Notwendigkeit der Wiederholung von Zeugenvernehmungen im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Im Streit ist die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 24. August 2004.
Die im Jahre 1974 geborene Klägerin war bis 30. Juni 2000 als Friseurmeisterin versicherungspflichtig beschäftigt. Nach Zeiten
des Mutterschutzes und der Elternzeit wegen ihrer im Januar 2000 und August 2001 geborenen Kinder meldete sie sich zum 24.
August 2004 arbeitslos. Sie gab an, dass sie seit 1. April 2000 als Inhaberin eines Restaurants eine selbstständige Tätigkeit
von unter 10 Stunden pro Woche ausübe und ihren Ehemann beschäftige. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Bewilligung von Alg
ab, da die Klägerin selbstständig tätig sei, einen Arbeitnehmer beschäftige und damit als Arbeitgeberin fungiere (Bescheid
vom 11. August 2004, Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 2004). Das Sozialgericht (SG) hat unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte verurteilt, "der Klägerin ab dem 24.08.2004 Alg in gesetzlicher
Höhe zu gewähren" (Urteil vom 20. Juli 2005). Die Klägerin gehöre trotz ihrer selbstständigen Tätigkeit weiterhin zum Kreis
der Arbeitnehmer, was auch durch die Wiederaufnahme einer Vollzeitbeschäftigung als Friseurin ab 5. Juli 2005 belegt werde.
Nach der Beweisaufnahme mit Anhörung der Klägerin und der Vernehmung von Zeugen sei das SG überzeugt, dass die Klägerin mit ihrer selbstständigen Tätigkeit die 15-Stunden-Grenze nicht überschritten habe, sodass Anspruch
auf Alg bestehe.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. März 2006). Zur Begründung hat es ausgeführt, es bestehe kein Anspruch
auf Alg, da die Beschäftigungslosigkeit der Klägerin nicht erwiesen sei. Nach dem Ergebnis der vom SG durchgeführten Beweisaufnahme sei der Senat auf Grund der Zeugenangaben nicht davon überzeugt, dass die Klägerin im streitigem
Zeitraum weniger als 15 Stunden in der Woche im und für das Restaurant gearbeitet habe. Das Vorbringen der Klägerin, als Inhaberin
des Restaurants lediglich durchschnittlich 10 Stunden in der Woche tätig zu sein, sei nicht glaubhaft, weil es in erheblichem
Maße Unstimmigkeiten aufweise. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast gehe dies zu Lasten der Klägerin. Eine erneute
Anhörung der Zeugen sei nicht erforderlich, weil der Senat die Angaben der Zeugen zur Anwesenheit der Klägerin im Restaurant
zu Grunde lege, diese jedoch anders bewerte.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin als Verfahrensfehler gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eine unterlassene Wiederholung der Beweisaufnahme sowie eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe
ohne eigene Vernehmung der Zeugen N. V. und C. K. die vom SG durchgeführte Beweisaufnahme anders als dieses gewürdigt. Während das SG die Überzeugung gewonnen habe, dass ihre (der Klägerin) selbstständige Tätigkeit die 15-Stunden-Grenze nicht überschritten
habe, habe das LSG das Gegenteil angenommen und ihren Vortrag als unglaubwürdig angesehen, ohne sie selbst dazu persönlich
gehört zu haben. Außerdem hätte das LSG, wenn es in der Beweiswürdigung dem SG nicht habe folgen wollen, sie (die Klägerin) so rechtzeitig darauf hinweisen müssen, dass sie noch vor dem Termin zur mündlichen
Verhandlung hätte reagieren können. Dagegen habe der Senatsvorsitzende des LSG ihre Anwesenheit im Termin als nicht erforderlich
bezeichnet. Es liege somit eine Überraschungsentscheidung vor.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Klägerin rügt zu Recht, dass das LSG gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit
der Beweisaufnahme (§§
117,
128 SGG) verstoßen und das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt hat.
Zwar liegt die Wiederholung von Zeugenvernehmungen grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts (§
153 Abs
1, §
118 Abs
1 SGG iVm §
398 Abs
1 Zivilprozessordnung >ZPO<). Sie ist aber dann notwendig, wenn das Berufungsgericht von der Würdigung der persönlichen Glaubwürdigkeit durch das
Erstgericht abweicht, insbesondere die bejahte Glaubwürdigkeit in Zweifel zieht, oder eine protokollierte Aussage anders als
das Erstgericht verstehen oder die Aussage eines Zeugen oder Beteiligten hinsichtlich des Inhalts und der Tragweite seiner
Bekundungen anders würdigen will (vgl BSGE 63, 43; BSG SozR 1750 § 398 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 12). Auch im Schrifttum ist unbestritten, dass das Berufungsgericht sich
nicht ohne weiteres über die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Erstgerichts hinwegsetzen darf, ohne die Zeugen selbst gesehen
und gehört zu haben (vgl Meyer-Ladewig,
SGG, 8. Aufl, §
157 RdNr 2c mwN).
Die Behauptung des LSG, eine erneute Vernehmung der vom SG vernommenen Zeugen sei nicht erforderlich gewesen, weil der Senat bei seiner Wertung die Angaben der Zeugen zur Anwesenheit
der Klägerin im Restaurant zu Grunde gelegt und lediglich zu einer anderen Bewertung als der Ehemann der Klägerin gekommen
sei, wird dem Gesamtzusammenhang seiner Entscheidung nicht gerecht. Zum einen lässt diese Begründung außer Acht, dass das
LSG seine abweichende Wertung ganz maßgebend auf den vorangestellten Satz stützt, das Vorbringen der Klägerin sei nicht glaubhaft.
Auch in Bezug auf die Person der Klägerin, die im sozialgerichtlichen Verfahren nicht förmlich als Partei vernommen werden
kann (vgl §
118 Abs
1 SGG, der nicht auf §
445 ZPO verweist), ist §
117 SGG zu beachten. Die Rechtsprechung hat stets betont, dass die für Zeugen maßgeblichen Grundsätze für die Befragung von Verfahrensbeteiligten
entsprechend gelten (BSG SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 6; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 15, BSG Beschluss vom 26. Januar 1983 - 9b
RU 56/82 - USK 8341). Im Übrigen geht der Rechtfertigungsversuch des LSG auch in Bezug auf den vom SG als Zeugen vernommenen Ehemann der Klägerin fehl. Denn das LSG ist nur deshalb zu einer Beweislastentscheidung zu Lasten
der Klägerin gekommen, weil es den Angaben des Ehemannes der Klägerin im Gegensatz zum SG nicht gefolgt ist.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat zuletzt im Beschluss vom 24. Februar 2004 (B 2 U 316/03 B, SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 5) nachdrücklich deutlich gemacht, dass die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person zwingend
voraussetzt, dass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck von dieser Person verschafft. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit
der Beweisaufnahme (§
117 SGG) ist nur gewahrt und eine sachgerechte Beweiswürdigung nur möglich, wenn sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen
persönlichen Eindruck von der zu beurteilenden Person machen (BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 15 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung
des BVerwG, des BFH und des BGH; vgl Meyer-Ladewig,
SGG, 8. Aufl 2005, §
117 RdNr 2a und §
129 RdNr 2b jeweils mwN).
Das LSG hat zugleich gegen das Verbot der Überraschungsentscheidung verstoßen und damit auch den Anspruch der Klägerin auf
rechtliches Gehör iS des §
62 SGG und des Art
103 Abs
1 Grundgesetz (
GG) verletzt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich
zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 60, 175, 210; 64, 135, 143 f; 86, 133, 144). Der Verfahrensbeteiligte muss bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt in
der Lage sein zu erkennen, auf welche Gesichtspunkte es bei der Entscheidung ankommen kann. Ein Gericht verstößt deshalb gegen
den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, wenn es ohne vorherigen Hinweis auf Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch
ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BVerfGE 84,
188, 190; 86, 133, 144 f; 108, 341, 345 f; BVerfG NJW 1994, 1274). Vorliegend hat das LSG eine von der Vorinstanz abweichende Beweiswürdigung vorgenommen, ohne die Beteiligten vorher auf
eine derartige Möglichkeit hinzuweisen. Nach dem vorangegangen Prozessverlauf hatte die Klägerin keine Veranlassung anzunehmen,
dass das LSG nach Aktenlage das Ergebnis der Beweisaufnahme anders beurteilen würde als das SG auf Grund des von ihm persönlich gewonnenen Eindrucks. Auch aus der mündlichen Verhandlung, deren Verlauf in der Niederschrift
des LSG festgehalten ist, konnte die von ihrem Prozessbevollmächtigten vertretene Klägerin keinen Hinweis auf eine Änderung
der Würdigung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme entnehmen, um hierauf reagieren (vgl BVerfG NJW 2003, 2524) und gegebenenfalls Beweisanträge stellen zu können.
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das
LSG bei Beachtung der §§
62 und
117 SGG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil bzw den gemäß §
158 Satz 3
SGG einem Urteil gleichstehenden Beschluss des LSG aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG
zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Berufungsgerichts vorbehalten.