Zuerkennung eines GdB und des Merkzeichens G
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens G (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) zu einem früheren Zeitpunkt.
Die Klägerin beantragte am 16.9.2016 erstmals die Feststellung eines GdB. Der Beklagte erkannte ihr einen GdB von 30 zu sowie
die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit (Bescheid vom 14.11.2016). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9.6.2017).
Im Klageverfahren hat der Beklagte auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens einen Gesamt-GdB von 70
und das Merkzeichen G ab dem 2.5.2018 anerkannt. Das SG hat den Beklagten verurteilt, den GdB der Klägerin ab diesem Zeitpunkt mit 80 zu bewerten und ihre weitergehende Klage abgewiesen
(Urteil vom 22.5.2019).
Mit Urteil vom 29.1.2020 hat das LSG es abgelehnt, der Klägerin das Merkzeichen G sowie einen GdB von 50 bereits ab Antragstellung
im Verwaltungsverfahren am 16.9.2016 zuzuerkennen. Hinsichtlich des Merkzeichens G fehle es insoweit am notwendigen Vorverfahren;
im Verwaltungsverfahren habe die Klägerin nur das Merkzeichen aG beantragt. Die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft
scheide für die Zeit vor dem 2.5.2018 aus. Bis dahin habe die behinderungsbedingte Gesamtbeeinträchtigung der Klägerin nach
den medizinischen Feststellungen das erforderliche Ausmaß noch verfehlt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Das LSG habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt und verfahrensfehlerhaft gehandelt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil
weder der behauptete Verfahrensmangel (1.), noch eine grundsätzliche Bedeutung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl §
160a Abs
2 Satz 3
SGG).
1. Die Beschwerde zeigt keinen Verfahrensfehler auf. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein ergebnisrelevanter
Verfahrensmangel vor, so müssen bei seiner Bezeichnung (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden.
Daran fehlt es hier. Die Klägerin wirft dem LSG vor, es habe ihr Recht auf Befragung der erstinstanzlich gehörten Sachverständigen
verletzt. Wie sie damit allerdings bereits im Ausgangspunkt verkennt, besteht das Recht auf Befragung eines Sachverständigen,
der ein (schriftliches) Gutachten erstattet hat, grundsätzlich nur für solche Gutachten, die im selben Rechtszug erstattet
worden sind (Senatsbeschluss vom 12.10.2017 - B 9 V 32/17 B - juris RdNr 16).
Unabhängig davon setzt die Ausübung des Fragerechts an den Sachverständigen aus §
116 Satz 2
SGG, §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO stets eine hinreichend konkrete Bezeichnung der noch erläuterungsbedürftigen Punkte voraus. Dafür muss ein rechtskundig vertretener
Beteiligter die im bisherigen Verfahren zu den beabsichtigten Fragen bereits getroffenen medizinischen Feststellungen näher
benennen, sodann auf dieser Grundlage auf Lücken, Widersprüche oder Unklarheiten hinweisen und davon ausgehend schließlich
die konkret - aus seiner Sicht - noch erläuterungsbedürftigen Punkte formulieren (Senatsbeschluss vom 5.7.2018 - B 9 SB 26/18 B - juris RdNr 9).
Die Beschwerde hätte deshalb darlegen müssen, welche medizinischen Feststellungen die Sachverständigen im Verfahren bislang
getroffen hatten, auf welche Lücken, Widersprüche oder Unklarheiten die Klägerin in Reaktion darauf hingewiesen und welche
erläuterungsbedürftigen Punkte sie im Einzelnen formuliert hatte. Sie teilt demgegenüber lediglich pauschal mit, die Klägerin
habe eine Befragung der Sachverständigen dazu verlangt, dass ihr bereits ein Gesamt- GdB von 50 ab Antragstellung zustehe
und verweist im Übrigen auf die an die Instanzgerichte übersandten Schriftsätze. Diese Angaben liefern dem Senat keine ausreichende
Grundlage, um die Voraussetzungen einer Verletzung des Fragerechts, wie erforderlich, allein auf der Grundlage der Beschwerdebegründung
zu beurteilen (vgl Senatsbeschluss vom 18.12.2014 - B 9 SB 73/14 B - juris RdNr 7).
Schließlich stellt die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen eine Gehörsrüge dar; daher muss
der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Dafür muss er ua seinen Antrag
auf Anhörung bis zur abschließenden Entscheidung des Gerichts aufrechterhalten (vgl BSG Beschluss vom 27.8.2009 - B 13 R 185/09 B - juris RdNr 16 mwN). Wie die Klägerin dagegen selbst einräumt, hat sie zuletzt einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ausdrücklich ohne
weitere Beweisaufnahme zugestimmt, ohne erneut auf die Befragung der Sachverständigen zu bestehen.
2. Ebenso wenig dargelegt hat die Beschwerde die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Eine Rechtssache hat
nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des §
160 Abs
2 Nr
1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des
Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren
Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch
nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts
erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin,
um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit
(Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog
Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen BSG Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 24/16 B - juris RdNr 7 mwN).
Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die
Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz
ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit Wortlaut, Kontext
und ggf der Entstehungsgeschichte des fraglichen Gesetzes sowie der einschlägigen Rechtsprechung auseinandersetzen (Senatsbeschluss vom 21.8.2017 - B 9 SB 11/17 B - juris RdNr 8 mwN). Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung.
a) Sie hält es für klärungsbedürftig,
ob durch die Beantragung des Merkzeichens aG das Merkzeichen G im Ausgangsverwaltungsverfahren zumindest schlüssig mitbeantragt
ist und daher die spätere Klage auf Zuerkennung des Merkzeichens G bei vorheriger Ablehnung des Merkzeichens aG im Vorverfahren
zulässig ist.
Gegen eine grundsätzliche, fallübergreifende Bedeutung spricht bereits, dass diese Frage auf den Einzelfall der Klägerin zugeschnitten
erscheint. Selbst unterstellt, die Klägerin hielte es für klärungsbedürftig, ob eine allgemeine Auslegungsregel existiert,
derzufolge ein Antrag auf das Merkzeichen aG im Verwaltungsverfahren stets einen Antrag auf das Merkzeichen G umfasst, so
fehlt es an der Darlegung der Klärungsfähigkeit. Während die Klägerin die Ansicht vertritt, der Beklagte habe mit dem Merkzeichen
aG konkludent auch das Merkzeichen G abgelehnt, haben die Vorinstanzen angenommen, dieses Merkzeichen sei überhaupt nicht
Gegenstand des Verwaltungsverfahrens gewesen. Angesichts dessen hätte die Klägerin den Ablauf dieses Verfahrens und insbesondere
den genauen Inhalt der maßgeblichen Ablehnungsbescheide für den Senat nachvollziehbar im Einzelnen wiedergeben und darauf
eingehen müssen. Das hat sie versäumt.
Unabhängig davon hat die Klägerin auch den behaupteten Klärungsbedarf nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Dafür hätte
sie sich mit der vorhandenen Rechtsprechung des Senats zur Auslegung von Anträgen im Verwaltungsverfahren einerseits sowie
zum Verhältnis der Merkzeichen G und aG andererseits auseinandersetzen und aufzeigen müssen, warum sich daraus keine Antwort
auf die von ihr aufgeworfene Frage gewinnen lässt. Maßgeblich sind danach einerseits für die Auslegung von Anträgen als öffentlich-rechtliche
Willenserklärungen ihr objektiver Erklärungswert und die recht verstandene Interessenlage des Antragstellers (§
133 BGB); im Zweifel ist sein Antrag so zu verstehen, dass der Antragsteller unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips
alles begehrt, was ihm aufgrund des von ihm geschilderten Sachverhalts rechtlich zusteht (Senatsurteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16 mwN).
Andererseits gelten nach der Senatsrechtsprechung für den Rechtszustand, der während des Verwaltungsverfahrens im vorliegenden
Fall noch herrschte, für das Merkzeichen aG gegenüber G nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - juris RdNr 21 f; Senatsurteil vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - SozR 3-3870 § 4 Nr 11 S 45). Insbesondere erfordert das Merkzeichen G nach §
146 Abs
1 Satz 1
SGB IX aF (vgl jetzt § 229 Abs 1 Satz 1
SGB IX) nicht stets eine Einschränkung der Gehfunktion. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist im Sinne dieser Vorschrift
auch erheblich beeinträchtigt, wer infolge von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten
oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß
zurückgelegt werden (vgl Senatsurteil vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - SozR 3-3870 § 4 Nr 11 S 45). Mit keinem der zitierten Urteile setzt sich die Klägerin in der erforderlichen Weise auseinander.
Soweit die Klägerin schließlich meint, der Beklagte und die Instanzgerichte hätten ihren Antrag im Verwaltungsverfahren falsch
ausgelegt, kann diese Behauptung der Beschwerde von vornherein nicht zum Erfolg verhelfen. Denn damit rügt sie der Sache nach
nur einen materiellen Rechtsanwendungsfehler (error in iudicando); mit dieser Rüge lässt sich die Revisionszulassung indes
nicht erreichen (stRspr vgl BSG Beschluss vom 14.7.2020 - B 5 R 28/20 B - juris RdNr 4 mwN).
b) Die Klägerin hält es darüber hinaus für klärungsbedürftig,
ob bei orthopädischen Leiden mit einem Teil-GdB von 40 und einem Asthma-Leiden mit einem Teil-GdB von 20 hinsichtlich des
Asthma-Leidens eine lediglich leichte Funktionsstörung anzunehmen ist, die nicht zu einer Zunahme des Gesamt-GdB führt oder
ob wegen des negativen Zueinander-Auswirkens der sich nicht überschneidenden Gesundheitsstörungen eine Erhöhung des niedrigsten
Teil-GdB von 40 auf ein Gesamt-GdB von 50 vorzunehmen ist.
Dahinstehen kann, ob die Klägerin damit überhaupt eine abstrakte, fallübergreifende Rechtsfrage zu konkreten Tatbestandsmerkmalen
einer gesetzlichen Norm formuliert. Denn sie hat es insoweit jedenfalls wiederum versäumt, sich ausreichend mit der vorhandenen
Senatsrechtsprechung und den Vorgaben der in der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) zur Bildung des Gesamt-GdB auseinanderzusetzen. Nach ständiger Rechtsprechung
des BSG ist die Bemessung des GdB grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl zB Senatsbeschluss vom 12.11.2019 - B 9 SB 58/19 B - juris RdNr 8; Senatsbeschluss vom 20.4.2015 - B 9 SB 98/14 B - juris RdNr 6; Senatsbeschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - juris RdNr 5, jeweils mwN). Zu deren Erfüllung haben die Gerichte in der Regel ärztliches Fachwissen heranzuziehen, um die zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen
festzustellen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist nach §
2 Abs
1, §
152 Abs
1 und
3 SGB IX, wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken und welcher
GdB deshalb dafür nach den VMG festzusetzen ist. Teil B Nr 1 Buchst a VMG schreibt in dieser Hinsicht vor, alle die Teilhabe
beeinträchtigenden körperlichen, geistigen und seelischen Störungen "im Einzelfall" zu berücksichtigen und dessen Besonderheiten
Rechnung zu tragen. Mehrere Funktionsbeeinträchtigungen sind dabei nach Teil A Nr 3 Buchst a bis d VMG in ihrer Gesamtheit
zueinander zu beurteilen; ihre möglichen wechselseitigen Beziehungen sind zu berücksichtigen. Wie die Beschwerde dazu selbst
anführt, erklärt Teil A Nr 3 Buchst d DBuchst ee Satz 2 VMG es bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von
20 vielfach nicht für gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, schließt dies
andererseits aber auch nicht ausdrücklich aus.
Die maßgeblichen VMG geben damit in Teil A Nr 3 Buchst d DBuchst ee einen allgemeinen Fingerzeig für die von der Beschwerde
thematisierte mögliche Auswirkung leichter Funktionsstörungen auf den Gesamt-GdB. Im Übrigen verweisen sie für die Klärung
der Frage nach dem Verhältnis verschiedener Einzel-GdB, welche die Beschwerde thematisiert, maßgeblich gerade auf die Umstände
des Einzelfalls. Vor diesem Hintergrund legt die Klägerin nicht substantiiert dar, welche fallübergreifende Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung sich gleichwohl stellen könnte. Vielmehr wendet sie sich im Ergebnis gegen die Beweiswürdigung und
Rechtsanwendung des Berufungsgerichts in ihrem Rechtsstreit. Damit kann sie aber von vornherein keine grundsätzliche Bedeutung
darlegen (vgl Senatsbeschluss vom 19.12.2019 - B 9 SB 38/19 B - juris RdNr 7 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2, §
169 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.