Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten in der gesetzlichen Krankenversicherung
Verfügbarkeit allgemein anerkannter, dem medizinischen Standard entsprechender Leistungen
Anforderungen an die begründete Einschätzung eines behandelnden Vertragsarztes
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Versorgung mit Cannabisblüten und die Erstattung der für die Selbstbeschaffung bereits entstandenen
Kosten.
Der 1982 geborene Kläger war bis zum 31.01.2019 bei der Beklagten krankenversichert. Er reichte am 30.04.2018 bei der Beklagten
unter anderem einen Arztfragebogen zu Cannbinoiden nach §
31 Abs
6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) ein und fügte weitere ärztliche Unterlagen bei. Im Arztfragebogen gab die H an, der Kläger leide an einem chronischen Schmerzsyndrom
bei Bandscheibenprotrusion multisegmental und Bandscheibenvorfall, aktivierter Spondylarthrose und ausgeprägter Dermatitis
bei Psoriasis. Als Behandlungsziel gab sie an: Schmerzlinderung, Ermöglichung der Berufstätigkeit, Vermeidung von massiven
Nebenwirkungen der bisherigen Schmerztherapie. Der Kläger leide unter einem stärksten Schmerzzustand. Sie verwies auf einen
orthopädischen Befundbericht vom 17.01.2017 der orthopädischen Gemeinschaftspraxis K./M.. Die aktuelle Medikation bestehe
aus Tilidin 50/4 2 mal täglich, Pantazol 40 1 mal täglich, Ibuprofen 600 3 mal täglich und Novalgin 500 3-4 mal täglich. Bei
den bisherigen Therapieversuchen hätten sich jeweils ausgeprägte Nebenwirkungen gezeigt. Beigefügt war auch ein Entlassungsbrief
über die stationäre Behandlung vom 10. bis 14.03.2016 in der Klinik für Orthopädie des Diakonissenkrankenhauses K. sowie der
Entlassbericht über die vom 17.05.2016 bis 07.06.2016 im Ambulanten Zentrum am E. durchgeführte Rehabilitation.
Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einem Gutachten. Dieser kam in seinem
sozialmedizinischen Gutachten vom 07.05.2018 zu dem Ergebnis, die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung der begehrten
Versorgung seien nicht erfüllt. Es sei bei dem vorliegenden Schmerzsyndrom bei Wirbelsäulensyndrom nicht eindeutig von einer
schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von §
31 Abs
6 SGB V auszugehen. Eine aktuelle stationäre Schmerztherapie sei nicht dokumentiert, ebensowenig wie eine längere aktuelle Arbeitsunfähigkeit
oder aktuelle Facharztberichte. Die Behandlung eines Wirbelsäulensyndroms solle vorwiegend nichtmedikamentös erfolgen, durch
Krankengymnastik, Entspannungsmaßnahmen, Funktionstraining etc. Aus gutachterlicher Sicht sei die Einschätzung des behandelnden
Vertragsarztes, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternative nicht zu Anwendung
kommen könne, nicht begründet.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 14.05.2018 ab.
Der Kläger erhob Widerspruch und begründete diesen im Wesentlichen mit dem Hinweis auf seine starken Schmerzen und die Nebenwirkungen
der medikamentösen Therapie. Er legte ein Attest von H vom 21.06.2018 vor. Diese führte zusammengefasst aus, der Kläger leide
unter ganz erheblich andauernden Schmerzen, die mit den bislang eingesetzten Schmerzmitteln entweder unzureichend therapiert
gewesen seien oder durch die Therapie erhebliche Nebenwirkungen aufgetreten seien. Eine stationäre Schmerztherapie sei dem
Kläger nicht möglich, da er in leitender Stellung als Security gearbeitet und als Familienvater mit kleinen Kinder seine Stellung
nicht habe gefährden können. Aus diesem Grund - es seien wechselnd Tag- und Nachtschichten nötig gewesen - sei es auch ein
Problem Physiotherapie neben der Berufstätigkeit durchzuführen.
Der erneut beauftragte MDK hielt in seinem Gutachten vom 12.09.2018 an seiner bisherigen Einschätzung fest. Der Kläger legte
noch eine weitere ärztliche Stellungnahme von H vom 19.10.2018 vor, wonach der Kläger die begehrte Cannabisblütentherapie
über sieben Monate privat finanziert und sehr gut vertragen habe, nunmehr aber aus finanziellen Gründen und nach einer Knieverletzung
aufgrund eines Motorradunfalls sowie Schulter- und Rückenschmerzen wieder zu seiner alten Medikation zurückgreifen müsse und
erneut unter erheblichen Nebenwirkungen leide.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2018 zurück. Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten
am 12.11.2018 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 12.12.2018 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Er hat im Wesentlichen auf die Ausführungen von H verwiesen. Den Ausführungen des MDK sei nicht zu folgen. Insbesondere
hat er ausführt, dass bei der Frage der Zumutbarkeit auch die Auswirkungen der Alternativen auf das Leben des Kranken eine
Rolle spiele. Die Ansicht des MDK, wonach berufliche Verhinderung keine therapeutische Alternativlosigkeit begründen könne,
sei unzutreffend.
Das Gericht hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen befragt.
Die H hat mit Schreiben vom 14.02.2019 eine Therapie mit Cannabis weiterhin befürwortet und angegeben, unter Schmerzmedikation
sei es zu starken Nebenwirkungen wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfällen, Schwindel, Müdigkeit und Verschlimmerung der Neurodermitis
gekommen. Der Kläger führe Physiotherapie durch, wenn dies neben Berufstätigkeit und Weiterbildung zeitlich möglich sei. Für
eine multimodale Schmerztherapie gebe es Terminschwierigkeiten; ein längerer Aufenthalt sei aus finanziellen und beruflichen
Gründen schwierig.
Der K hat angegeben, es bestünden bekannte degenerative Veränderungen im Lendenwirbelsäulenbereich mit Teilsequestrierung
und entsprechender neurologischer Symptomatik, von Vorstellungen dort März 2016, Januar 2017 und November 2018 (wegen Schulterproblemen)
berichtet und mitgeteilt, er habe physiotherapeutische und antiphlogistische Therapie empfohlen. Eine Wiedervorstellung habe
jeweils nicht stattgefunden. Eine medikamentöse Schmerztherapie habe er nicht durchgeführt. Es könne von orthopädischer Seite
aus durchaus eine Versorgung mit Cannabisblüten indiziert sein.
Die Beklagte hat ein weiteres MDK-Gutachten vom 03.04.2019 vorgelegt, das die bisherige Einschätzung bestätigt hat. Die Behandlungsoptionen
seien nicht ausgeschöpft. Weiterhin hat die Beklagte einen Leistungsauszug vorgelegt, aus dem sich ergebe, ihr sei von der
damals behandelnden S. etwa ein Jahr vor der erstmaligen Cannabis-Verschreibung durch H die Diagnose F 12.2 Psychische und
Verhaltensstörungen durch Cannabinoide: Abhängigkeitssyndrom als "gesicherte Diagnose" gemeldet worden.
Der Kläger hat daraufhin eine weitere Stellungnahme von Frau S vom 09.07.2019 vorgelegt, wonach bei ihr im Mai 2017 nur eine
einmalige Konsultation stattgefunden habe, die nicht zu einer weiterreichenden Begutachtung herangezogen werden könne und
wonach aktuell keine Hinweise für eine aktuelle Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit vorliegen würden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 03.06.2020 abgewiesen. Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Erstattung der bereits
entstandenen Kosten noch auf Versorgung mit Cannabisblüten. Ein Kostenerstattungsanspruch setze einen entsprechenden Sachleistungsanspruch
voraus. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten. Das SG hat sich nicht davon überzeugen können, dass es sich bei dem chronischen Schmerzsyndrom des Klägers um eine schwerwiegende
Erkrankung im Sinne des Gesetzes handele. An der erforderlichen nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer
bestünden schon deshalb einer Überzeugung entgegenstehende Zweifel, weil eine regelmäßige fachärztliche Behandlung offenbar
nicht erfolgt sei. Darauf, ob eine der Versorgung mit Cannabis entgegenstehende Abhängigkeitsproblematik beim Kläger bestehe,
komme es vorliegend ebenso wenig auf den Umstand an, dass H offenbar lediglich ein Privatrezept und keine vertragsärztliche
Verordnung ausgestellt habe. Einem Anspruch auf Versorgung mit Cannabis stehe seit dem 31.01.2019 zudem das Ende der Mitgliedschaft
entgegen.
Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 08.06.2020 gegen Empfangsbekenntnis zustellten Gerichtsbescheid richtet sich die
am 08.07.2020 erhobene Berufung des Klägers. Zur Begründung führt er aus, es handele sich bei seiner Erkrankung, einem chronischen
Schmerzsyndrom, um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von §
31 Abs
6 SGB V. Weder der Ablehnungsverfügung noch dem Widerspruchsbescheid der Beklagten sei zu entnehmen, von welcher Erkrankung die Beklagte
überhaupt ausgehe. Aus dem sozialmedizinischen Gutachten vom 12.09.2018 ergeben sich keine weiteren Anhaltspunkte und/oder
Feststellungen. Es sei lediglich ausgeführt, dass für den Kläger ein chronisches Schmerzsyndrom bei einer Bandscheibenproblematik
bestehen würde. Auch der angefochtene Gerichtsbescheid lasse nicht erkennen, von welchen tatsächlichen (medizinischen) Feststellungen
das SG ausgegangen sei, wenn es das Tatbestandsmerkmal einer schwerwiegenden Erkrankung verneint habe. Der Kläger verweist auf die
Ausführungen von H. Diesen sei auch zu entnehmen, dass die schulmedizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft seien und die Behandlungsergebnisse
keine befriedigende Wirkung gezeigt hätten. Die Ärztin habe erhebliche Nebenwirkungen attestiert, die eine Fortsetzung der
schulmedizinischen Maßnahmen unmöglich gemacht hätten. Sie habe substantiiert ausgeführt, um welche unverhältnismäßig stark
auftretenden Nebenwirkungen auszugehen gewesen sei. Sie habe dargelegt, dass massive Übelkeit und Durchfälle sowie Übelkeit
und Müdigkeit unter Tilidin und Tramal aufgetreten seien. Der Kläger rügt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
im Rahmen der umfassenden Abwägung bei der Frage der Zumutbarkeit der Maßnahmen, die dem medizinischen Standard entsprechen
würden. Bei der Frage der therapeutischen Alternativen müsse auch die Frage der Zumutbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Auswirkungen
derartiger Alternativen auf das Leben des Kranken eine Rolle spielen. Die behandelnde Ärztin habe dargelegt, dass eine Operation
abgelehnt worden sei, um nicht das berufliche Fortkommen zu hindern. Dem Kläger sei kein Verhalten zuzumuten, dass es im Rahmen
der Anwendung und Durchführung schulmedizinischer Alternativtherapien möglicherweise zu einer gravierenden Beeinträchtigung
der beruflichen Situation führen würde. Unter Beachtung der Einschätzungsprärogative der behandelnden Ärzten sei davon auszugehen,
dass die Tatbestandsvoraussetzungen des §
31 Abs
6 SGB V vorliegen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.06.2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids
vom 14.05.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.11.2018 zu verurteilen, ihn in der Zukunft mit Cannabisarzneimitteln
zu versorgen und die bereits aufgewandten Kosten iHv 2.086,74 € zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für überzeugend und schlüssig. Sie verweist auf das Gutachten des MDK vom 03.04.2019;
der Gutachter habe die relevanten Diagnosen aufgeführt. Die vom Kläger angeführte berufliche Situation sei nachzuvollziehen.
Lehne der Kläger eine stationäre Operation ab, dürfe dies nicht zum Nachteil der Versichertengemeinschaft führen.
Der Kläger hat 14 Privatrezepte und korrespondierende Rechnungen datierend ab 02.05.2018 bis 12.09.2018 über die Versorgung
mit Cannabis in Höhe von insgesamt 2.086,74 € vorgelegt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Anlagen zum Schriftsatz
des Klägers vom 01.10.2020 Bezug genommen.
Außerdem hat der Kläger noch ein ärztliches Attest von H vom 26.02.2021 vorgelegt. Sie hat ausgeführt, der Kläger leide seit
vielen Jahren an chronischen Rückenschmerzen, 2017 habe er einen Bandscheibenvorfall L4/6 mit Fußheber- und -senkerparese
links, der operiert werden sollte, erlitten. Er habe stattdessen eine intensive Reha absolviert, sei regelmäßig im Rückensport
und führe zu Hause eigene Übungen durch. Die gängigen Schmerzmittel (Ibu, Tilidin und Oxycodon) habe er äußerst schlecht vertragen
(auf lbu Durchfall und Hautausschläge, der Kläger sei Allergiker), auf Tilidin und Oxycodon Müdigkeit und Schläfrigkeit).
Er habe aber gut auf Bedrocan bzw Pedenios 20/1 reagiert, die ihm auf Privatrezept und eigene Kosten verschrieben worden seien.
Mittlerweile benutze er keinerlei der genannten Schmerzmittel, treibe regelmäßig Gymnastik und es sei ihm gelungen, die Menge
an Cannabis von 1,4 am Tag auf 0,69/Tag zu reduzieren. Aus diesen Gründen sei es seitens des Hausarztes nur erneut zu befürworten,
dass die Krankenkasse, mittlerweile die AOK, die Kosten der Cannabistherapie übernehme.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 05.03.2021 und der Kläger mit Schriftsatz vom 08.04.2021 das Einverständnis mit einer Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten
sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §
153 Abs
1,
124 Abs
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheidet, ist unbegründet.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß §
151 Abs
1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§§
143,
144 Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG). Sie bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger verfolgt seinen Anspruch zu Recht mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage
(§
54 Abs
1 und 4
SGG). Die Klage ist zulässig. Ein Kostenerstattungsanspruch hat stets die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zum Gegenstand
und muss deshalb für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz beziffert werden (Bundessozialgericht
<BSG> 28.01.1999, B 3 KR 4/98 R, BSGE 83, 254, 263 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1). Maßgebend ist dabei, ob die Kosten der Behandlung bereits abgerechnet wurden. Nur soweit Leistungen
zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung bereits erbracht, aber noch nicht abgerechnet wurden, ist es prozessual zulässig, der
Klage einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten für die selbst beschaffte Behandlung zugrunde zu legen (BSG 17.06.2010, B 3 KR 7/09 R, BSGE 106, 173). Der Kläger hat die vorgelegten Rechnungen von insgesamt 2.086,74 € bereits beglichen, sodass die Klage insoweit zulässig
auf Erstattung gerichtet ist. Der Bescheid der Beklagten vom 10.08.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.02.2019
stellt sich jedoch als rechtmäßig dar und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen
Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln sowie auf Erstattung der ihm bisher entstandenen Kosten iHv 2.086,74 €.
Ob die Erteilung der begehrten Genehmigung durch die Beklagte bereits deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Kläger nicht
mehr bei der Beklagten versichert ist (vgl §
19 Abs
1 SGB V), kann der Senat offenlassen, denn die materiellen Voraussetzungen für die Genehmigung liegen nicht vor. Der Kläger hat keinen
Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis.
Nach §
27 Abs
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§
31 SGB V). Gemäß §
31 Abs
6 Satz 1
SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten
oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon,
wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (a) nicht zu Verfügung steht oder (b)
im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen
und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und (2.) eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
besteht. Nach §
31 Abs
6 Satz 2
SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen
abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Der Begriff der "schwerwiegenden Erkrankung" wird in §
31 Abs
6 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in "eng begrenzten
Ausnahmefällen" gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S 14 und 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung
stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert
ist, hat es der Senat für sachgerecht erachtet, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung so wie in §
35c Abs
2 Satz 1
SGB V zu verstehen (LSG Baden-Württemberg 19.09.2017, L 11 KR 3414/17 ER-B, juris Rn 28; LSG Baden-Württemberg 01.10.2018, L 11 KR 3114/18 ER-B, juris Rn 20; so auch Axer in Becker/Kingreen, 7. Aufl 2020, §
31 Rn 65; Nolte in Kasseler Kommentar, Stand 09/2020, §
31 SGB V Rn 75d; Pitz in jurisPK-
SGB V, 4. Aufl 2020, §
31 Rn 125; Wagner in Krauskopf, Stand 07/2020, § 31 Rn 48; vgl. ferner LSG Baden-Württemberg, 16.10.2020, L 4 KR 813/19, juris Rn 40). Daher muss es sich um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt
der Erkrankungen abhebt (BSG 26.09.2006, B 1 KR/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 5). Der Kläger leidet unter einem chronischen Schmerzsyndrom bei Bandscheibenprotrusion multisegmental und Bandscheibenvorfall,
aktivierter Spondylarthrose und ausgeprägter Dermatitis bei Psoriasis. Dies entnimmt der Senat den Angaben von H im Arztfragebogen
zu Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V. Ob dies in der beim Kläger vorliegenden Ausprägung eine schwerwiegende Erkrankung darstellt, lässt der Senat offen. Zweifel
ergeben sich, weil der Kläger kaum fachärztliche Behandlungen in Anspruch genommen hat, was im Falle eines erheblichen Leidensdrucks
jedoch zu erwarten gewesen wäre. Der K wurde nur selten, ein Schmerztherapeut gar nicht aufgesucht. Bei K war der Kläger im
März 2016, Januar 2017 und November 2018 vorstellig. Der Arzt gab Therapieempfehlungen ab, Wiedervorstellungen erfolgten nicht.
Ob gleichwohl eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, muss jedoch nicht weiter aufgeklärt werden, denn es stehen noch allgemein
anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, um sowohl die Wirbelsäulenerkrankung als auch
das chronische Schmerzsyndrom zu behandeln. Es steht für den Kläger jedenfalls noch die Durchführung einer Schmerztherapie
zur Verfügung. Wie sich dem zuletzt vorgelegten Attest von H vom 26.02.2021 entnehmen lässt, kommt auch eine Operation des
Bandscheibenvorfalls in Betracht. Ob - wie zuletzt diskutiert - eine Operation in Frage kommt und zumutbar ist, ist unerheblich,
da jedenfalls die Durchführung einer Schmerztherapie in Betracht kommt. Der Senat stützt sich dabei auf das Gutachten des
MDK vom 07.05.2018. Dort wurde insbesondere auch aufgezeigt, dass eine schmerztherapeutische Mitbehandlung anzuraten sei.
H hat selbst angegeben, dass eine stationäre Schmerztherapie möglich sei. Die Durchführung dieser Therapie ist dem Kläger
zur Überzeugung des Senats auch zumutbar. Die von H erwähnten zeitlichen/beruflichen Gründe machen eine solche Therapie nicht
unzumutbar. Es kommt allein auf medizinische Gründe an.
Wenn jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen, kommt ein Anspruch
auf Versorgung mit Cannabispräparaten nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 Satz 1 Nr
1b SGB V vorliegen, also im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden
Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Unabhängig
von einer gewissen Einschätzungsprärogative/Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes (vgl LSG Baden-Württemberg 19.09.2017,
L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn 26, juris; LSG Hamburg 02.04.2019, L 1 KR 16/19 B ER, Rn 14, juris; LSG Berlin-Brandenburg 27.05.2019, L 9 KR 72/19 B ER, Rn 7, juris; s auch BT-Drucks 18/10902 S 20) muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden
Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Eine nachvollziehbare Begründung, warum welche alternative Therapie aus medizinischen
Gründen nicht zur Anwendung kommen kann, wurde nicht gegeben. H hat in der Beantwortung der formularmäßigen Abfrage vom 26.04.2018
lediglich festgestellt, dass mehrere Therapieoptionen ambulant und stationär versucht worden sind mit jeweils ausgeprägten
Nebenwirkungen bei mäßig ausgeprägter Wirkung. Insbesondere im Hinblick auf die stationären Maßnahmen bleibt unklar, welcher
Therapieansatz hier versucht worden sein soll. In der Beantwortung der formularmäßigen Abfrage vom 26.04.2018 geht H vorrangig
auf die medikamentöse Therapie ein. In ihrer späteren Stellungnahme vom 21.06.2018 kommt deutlich zum Ausdruck, dass eine
stationäre Schmerztherapie aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen ist. Aus diesem Grund - es seien wechselnd Tag- und
Nachtschichten nötig gewesen - sei es auch ein Problem Physiotherapie neben der Berufstätigkeit durchzuführen. Diese nicht-medizinischen
Gründe müssen im Rahmen der Abwägung jedoch außer Betracht bleiben. Es handelt sich nicht um unmittelbare Nebenwirkungen der
Therapie iSv §
31 Abs
6 SGB V. Es wurden also sachfremde Erwägungen in die Abwägung eingestellt, die unberücksichtigt bleiben müssen. Die ambulante Durchführung
einer Schmerztherapie wurde von H nicht diskutiert. Es fehlt daher eine nachvollziehbare Angabe, warum eine Schmerztherapie
nicht möglich ist, obwohl dies eine naheliegende Therapieoption im Falle eines chronischen Schmerzsyndroms ist. Die Voraussetzungen
für einen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Medizinal-Cannabis bestehen daher nicht, weil noch Behandlungsalternativen
bestehen, die zur Anwendung kommen können. Darüber hinaus wurden von H auch die möglichen Nebenwirkungen einer Cannabis-Therapie
nicht in die Abwägung eingestellt.
Da eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Erreichung der Behandlungsziele zur Verfügung
steht, sind auch die Voraussetzungen des §
2 Abs
1a SGB V nicht erfüllt.
Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für das in der Vergangenheit selbst beschaffte Medizinal-Cannabis nach §
13 Abs
3 SGB V scheitert ebenfalls daran, dass bereits kein Sachleistungsanspruch bestand.
Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach §
13 Abs
2 SGB V kommt vorliegend schon von vornherein nicht in Betracht, da der Kläger nicht das Kostenerstattungsverfahren gewählt hatte.
Auch die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Erstattung von Kosten für eine notwendige, selbstbeschaffte
Leistung, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Fall 1) oder sie eine Leistung
zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (Fall 2). Ein
Anspruch nach §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V setzt in beiden Regelungsalternativen einen entsprechenden Primärleistungsanspruch voraus, also einen Sach- oder Dienstleistungsanspruch
des Versicherten gegen seine Krankenkasse und geht in der Sache nicht weiter als ein solcher Anspruch; er setzt daher voraus,
dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder
Dienstleistung zu erbringen haben (vgl Bundessozialgericht <BSG> 24.09.1996, 1 RK 33/95, BSGE 79, 125 = SozR 3-2500 § 13 Nr 11; BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 13 Nr 12; BSG 14.12.2006, B 1 KR 8/06 R, BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12). Wie bereits dargelegt, besteht ein solcher Sachleistungsanspruch jedoch nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs
2 Nr
1,
2 SGG).