2001.
Der 1953 geborene Kläger ist gelernter Tischler und war von 1975 bis 1986 als Schiffbauer und anschließend als Containerschlosser
beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde zum 1. Mai 2000 aus gesundheitlichen Gründen aufgelöst, nachdem der Kläger von Oktober
1998 bis April 2000 arbeitsunfähig erkrankt war. Die Beklagte gewährte ihm ab 14. April 2000 Arbeitslosengeld (Alg) nach einem
Bemessungsentgelt von zunächst 1.080,00 DM bis zur Erschöpfung seines Anspruchs am 5. Oktober 2001 (zuletzt nach einem Bemessungsentgelt
in Höhe von 1.190,00 DM).
Auf entsprechenden Antrag bewilligte die Beklagte Anschluss-Alhi ab 6. Oktober 2001 nach einem Bemessungsentgelt von 960,00
DM, weil der Kläger nach einem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 4. September 2000 wegen der Folgen eines Bandscheibenvorfalls
und weiterer Leiden nicht mehr in der Lage sei, das höhere, der Alg-Bemessung zugrundeliegende Arbeitsentgelt zu erzielen
und nur noch als Pförtner (gegen einen Verdienst entsprechend dem Bemessungsentgelt von 960,00 DM) vermittelt werden könne
(Bescheid vom 30. Oktober 2001; Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2002).
Während das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 4. November 2003), hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben, den Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2002
abgeändert und die Beklagte verurteilt, "dem Kläger Alhi ab 6. Oktober 2001 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von
1.190,00 DM zu zahlen" (Urteil vom 15. Juli 2004). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, Streitgegenstand
seien lediglich die im Urteilstenor bezeichneten Bescheide; spätere Bescheide, insbesondere der vom 1. Oktober 2002 für den
Leistungszeitraum ab 6. Oktober 2002, seien nicht gemäß §
96 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden, weil sie die Höhe des Bemessungsentgelts für den streitigen Zeitraum weder geändert
noch ersetzt hätten. Dem Kläger stehe Alhi gemäß § 200 Abs 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (
SGB III) nach dem Bemessungsentgelt, das der Alg-Zahlung zu Grunde gelegen habe, in Höhe von 1.190,00 DM zu. § 200 Abs 2
SGB III sei nicht einschlägig. Danach sei zwar Bemessungsentgelt das tarifliche Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung, auf die
das Arbeitsamt die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken habe, solange der Arbeitslose
aus Gründen, die in seiner Person lägen, nicht mehr das maßgebliche Bemessungsentgelt erzielen könne; die Anwendung dieser
Norm setze jedoch nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Oktober 2003 (B 7 AL 4/03 R, SozR 4-4300 § 200 Nr 1) voraus, dass die beim Kläger bestehenden Leistungseinschränkungen nicht bereits bei Entstehung des
Alg-Anspruchs gegeben gewesen seien. Auf der Basis dieser Rechtsprechung, die allerdings der bisherigen Auslegung der Norm
wiederspreche, sei eine Herabsetzung des Bemessungsentgelts nicht möglich gewesen, weil die Leistungseinschränkungen des Klägers
bereits bei Entstehung des Alg-Anspruchs am 14. April 2000 vorgelegen hätten.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 200 Abs 2 Satz 1
SGB III. Sie ist der Ansicht, die Anwendung dieser Vorschrift setze keine Änderung in der Leistungsfähigkeit des Klägers gegenüber
dem Zeitpunkt der Alg-Bewilligung voraus. Vielmehr genüge alleine der Umstand, dass der Kläger das Regelbemessungsentgelt
des § 200 Abs 1
SGB III nicht erzielen könne.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, das LSG habe unter Beachtung des BSG-Urteils vom 21. Oktober 2003 (aaO) richtig entschieden. Aus der Formulierung
"nicht mehr" in § 200 Abs 1
SGB III ergebe sich, dass § 200 Abs 2 Satz 1
SGB III eine Änderung in der Leistungsfähigkeit voraussetze.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§
124 Abs
2 SGG).
II. Die Revision ist im Sinne der Aufhebung der LSG-Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Die Entscheidung des Senats vom 21. Oktober 2003 (BSG SozR 4-4300 § 200 Nr 1) ist für den vorliegenden Fall nicht präjudizierend.
Dem Kläger steht nicht schon deshalb höhere Alhi unter Berücksichtigung eines Bemessungsentgelts von 1.190,00 DM zu, weil
die für eine Anwendung des § 200 Abs 2 Satz 1
SGB III maßgeblichen Leistungseinschränkungen bereits zum Zeitpunkt der Alg-Bewilligung vorlagen. Ob die Voraussetzungen für eine
höhere Alhi aus anderen Gründen zu bejahen sind, kann der Senat wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen des LSG nicht
abschließend entscheiden.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 17. Januar 2002 (§
95 SGG). Nach Oktober 2000 sind außerdem Folgebescheide ergangen (wegen Inkrafttretens einer neuen Leistungsentgeltverordnung; neue
Leistungszeiträume; eventuelle Anpassungsbescheide), die entweder unmittelbar gemäß §
96 SGG oder in entsprechender Anwendung des §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sind. Insoweit hat das LSG zu Unrecht die Anwendung des §
96 Abs
1 SGG mit dem Hinweis darauf abgelehnt, die Höhe des Bemessungsentgelts sei weder geändert noch ersetzt worden. Diese Argumentation
trifft deshalb nicht zu, weil der Rechtsstreit nicht nur - isoliert - das Bemessungsentgelt betrifft, sondern die Höhe der
Alhi insgesamt. Zwar hat der Senat wegen fehlender Verfahrensrüge im Revisionsverfahren die Folgebescheide nicht zu beachten;
jedoch wird das LSG sie nach der Zurückverweisung der Sache in seine Entscheidung einzubeziehen haben, falls nicht der Streitgegenstand
vom Kläger bzw von der Beklagten ausdrücklich beschränkt wird.
Ob dem Kläger höhere Alhi zusteht, beurteilt sich nach § 195
SGB III iVm § 198
SGB III und den entsprechenden Vorschriften des Alg (§§
129 ff
SGB III). Danach sind für die Höhe der Alhi mehrere Faktoren maßgebend: (1) Familienstand (vorhandene Kinder), (2) das Leistungsentgelt,
das sich aus dem um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Bemessungsentgelt
(wöchentlich) unter Zugrundelegung der maßgeblichen Steuerklasse errechnet, (3) das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen.
Vorliegend hat das LSG seine Prüfung auf die Höhe des Bemessungsentgelts beschränkt; es fehlen jedoch tatsächliche Feststellungen
(§
163 SGG) zu den weiteren Faktoren. Darüber hinaus fehlen auch Feststellungen zum Anspruchsgrund (§§ 190, 192
SGB III).
Nach § 200 Abs 1
SGB III (idF, die § 200 durch das Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz vom 21. Dezember 2000 - BGBl I 1971 erhalten hat) ist Bemessungsentgelt für die
Alhi das Bemessungsentgelt, nach dem das Alg zuletzt bemessen worden ist oder ohne § 133 Abs 3 bemessen worden wäre, vermindert
um den Betrag, der auf einmalig gezahltem Arbeitsentgelt beruht. Diese Vorschrift hat das LSG angewandt. Abweichend von §
200 Abs 1
SGB III bestimmt sich die Höhe der Alhi vorliegend uU gemäß § 200 Abs 2
SGB III. Danach ist Bemessungsentgelt das tarifliche Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung, auf die das Arbeitsamt (jetzt Agentur
für Arbeit) die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat, solange der Arbeitslose aus
Gründen, die in seiner Person liegen, nicht mehr das maßgebliche Bemessungsentgelt erzielen kann; alle Umstände des Einzelfalles
sind dabei zu berücksichtigen (Satz 1). Nach dem hier nicht einschlägigen Satz 2 bleiben lediglich Einschränkungen des Leistungsvermögens
unberücksichtigt, wenn Alhi nach der Vorschrift über den Anspruch bei Minderung der Leistungsfähigkeit (§
125 SGB III) geleistet wird. Das LSG hätte sich nicht gehindert sehen müssen, die Voraussetzungen des § 200 Abs 2 Satz 1
SGB III im Einzelnen zu überprüfen.
Nach Sinn und Zweck des § 200 Abs 2 Satz 1
SGB III, bestimmte Gründe zu erfassen, die nicht bereits bei der turnusmäßigen Herabbemessung nach § 201
SGB III (aufgehoben ab 1. Januar 2003) berücksichtigt werden, sind im Wesentlichen Leistungseinschränkungen des Arbeitslosen, die
nicht den Verlust an beruflicher Qualifikation bzw in Veränderungen der allgemeinen Arbeitsmarktsituation ihre Ursache haben,
Maßstab der Prüfung (vgl nur BSG SozR 4-4300 § 200 Nr 1 RdNr 9 mwN). Insoweit wird beim Wechsel von Alg zur Alhi die Indizfunktion
des früheren, erzielten Arbeitsentgelts für die Bemessung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit (vgl hierzu nur BSG, Urteil
vom 24. Juni 1999 - B 11 AL 75/98 R -, DBlR Nr 4550 zu § 136 AFG mwN) korrigiert, und zwar bereits bei der erstmaligen Bewilligung von Anschluss-Alhi (BSG SozR 4100 § 136 Nr 7; SozR 3-4100
§
136 Nr
6). Deshalb erfordert § 200 Abs 2
SGB III lediglich eine Überprüfung der Verdienstmöglichkeiten unter Berücksichtigung der bezeichneten, in der Person des Arbeitslosen
liegenden Gründe; ohne Bedeutung ist es, wann die Leistungseinschränkung eingetreten ist (Spellbrink in Kasseler Handbuch
des Arbeitsförderungsrechts, §
13 RdNr
430 iVm 437). Mit § 200 Abs 2
SGB III soll vielmehr eine Anpassung des maßgeblichen Bemessungsentgelts an die realistischen Verdienstmöglichkeiten vorgenommen
werden (Krauß in Praxiskommentar
SGB III, 2. Aufl 2004, § 200 RdNr 20; Hengelhaupt in Hauck/Noftz,
SGB III, K § 200 RdNr 95, Stand Juli 2003), die im Rahmen der Alg-Gewährung nur in beschränktem Umfang möglich ist (§
133 Abs
3 und
4 SGB III in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung). Ob dies vorliegend der Fall ist, kann nach den tatsächlichen Feststellungen
des LSG nicht beurteilt werden.
Auf eine entsprechende Prüfung muss - entgegen der Ansicht des LSG - nicht im Hinblick auf die Entscheidung des Senats vom
21. Oktober 2003 (SozR 4-4300 § 200 Nr 1) verzichtet werden. Diese basiert auf besonderen Umständen, die hier nicht vorliegen.
Maßgebend war seinerzeit, dass sich das vor der Alhi-Bewilligung gezahlte Alg bereits nach dem Bemessungsentgelt gerichtet
hatte, das der Kläger unter Berücksichtigung seiner Leistungseinschränkungen noch hätte verdienen können (§ 112 Abs 7 Arbeitsförderungsgesetz), wobei sich die Beteiligten auf dieses Bemessungsentgelt wiederum in einem gerichtlichen Vergleich unter Heranziehung einer
bestimmten Gehaltsgruppe eines Tarifvertrags geeinigt hatten. Die Ausführungen des Senats im Urteil vom 21. Oktober 2003 (aaO)
sind - ohne dass die Richtigkeit dieser Entscheidung hier zu beurteilen ist - jedenfalls nicht verallgemeinerungsfähig. Sie
gelten jedenfalls nicht für die übliche Bemessung der Alhi beim Wechsel vom Alg-Bezug zum Alhi-Bezug. Deshalb ist vorliegend
ausschließlich zu prüfen, ob der Kläger auf Grund eventuell bestehender Leistungseinschränkungen (Folgen eines schweren Bandscheibenvorfalls,
Krampfadern bei Neigung zu Unterschenkelgeschwüren und einer daraus resultierenden Beschränkung der Einsetzbarkeit auf leichte
bis zeitweise mittelschwere Tätigkeiten unter Einhaltung mehrerer Einschränkungen) realistischerweise wöchentlich den Betrag
verdienen konnte, der richtigerweise dem Alg-Bezug zuletzt zu Grunde gelegen hat bzw zu Grunde zu legen gewesen wäre. Insoweit
ergibt sich nach der Rechtsprechung des BSG keine Bindungswirkung an das dem Alg-Bezug zu Grunde gelegte Bemessungsentgelt
(vgl nur Spellbrink in Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, § 13 RdNr 226 ff mwN). Ob dieses richtig berechnet war,
ist mithin eigenständig zu prüfen. Diese Prüfung wird das LSG nachzuholen und ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens
zu befinden haben.