Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld bei Blindheit durch Hirnschädigung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Zivilblindenpflegegeld bzw Blindengeld nach bayerischem Landesrecht.
Der Kläger ist seit seiner extremen Frühgeburt am 18. Februar 1993 cerebral schwer geschädigt (Hirnschädigung auf Grund intrauteriner
oder postpartaler Asphyxie mit deutlicher psychomotorischer Retardierung sowie symptomatische Epilepsie). Er reagiert visuell
nur auf den Wechsel von Hell/Dunkel. Der Beklagte lehnte es ab, auf den im November 1994 gestellten Antrag Leistungen nach
dem Gesetz über die Gewährung eines Pflegegeldes an Zivilblinde - ZPflG - (Bayerisches GVBl 1989, 21) und nach dem mit Wirkung
vom 1. April 1995 an dessen Stelle getretenen Bayerischen Blindengeldgesetz - BayBlindG - (Bayerisches GVBl 1995, 150) zu bewilligen. Dabei stellte er darauf ab: Der Kläger sei im Sinne dieser Gesetze nicht blind.
Trotz Einsatzes aller diagnostischen Möglichkeiten sei es nicht gelungen, das genaue Ausmaß der offensichtlich vorliegenden
Sehstörung festzustellen. Dabei müsse es sich um einen Defekt am optischen Apparat oder in der Verarbeitung optischer Reize
handeln. Andere hirnorganische Störungen seien nicht relevant (Bescheid vom 27. Januar 1995 und Widerspruchsbescheid vom 15.
November 1995).
Das Sozialgericht München (SG) hat die Klage im Wesentlichen mit folgender Begründung abgewiesen: Es habe sich auf Grund der von Amts wegen und nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingeholten Sachverständigengutachten nicht feststellen lassen, dass der Kläger blind sei oder unter einer der Blindheit
gleichzuachtenden Sehstörung leide. Sein Zustand werde durch die schwere Hirnschädigung geprägt, die zu - hier unbeachtlichen
- zentralen Verarbeitungsstörungen geführt habe. Davon sei zwar der Gehörsinn nicht entscheidend betroffen. Das lasse aber
keinen Schluss auf Art und Ausmaß einer Augenschädigung zu (Urteil vom 21. November 1997).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat diese Entscheidung aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1.
November 1994 die begehrten Leistungen zu gewähren. Zur Begründung hat es dargelegt: Der Kläger sei zwar nicht blind. Denn
ihm fehle das Augenlicht nicht vollständig. Er gelte auch nicht wegen geminderter Sehkraft als blind, obwohl die Sehnervenscheibe
beidseitig atrophiert sei. Dieser Befund lasse lediglich auf eine Visusminderung, nicht aber mit der erforderlichen Gewissheit
darauf schließen, dass die Seeschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 betrage. Das Sehvermögen des Klägers sei jedoch
durch Zusammenwirken der Optikusatrophie mit zentralen visuellen Verarbeitungsstörungen in Folge der Hirnschädigung ebenso
schwer beeinträchtigt wie bei einer Herabsetzung der Sehschärfe auf den gesetzlichen Grenzwert (Urteil vom 28. Oktober 2003).
Der Beklagte macht mit der Revision geltend: Das LSG habe Art 1 Abs 3 Nr 2 ZPflG und Art 1 Abs 2 Nr 2 BayBlindG verletzt. Zu den sonstigen, nicht durch eine Herabsetzung der Sehschärfe erfassten Störungen des Sehvermögens rechneten nach
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zwar auch visuelle Verarbeitungsstörungen; aber nur dann, wenn sie sich
von einer generalisierten cerebralen Störung abgrenzen ließen, die erst das "Benennen-Können" nicht bereits das "Erkennen-Können"
betreffe (Hinweis auf BSG SozR 3-5910 § 76 Nr 2). Das LSG habe dagegen angenommen, visuelle Verarbeitungsstörungen, die das
Erkennen-Können beträfen, lägen auch bei schwerer Hirnschädigung mit genereller Herabsetzung der kognitiven Fähigkeiten vor.
Außerdem sieht die Revision §
128 Abs
1 Satz 1
SGG dadurch verletzt, dass das Berufungsgericht aus Videosequenzen, auf denen der Kläger zu sehen ist, auf dessen Unfähigkeit
zu optischer Wahrnehmung bei weitgehend erhaltenem Tastsinn und Gehör geschlossen und daraus dann gefolgert habe, zwangsläufig
sei hier mit der cerebralen Schädigung eine das "Erkennen-Können" beeinträchtigende visuelle Verarbeitungsstörung verbunden.
Das aber hätte sich, so der Beklagte, erst durch eine von ihm mehrfach angeregte, vom Berufungsgericht aber unter Verletzung
seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§
103 SGG) unterlassene neuropsychologische Begutachtung klären lassen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 28. Oktober 2003 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG München
vom 21. November 1997 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
II
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Der Kläger hat ab 1. November 1994 Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld nach dem ZPflG und ab 1. April 1995 auf Blindengeld
nach dem BayBlindG.
An dieser Entscheidung ist der Senat nicht durch eine Irrevisibilität (§
162 SGG) des einschlägigen bayerischen Landesrechts gehindert. Denn der im ZPflG und BayBlindG durchgängig verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt gewollt mit dem Blindheitsbegriff
überein, der von in den Bezirken anderer Landessozialgerichte geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde gelegt
wird (vgl BSG SozR 4-5921 Art 1 Nr 1). Dies trifft auch in Bezug auf den bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit
im Sozialhilferecht (§ 72 Abs 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch >SGB XII<) und im Schwerbehindertenrecht (§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehinderten-Ausweisverordnung)
zu.
Nach Art 1 Abs 1, 3 ZPflG und Art 1 Abs 1, 2 BayBlindG erhalten Blinde und als blind geltende Personen (faktisch Blinde) Zivilblindenpflegegeld und Blindengeld. Faktisch blind
sind gemäß Art 1 Abs 3 ZPflG, Art 1 Abs 2 Satz 2 BayBlindG Personen, (1) deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, oder (2) bei denen durch Nr 1 nicht erfasste
(nicht nur vorübergehende) Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung
der Sehschärfe nach Nr 1 gleich zu achten sind. Zu der letztgenannten Gruppe gehört nach den Feststellungen des LSG der Kläger.
Die Rechtsprechung des BSG hat bereits geklärt, dass für faktische Blindheit nicht nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe
und die Einschränkung des Gesichtsfeldes, sondern vielmehr alle Störungen des Sehvermögens zu berücksichtigen sind, soweit
sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleich zu achten sind (vgl SozR 3-5920
§ 1 Nr 1; SozR 4-5921 Art 1 Nr 1; dazu auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20. August 1998 - L 5 BL 1/97 - JMBl LSA 1999, 47 und Bayerisches LSG, Urteil vom 27. Juli 2004 - L 15 BL 1/02 -). Schon nach dem Wortlaut der Bestimmung ist es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht
und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens
führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings
ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen,
dh das Sehen- bzw Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung
vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann,
die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen mithin
die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht
Die Abgrenzung zwischen Erkennen-Können und Benennen-Können berücksichtigt, dass die visuelle Wahrnehmung nach den Erkenntnissen
der Psychologie ein mehrstufiger Prozess ist, an dessen Beginn die Umwandlung physikalischer Energie in neural kodierte Information
steht, in dessen Verlauf eine innere Repräsentation des Objekts aufgebaut und ein Perzept des äußeren Reizes gebildet und
an dessen Ende diesem Perzept durch Identifizieren und Einordnen eine Bedeutung zugewiesen wird (vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie,
7. Aufl 1999, S 105 ff, 148 f; Mausfeld, Lexikon der Psychologie, Bd 4, 2001, S 439 ff "Wahrnehmung"). Bei vorliegen umfangreicher
cerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise
ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer
zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich
stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Das ist, wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist, bei
einem vollständigen apallischen Syndrom nicht der Fall.
Dieses Begriffsverständnis stimmt im Wesentlichen überein mit dem Willen des bayerischen Landesgesetzgebers, so weit er sich
in die Materialien zum BayBlindG niedergeschlagen hat. Danach ist unter den Begriff "Störung des Sehvermögens" auch die "visuelle Agnosie im klassischen Sinne"
zu fassen (vgl dagegen Nr 23 Abs 4 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
und nach dem Schwerbehindertenrecht, 1996/2004). Darunter sei eine Störung beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die
sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine
Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lasse (Bayerischer Landtag, Drucks 13/458, S 5).
Elementare visuelle Minderleistungen fallen nach diesem Schema unter Art 1 Abs 3 Nr 1 ZPflG Art 1 Abs 2 Satz 2 Nr 1 BayBlindG, soweit sie auf eine Herabsetzung der Sehschärfe zurückzuführen sind. Andere Defekte des optischen Apparats (zB Gesichtsfeldeinengungen)
und der Sehbahn erfasst jeweils die Nr 2 dieser Vorschriften. Ist erst der Prozess cerebraler Verarbeitung des sensorischen
Inputs gestört, so ist wie nach der von der zitierten Rechtsprechung gefundenen Formel maßgebend, auf welcher Stufe die Störung
liegt: beim "Erkennen" oder beim "Benennen". Im Einzelfall mag es sich allerdings als schwierig erweisen, eine Störung zu
lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuordnen.
Im vorliegenden Fall gibt es solche Schwierigkeiten nicht, denn der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG lediglich
hell/dunkel wahrnehmen. Er fixiert dargebotene Gegenstände nicht und macht keine Folgebewegungen mit den Augen. Daraus hat
das LSG gefolgert, dass der Kläger auf einer sehr frühen Stufe des Prozesses visueller Wahrnehmung Objekte schon nicht "erkennen"
kann und damit eine bloße Benennungsstörung perzeptuell repräsentierter Objekte auszuschließen ist. Andererseits hat das LSG
als entscheidende Ursache für das nahezu fehlende Sehvermögen des Klägers eine generelle cerebrale Minderleistung ausgeschlossen.
Der Hirnschaden des Klägers hat nach den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen keine gleichmäßige und "allgemeine"
Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten zur Folge, sondern wirkt sich bei - teilweisem - Erhalt des Gehör-
und des Tastsinns besonders durch den fast vollständigen Ausfall der visuellen Modalität aus. Die auf anderen Feldern der
Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten sind danach nicht ihrerseits so weit herabgesetzt, dass der Leistungsunterschied
zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre.
Diese Beurteilung ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. An die insoweit vom LSG festgestellten Tatsachen ist der
erkennende Senat gebunden (§
163 SGG). Die Verfahrensrügen des Beklagten greifen nicht durch.
Soweit er sich gegen die berufungsgerichtliche Beweiswürdigung (§
128 Abs
1 Satz 1
SGG) wendet, hat er keine ordnungsgemäße Verfahrensrüge erhoben. Das Tatsachengericht entscheidet nach seiner freien, aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der
Logik und der Erfahrung gebunden. §
128 Abs
1 Satz 1
SGG ist erst verletzt, wenn die Beweiswürdigung gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt. Von einem Verstoß
gegen Denkgesetze lässt sich nur sprechen, wenn der festgestellte Sachverhalt nur eine Folgerung erlaubt, keine andere denkbar
ist und das Gericht gerade die einzig denkbare Schlussfolgerung nicht gezogen hat (stRspr, BSG SozR 1500 § 103 Nr 25 mwN).
Dies hat der Beklagte nicht dargetan, sondern allein geltend gemacht, auf den Videosequenzen sei - wegen deren schlechter
Qualität - nicht zu sehen, ob der Kläger Folgebewegungen mit den Augen ausführe. Dabei hat er unberücksichtigt gelassen, dass
sich das LSG hinsichtlich der visuellen Fähigkeiten des Klägers entscheidend auf die Befunderhebungen der Sachverständigen
gestützt hat. Gegen allgemeine Erfahrungssätze verstößt das Gericht, wenn es einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt
(BSG SozR 1500 § 128 Nr 4) oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz anwendet (BSG 36, 35, 36 = SozR Nr 40
zu § 548
RVO; BSG SozR §
128 SGG Nr 72,
89). Solche Rügen hat der Beklagte nicht erhoben.
Der Beklagte macht weiter geltend: Das Berufungsgericht habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen
(§
103 SGG) verletzt. Das LSG habe es unterlassen, neben dem augenfachärztlichen auch ein neuropsychologisches Gutachten einzuholen.
Da die Hauptschädigung des Klägers im zerebralen Bereich liege, hätte das LSG bei gesetzmäßiger Beweiswürdigung zu dem Ergebnis
kommen müssen, dass sich Blindheit im Sinne des bayerischen Landesrechts erst nach eine neuropsychologischen Begutachtung
feststellen lasse und sich deshalb zu entsprechenden Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Das trifft nicht zu. Ein Gericht
hat alle Tatsachen zu ermitteln, die für seine Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich, dh entscheidungserheblich
sind. Dieser Forderung hat das LSG genügt. Zur Entscheidung der Frage, ob das Sehvermögen des Klägers so schwer gestört ist,
dass er als blind zu gelten hat, lagen dem Berufungsgericht zahlreiche Gutachten augenfachärztlicher Kapazitäten über die
hier bestehenden Gesundheitsstörungen und deren Auswirkungen auf das Sehvermögen vor. Ein weiterer Beweis durch Einholung
eines neuropsychologischen Gutachtens musste nicht - wie der Beklagte meint - schon deshalb erhoben werden, weil die "Hauptschädigung
des Klägers zweifellos im zerebralen Bereich liegt". Das wäre erst notwendig gewesen, wenn die genannte Frage sich nach den
in augenfachärztlichen Gutachten wieder gegebenen Befunden nicht zweifelsfrei hätte beantworten lassen. Eine solche Ungewissheit
bestand hier nicht, weil die Störung des Sehvermögens bereits wegen des festgestellten unterschiedlichen Niveaus der Sinneswahrnehmungen
im Bereich des "Erkennens" zu lokalisieren war. Weitere Gesichtspunkte, die das LSG zur Einholung eines neuropsychologischen
Gutachtens hätten veranlassen müssen, hat der Beklagte nicht ordnungsgemäß dargetan. Die pauschale Bezugnahme auf verschiedene,
im vorinstanzlichen Verfahren abgegebene versorgungsärztliche Stellungnahmen reicht insoweit nicht aus (vgl BSG SozR 1500
§ 164 Nr 28).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.