Statthaftigkeit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren bei fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Heilbronn (SG) vom 29.09.2015.
Mit Bescheid vom 20.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2015 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers
auf Erstattung von Umzugskosten in Höhe von 654,50 €, die für die Inanspruchnahme einer Umzugsfirma angefallen waren, ab.
Mit der dagegen erhobenen Klage zum SG hat der Kläger die Erstattung dieser Kosten weiter geltend gemacht und zuletzt schriftsätzlich die "Übernahme aller Wohnungsbeschaffungskosten
gemäß beiliegender Anlage D" beantragt. Die in der bezeichneten Anlage D aufgelisteten Umzugskosten, die neben den Kosten
der Umzugsfirma eigene Auslagen des Klägers für unternommene Fahrten umfassen, belaufen sich auf insgesamt 938,50 €. Zum Termin
zur mündlichen Verhandlung des SG am 29.09.2015 ist der Kläger persönlich mit Zustellungsurkunde (28.05.2015) geladen worden. Unter dem 22.09.2015 hat sich
der Prozessbevollmächtigte des Klägers für diesen legitimiert und die Verlegung des Verhandlungstermins wegen anderweitiger
Termine beantragt, was vom SG unter Hinweis auf die erfolgte persönliche Ladung des Klägers abgelehnt worden ist. Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom
29.09.2015, bei der der Kläger nicht erschienen und auch nicht vertreten war, hat das SG die Klage mit Urteil vom selben Tag abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klage, mit welcher der Kläger "sachdienlich
gefasst" die Übernahme von Umzugskosten von 654,50 € begehre, sei unbegründet. Anlass, die Berufung zuzulassen, bestehe nicht.
In der dem Urteil beigefügten Rechtsmittelbelehrung wird über die Möglichkeit der Einlegung einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung
der Berufung belehrt. Im Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg macht der Kläger geltend,
die Entscheidung des SG sei rechts- und verfahrensfehlerhaft. Er habe zuletzt beantragt, den Beklagten zur Übernahme der gesamten Umzugs- und Wohnungsbeschaffungskosten
in Höhe von 938,50 € zu verurteilen. Dieser Antrag sei als Klageerweiterung auszulegen und keiner als sachdienlich bezeichneten
Antragsauslegung zugänglich. Das SG "unterschlage" somit einen Teil der geltend gemachten Kosten für die unternommenen 15 Fahrten des Klägers zwischen dem alten
und dem neuen Wohnort. Unter Berücksichtigung dieser Kosten übersteige die Beschwer den Beschwerdewert von 750,00 €.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung
der Entscheidung des SG über die Nichtzulassung der Berufung. Die Berufung ist kraft Gesetzes nach §
143 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig.
Nach §
145 Abs.
1 SGG kann die Nichtzulassung der Berufung durch das Sozialgericht durch Beschwerde angefochten werden. Nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts,
wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten
Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen
für mehr als ein Jahr betrifft (Satz 2).
Im vorliegenden Fall ist das SG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Berufung der Zulassung bedarf. Denn es hat über wesentliche Teile des Streitgegenstandes,
nämlich die geltend gemachten weiteren Wohnungsbeschaffungskosten des Klägers, in der Sache nicht entschieden. Dies stellt
einen Verfahrensfehler dar. Nach §
123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Dies hat
das SG versäumt, indem es nicht über alle aus dem vom Kläger vorgebrachten Begehren folgenden Klageanträge (vgl. zur Auslegung,
Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, § 123 Rdnr. 3) entschieden hat. Zwar hat das SG im Tatbestand des Urteils die vom Kläger im Zusammenhang mit dem Umzug angegebenen 15 eigenen Fahrten erwähnt, gleichwohl
in dem dort formulierten Klageantrag - als angeblich sachdienlich gefasst - lediglich die Kosten der beauftragten Umzugsfirma
von 654,50 € aufgenommen. Schon aufgrund der Erwähnung der weiteren Umzugskosten im Tatbestand einerseits, deren Nichtnennung
im Antrag andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass das SG nur versehentlich über ein Teil des Klagebegehrens nicht entschieden hat (vgl. dazu Keller a.a.O. § 123 Rdnr. 6 und § 140
Rdnr. 2c; Landessozialgericht <LSG> Bayern, Urteil vom 18.03.2015 - L 11 AS 152/14 - <[...]>). Das Urteil ist in diesem Fall nicht unvollständig - und damit einer Urteilsergänzung zugänglich -, denn das bewusste
Ausklammern eines Teils des Streitgegenstandes aus einem Vollurteil wird von der Regelung des §
140 SGG nicht erfasst (Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 02.04.2014 - B 3 KR 3/14 B - <[...]>). Das Urteil ist in diesem Falle vielmehr mit einem wesentlichen Verfahrensfehler behaftet und mit dem statthaften
Rechtsmittel anzugreifen (Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte,
SGG 2. Aufl. 2014, §
140 Rdnr. 9). Dieses ist - wegen Übersteigen des Beschwerdewerts von 750,00 € - die Berufung.
Da die Berufung danach kraft Gesetzes zulässig ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats über deren Zulassung, so dass
die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolglos bleibt, soweit sie hierauf gerichtet ist. Dem Ausspruch in dem Urteil
des SG, dass die Berufung nicht zugelassen werde, kommt keine konstitutive Bedeutung zu. Auch wenn der Kläger daher nicht gehindert
war (und weiterhin ist), sogleich Berufung einzulegen, entfällt hierdurch nicht das Rechtsschutzbedürfnis für die Nichtzulassungsbeschwerde.
Die Entscheidung des SG erweckt nämlich den Anschein, die Berufung gegen das Urteil sei kraft Gesetzes ausgeschlossen und es bedürfe zu ihrer Statthaftigkeit
einer besonderen Zulassung durch das Gericht. Dieser Rechtsschein belastet denjenigen, der gegen ein Urteil Berufung einlegen
möchte. Deshalb ist ein berechtigtes Interesse des Rechtsmittelklägers an der Aufhebung des unrichtigen Ausspruchs über die
Nichtzulassung der Berufung anzuerkennen (ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.12.2011 - L 25 AS 1946/11 NZB - m.w.N.; LSG Thüringen, Beschluss vom 14.04.2015 - L 6 R 1321/14 NZB - <jeweils [...] >).
Mangels einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung tritt die Rechtsfolge des §
145 Abs.
5 Satz 1
SGG nicht ein. Das Beschwerdeverfahren wird nicht (automatisch) kraft Gesetzes als Berufungsverfahren fortgesetzt; es bedarf
vielmehr der Einlegung einer Berufung, für die die wegen der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung durch das SG maßgebliche Jahresfrist nach §
66 Abs.
2 Satz 1
SGG gilt und die der Kläger gegebenenfalls noch einlegen kann. Der erkennende Senat teilt die Auffassung, dass eine entsprechende
Anwendung des §
145 Abs.
5 Satz 1
SGG in der vorliegenden Konstellation nicht in Betracht kommt. Es fehlt hierfür bereits an einer Regelungslücke, die durch eine
Analogie geschlossen werden könnte; denn den Beteiligten steht es bei einer irrtümlich ausgesprochenen Nichtzulassung der
Berufung offen, gegen das Urteil entweder sogleich oder aber nach Aufhebung dieser Entscheidung Berufung einzulegen (ebenso
LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O. und LSG Thüringen, a.a.O.; a.A. LSG Hessen, Beschluss vom 19.05.2011 - L 4 KA 5/11 NZB - <jeweils [...]>), wobei ihnen gegebenenfalls bei Versäumung der Berufungsfrist nach Maßgabe des §
67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.05.2007 - L 9 KR 205/04 NZB - < [...]>).
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend §
193 SGG.
Da die Nichtzulassungsbeschwerde jedenfalls teilweise erfolgreich war und auch die übrigen Bewilligungsvoraussetzungen vorliegen,
war dem Kläger für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen
(§
73a SGG i.V.m. 114 der
Zivilprozessordnung).
Diese Entscheidung ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§
177 SGG bzw. §
73a SGG i.