Kostenerstattung für kieferorthopädische Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung; Beginn der Behandlung; Rechtmäßigkeit
und Verbindlichkeit der Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme/Erstattung der Kosten
für eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung bei Dr. R. hat
Die am 1983 geborene Klägerin war bis 31.12.2010 bei der Beklagten krankenversichert.
Bei der Klägerin lagen im Oberkiefer ein Engstand und eine Retroklination der Schneidezähne, eine Nichtanlage des Zahnes 22,
eine Supraposition der Schneidezähne, eine Mesialwanderung der Seitenzähne sowie multiple Rotationen vor. In der regio des
Zahnes 22 besteht eine Implantatversorgung. Im Unterkiefer lagen ein Engstand und eine Retroklination der Schneidezähne, eine
Supraposition der Schneidezähne sowie multiple Rotationen vor. Außerdem bestand eine ausgeprägte Distalbisslage.
Mit Schreiben vom 14.09.2009, bei der Beklagten am 15.09.2009 eingegangen, beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten
für eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung. Wegen der Schmerzen und Funktionseinschränkungen im
Kiefergelenk habe sie einen Kieferorthopäden aufgesucht, der einen ausgeprägten Unterbiss, multiple Rotationen der Zähne sowie
stark nach innen steilgestellte Frontzähne festgestellt habe. Dies solle mit Hilfe der kieferorthopädisch-kieferchirurgischen
Behandlung korrigiert werden. Durch das kombinierte Krankheitsbild werde die kieferorthopädische Indikationsgruppe (KIG) 3
nicht erreicht, da der Mindestabstand von sechs Millimeter zwar durch den reinen Unterbiss erreicht würde, aber der gemessene
Abstand durch die zurückliegenden Frontzähne deutlich verringert sei. Der Umstand der ungünstigen doppelten Fehlstellung sei
zu berücksichtigen.
Dem Antrag legte die Klägerin einen privaten kieferorthopädischen Behandlungsplan des Kieferorthopäden Dr. R. vom 23.06.2009
bei. Als Therapie sieht der Behandlungsplan im Oberkiefer vor: Intrusion und Torquen der Schneidezähne, Distalisation der
Seitenzähne, Derotation der gedrehten Zähne. Lückenöffnung in regio der Nichtanlage des Zahnes 22 für die spätere prothetische
Neuversorgung des Implantats in regio 22. Im Unterkiefer: Intrusion und Torquen der Schneidezähne, Derotation der gedrehten
Zähne, Nivellieren der ausgeprägten Spee-Kurve. Durch Umstellungsosteotomie der Kiefer sei die Neutralbisslage einzustellen.
Anschließend erfolge die kieferorthopädische Einstellung des Unterkiefers in zentrische Kondylenpostion. Dr. R. führte aus,
es handele sich um eine schwere Kieferfehlbildung. Die Abweichungen der Zahnfehlstellungen ließen jedoch nur eine Zuordnung
des Befundes in die kieferorthopädische Indikationsgruppe (KIG) D2 zu, so dass dem kieferorthopädischen Behandlungsplan zwar
ein einheitliches kieferorthopädisch-kieferchirurgisches Therapiekonzept zugrunde liege, die Ausnahmeregelung des §
28 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) jedoch nicht gegeben sei. Daher erfolge ein privater kieferorthopädischer Behandlungsplan nach GOZ. Die Kosten bezifferte Dr. R. auf 4.493,31 EUR.
Am 15.09.2009 begann Dr. R. mit der Behandlung der Klägerin.
Mit Bescheid vom 15.09.2009, am selben Tag mit normalem Brief zur Post gegeben, lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab.
Dr. R. habe festgestellt, dass eine Zahn- bzw. Kieferfehlstellung vorliege, für welche die Krankenkasse nicht leistungspflichtig
sei. Der Behandlungsbedarfsgrad D2 falle gemäß den Kieferorthopädischen Richtlinien nicht in die Indikationsgruppe der gesetzlichen
Krankenkassen.
Mit ihrem Widerspruch vom 12.10.2009 machte die Klägerin geltend, das Nichterreichen von mindestens KIG 3 bzw. Behandlungsgrad
D4 sei darauf zurückzuführen, dass die anzuwendende Messmethode nur einen reinen Unterbiss bei ansonsten korrekt stehenden
Schneidezähnen berücksichtigen könne. Die Methode sei in ihrem Fall jedoch nicht geeignet, die zusätzlichen funktionseinschränkenden
Fehlstellungen der Zähne zu berücksichtigen und spiegele somit nicht den tatsächlich vorhandenen Unterbiss wieder, sondern
nur die Größe des Unterbisses relativ zu den weiteren Fehlstellungen der Oberkieferzähne. Eine Korrektur werde auch deswegen
als medizinisch notwendig erachtet, weil der ausgeprägte Unterbiss das weitere Wandern der Schneidezähne des Oberkiefers nach
innen begünstige, da diese aufgrund des Unterbisses keine Unterstützung durch die Unterkieferschneidezähne erführen und sich
somit die Steilstellung der Schneidezähne weiter in Richtung Tiefbiss-Deckbiss ausbilden werde.
In diesem Zusammenhang legte die Klägerin Kostenvoranschläge für funktionsanalytische Leistungen von Dr. S., Facharzt für
Plastische und Ästhetische Chirurgie, Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, vom 28.09.2009 über 682,83 EUR (Planung
operative Korrektur des Fehlbisses) sowie über 2.295,97 EUR (Korrektur Kieferumstellung) vor.
Auf Anfrage der Beklagten teilte Dr. R. mit Schreiben vom 27.10.2009 mit, die KIG-Einstufung liege bei D2.
Der von der Beklagten eingeschaltete Gutachter Dr. Sch., Fachzahnarzt für Kieferorthopädie, führte unter dem Datum des 27.10.2009
aus, die Einstufung nach der kieferorthopädischen Indikationsgruppe sei korrekt. Es handele sich nicht um eine Behandlung,
die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfolgen könne.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.03.2010 wies die Beklagte durch ihren Widerspruchsausschuss den Widerspruch der Klägerin zurück.
Nach den Richtlinien für die kieferorthopädische Behandlung habe der Zahnarzt anhand der kieferorthopädischen Indikationsgruppen
festzustellen, ob der Grad einer Fehlstellung vorliege, für deren Behandlung der Versicherte einen Leistungsanspruch gegen
die Krankenkasse habe. Nur bei den Graden 5, 4 und 3 habe der Versicherte einen Leistungsanspruch. Die Indikationsgruppen
seien nach dem Behandlungsbedarf geordnet. Vorliegend sei ein privatärztlicher Behandlungsplan mit der KIG-Einstufung D2 ausgestellt
worden. Daher lägen die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die BKK nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 01.04.2010 beim Sozialgericht Konstanz (SG) Klage erhoben und ihr Begehren weiter verfolgt. Weder das Gutachten noch der Widerspruchsbescheid setzten sich ordnungsgemäß
mit ihrem Vortrag auseinander.
Das SG hat Beweis erhoben durch Befragung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA). Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme
wird auf Blatt 15, 16 bis 19, 23, 24 der SG-Akten Bezug genommen. Mit Schreiben vom 10.08.2010 hat der Unterausschuss "Zahnärztliche Behandlung" für den GBA u.a. mitgeteilt,
die Messung der sagittalen Frontzahnstufe mit der Labialfläche eines korrekt stehenden (fiktiven) Schneidezahns als Bezugspunkt
im Oberkiefer sei nicht angezeigt. In den Kriterien zur Anwendung der kieferorthopädischen Indikationsgruppen der Anlage 2
zu Abschnitt B Nr. 2 der Kieferorthopädie-Richtlinie sei unter D "Sagittale Stufe - distal" die Messung der sagittalen Frontzahnstufe
beschrieben. Hiernach erfolge diese Messung in habitueller Okklusion in der Horizontalebene und orthoradial von der Labialfläche
der Schneidekante des am weitesten vorstehenden oberen Schneidezahnes zur Labialfläche seines(r) Antagonisten. Dabei sei die
Herstellung eines Bezugs zu einem fiktiven korrekt stehenden, mit dieser Eigenschaft tatsächlich aber nicht gegebenen Zahnes,
nicht vorgesehen.
Mit Schreiben vom 08.02.2011 hat der Unterausschuss "Zahnärztliche Behandlung" für den GBA des weiteren mitgeteilt, im SBG V würden mit dem 18. Lebensjahr und in den KFO-Richtlinien mit den kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) versicherungstechnische
- keine medizinischen - Grenzen gezogen. Die Nomenklatur der KIG dürfe nicht mit kieferorthopädischen Befunden verwechselt
werden. Die Feststellung des Behandlungsbedarfsgrades werde rein metrisch zwischen den in den KFO-Richtlinien definierten
Messpunkten ermittelt. Kieferorthopädische Befunde, wie zum Beispiel die Bisslage/Kieferrelation seien diesbezüglich irrelevant.
Hierzu hat die Klägerin ausgeführt, wenn die bei ihr bestehende Problematik in der Nomenklatur der KIG nicht vorgesehen sei,
bedeute dies nicht, dass dadurch die notwendigen Leistungen zwingend ausgeschlossen seien. Die angewandte Messmethode berücksichtige
zu Unrecht nicht die tatsächlich vorhandene und zu korrigierende distale Rücklage, da die Relativmessung von eventuell nicht
korrekt stehenden Zähnen - wie in ihrem Fall - keine Aussage über die Fehlstellung der Kiefer zueinander zulasse. Der vorliegende
Fall zeige, dass die relative Messmethode bei einer Kombination aus ausgeprägten Zahn- und Kieferfehlstellungen nicht geeignet
sei, insbesondere wenn die Oberkieferschneidezähne der Rücklage hinterher wanderten. Außerdem werde mit der Korrektur auch
einem möglichen traumatischen Tiefbiss Schweregrad T3 als Folge der weiter fortschreitenden Retroklination der oberen Schneidezähne
vorgebeugt.
Mit Urteil vom 31.05.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Kosten der nach dem Behandlungsplan von Dr. R. vorgesehen kombinierten kieferchirurgischen und
kieferorthopädischen Behandlung seien nicht von der Beklagten zu tragen. Nach §
28 Abs.
2 Satz 6
SGB V gehörten kieferorthopädische Behandlungen von Versicherten, die, wie die Klägerin, zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr
vollendet hätten, nicht zu der von den Krankenkassen zu übernehmenden zahnärztlichen Behandlung. Eine Ausnahme gelte nur für
Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß hätten, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische
Behandlungsmaßnahmen erfordere. Ein solcher Ausnahmefall sei aber nicht gegeben. Unstreitig lägen bei der Klägerin Fehlstellungen
der Zähne vor, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahme erfordere. Übereinstimmung
bestehe aber auch darin, dass die Abweichungen lediglich den Behandlungsbedarfsgrad D2 (Sagittale Stufe distal über drei bis
sechs Millimeter) gemäß dem Schema zur Einstufung des kieferorthopädischen Behandlungsbedarfs anhand kieferorthopädischer
Indikationsgruppen (KIG) in Anlage 1 zur Abschnitt B Nr. 2 der KFO-Richtlinien erreiche. Nach den "Kriterien zur Anwendung
der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG)" in Anlage 2 zu Abschnitt B Nr. 2 der KFO-Richtlinien werde immer die größte
klinische Einzelzahnabweichung gemessen; die Kieferrelation sei daher nicht systemrelevant. Soweit sich die Klägerin aufgrund
der bei ihr vorliegenden "doppelten" Fehlstellung benachteiligt sehe, weil die Messmethode bei ihr buchstabengenau angewandt
werde, könne ihr nichtgefolgt werden. Da das Ausmaß einer sagittalen Stufe entscheidend für die Beeinträchtigung beim Kauen,
Beißen, Sprechen oder Atmen sei, könne es für einen Anspruch auf kieferorthopädische Behandlung aber nur auf die tatsächlichen,
nicht auf fiktive Zahnstellungen ankommen.
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 04.08.2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am Montag, 05.09.2011 beim SG (Eingang beim Landessozialgericht Baden-Württemberg <LSG>) am 26.09.2011) Berufung eingelegt. Das SG habe sich nicht damit auseinander gesetzt, dass sich die Nomenklatur des KIG gerade nicht mit der bei ihr entstandenen Problematik
befasse. Dies bedeute gleichzeitig, dass Leistungen zwingend nicht ausgeschlossen würden. Darüber hinaus werde bei der von
ihr vorgetragenen zutreffenden Messmethode der Behandlungsbedarfsgrad D4 erreicht.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 31.05.2011 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 15.09.2009
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2010 zu verurteilen, die Kosten für eine kombinierte kieferorthopädisch/kieferchirurgische
Behandlung entsprechend des Behandlungsplans von Dr. R. vom 23.06.2009 zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie hat ausgeführt,
die Klägerin sei seit dem 01.01.2011 nicht mehr ihr Mitglied.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 20.01.2012 mitgeteilt, die Behandlung sei am 15.09.2009 begonnen worden und habe am 17.10.2011
dem Grunde nach geendet, Nach-/ Vorsorgeuntersuchungen folgten noch.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die
beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden durfte, ist gemäß §§
143,
144,
151 Abs.
2 SGG statthaft und zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 i.V.m. Abs.
4 SGG) ist der die Gewährung einer kombinierten kieferorthopädischen/kieferchirurgischen Behandlung ablehnende Bescheid der Beklagten
vom 15.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2010. Dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin
nicht in ihren Rechten.
Nachdem die Klägerin die streitige Behandlung auf eigene Kosten durchgeführt hat, richtet sich ein Kostenerstattungsanspruch
vorliegend nach §
13 Abs.
3 SGB V. Da die Klägerin während ihrer nur bis 31.12.2010 laufenden Mitgliedschaft bei der Beklagten keine Kostenerstattung gewählt
hatte (§
13 Abs.
2 SGB V), kommt vorliegend nur ein Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.
3 Satz 1 Fall 1 und 2
SGB V in Betracht. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Erstattung von Kosten für eine notwendige, selbstbeschaffte
Leistung, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Fall 1) oder sie eine Leistung
zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (Fall 2).
Ob die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruches nach §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V schon deshalb nicht vorliegen, weil die Klägerin eine Rechnung für die durchgeführte Behandlung nicht vorgelegt und damit
das Bestehen eines gegen sie gerichteten wirksamen Zahlungsanspruchs nicht dargelegt hat, kann offen bleiben. Denn schon die
im Gesetz benannten Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V liegen nicht vor.
Bei der streitigen Behandlung handelte es sich nicht um eine unaufschiebbare Leistung i.S.d. §
13 Abs.
3 Satz 1 Alt 1
SGB V. Eine Leistung ist unaufschiebbar, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich war, dass aus medizinischer
Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs mehr bestand (BSG 25.09.2000, B 1 KR 5/99 R, SozR 3-2500 § 13 Nr. 22 = [...]). Zwar hat die Klägerin in ihrem Schreiben vom 14.09.2009, bei der Beklagten am 15.09.2009 eingegangen, angegeben,
Schmerzen und Funktionseinschränkungen zu haben. Doch war dies weder Folge eines plötzlich aufgetretenen Ereignisses, sondern
hat sich dies über viele Jahre hinweg entwickelt; auch hat sie weder angegeben, dass eine unmittelbar beginnende Behandlung
erforderlich geworden war, noch, dass ihr ein Abwarten bis zu einer Entscheidung durch die Beklagte nicht zuzumuten gewesen
wäre. Auch der Senat konnte dies nicht feststellen. Er sieht sich durch den tatsächlichen Geschehensablauf bestätigt. Denn
Dr. R. hatte der Klägerin bereits am 23.06.2009 einen privaten kieferorthopädischen Behandlungsplan für die streitige Behandlung
erstellt. Hatte die Klägerin dann aber Zeit, die Beantragung der Leistungsgewährung bei der Beklagten um knapp drei Monate
bis zum Tag des tatsächlichen Behandlungsbeginns aufzuschieben, spricht nichts dafür, dass es sich um eine unaufschiebbare
Behandlung gehandelt hätte, die nicht noch einige Tage bis zum Vorliegen einer Leistungsentscheidung durch die Beklagte hätte
aufgeschoben werden können.
Aber auch die Voraussetzungen des §
13 Abs.
3 Satz 1 Fall 2
SGB V, also einer für die Leistungsinanspruchnahme kausalen rechtswidrigen Ablehnung der Leistungsgewährung, liegt nicht vor. Denn
die Klägerin hat mit der Behandlung begonnen, ohne die Entscheidung der Beklagten abzuwarten. Sie hatte nämlich mit Schreiben
vom 14.09.2009, bei der Beklagten am 15.09.2009 eingegangen, die Übernahme der streitigen Behandlung beantragt und die Maßnahme
bereits am 23.06.2009 begonnen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist im Regelfall die Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans als Beginn der Behandlung anzusehen, hier also
der 23.06.2009. Etwas anderes gilt nur, wenn der Behandlungsplan nicht in angemessenem zeitlichen Abstand nach seiner Aufstellung
umgesetzt wird (BSG 25.03.2003, B 1 KR 17/01 R, SozR 4-2500 § 28 Nr. 1; 09.12.1997, 1 RK 11/97, SozR 3-2500 § 28 Nr. 3). Im vorliegenden Fall wurde mit der Umsetzung des Behandlungsplans innerhalb von drei Monaten -
nämlich am 15.09.2009 - und damit in angemessenen zeitlichen Abstand begonnen. Ein Behandlungsbeginn vor der Entscheidung
der Krankenkasse ist aber auch dann gegeben, wenn als Behandlungsbeginn der Zeitpunkt der Umsetzung am 15.09.2009 betrachtet
wird. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 15.09.2009, die, wie aus dem handschriftlichen Vermerk auf der Bescheidkopie
in der Verwaltungsakte (dort Blatt 8) ersichtlich, am selben Tag zur Post gegeben worden war, war zu diesem Zeitpunkt noch
nicht wirksam geworden. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam,
in dem er ihm bekannt gegeben wird. Nachdem der Bescheid aber erst am 15.09.2009 zur Post gegeben worden war und der Senat
eine anderweitige Bekanntgabe nicht feststellen konnte, konnte der Bescheid der Klägerin frühestens am 16.09.2009, unter Anwendung
des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 18.09.2009, bekannt gegeben und ihr gegenüber wirksam geworden sein. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte die Klägerin bereits
mit der Behandlung begonnen. Voraussetzung des Kostenerstattungsanspruchs nach rechtswidriger Ablehnung der Leistung durch
die Krankenkasse gemäß §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Alt
SGB V ist aber gerade der notwendige Kausalzusammenhang zwischen der Entscheidung der Krankenkasse und der Selbstbeschaffung (vgl
BSG 01.04.2010, B 1 KR 114/09 B, [...]; BSG 30.06.2009, B 1 KR 5/09 R, SozR 4-2500 § 31 Nr. 15). Hieran fehlt es vorliegend. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten war nicht kausal für den Anfall der Kosten.
Die Klägerin hatte mit der Behandlung bereits begonnen, bevor die Beklagte die Leistungserbringung mit einem Bescheid abgelehnt
hat.
Auch daraus, dass die Klägerin ("bereits") am 14.09.2009 telefonisch bei der Beklagten vorgesprochen hatte, ergibt sich nichts
anderes. Bei diesem Telefonat handelte es sich nicht um eine Antragstellung sondern um ein Informationsgespräch über den Verfahrensablauf.
Aus dem Inhalt des Gesprächs (zur entsprechenden Notiz vgl. Blatt 4 der Verwaltungsakte) ergibt sich deutlich, dass noch keine
(mündliche) Ablehnung seitens der Mitarbeiter der Beklagten ausgesprochen worden war, sondern nur eine solche in Aussicht
gestellt worden war. Dies stellt aber noch keine Ablehnung i.S.d. §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Alt.
SGB V dar.
Aber auch in der Sache hätte die Klägerin keinen Leistungsanspruch gegen die Beklagte gehabt, sodass auch insoweit die ablehnende
Entscheidung der Beklagten zutreffend ist. Nach §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
2 SGB V die (ambulante) zahnärztliche Behandlung. Gemäß §
28 Abs.
2 Satz 1
SGB V umfasst die (ambulante) zahnärztliche Behandlung die Tätigkeit des Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung
von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist; sie umfasst
auch konservierend-chirurgische Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen
und Suprakonstruktionen erbracht werden. Nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehört die kieferorthopädische Behandlung von
Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben (§
28 Abs.
2 Satz 6
SGB V). Dies gilt nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische
und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert (§
28 Abs.
2 Satz 7
SGB V). Ebenso gehören funktionsanalytische und funktionstherapeutische Maßnahmen nicht zur zahnärztlichen Behandlung; sie dürfen
von den Krankenkassen auch nicht bezuschusst werden (§
28 Abs.
2 Satz 8
SGB V). Schon aus dem zuletzt genannten Grund hat die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung der mit ihrem Widerspruch vorgelegten
Rechnungen vom 28.09.2009.
Hinsichtlich der eigentlichen kombinierten kieferorthopädischen/kieferchirurgischen Behandlung hat die Klägerin aber auch
keinen Leistungsanspruch. Zwar hatte sie bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet (§
28 Abs.
2 Satz 6
SGB V), auch liegt eine schwere Kieferanomalie i.S.d. §
28 Abs.
2 Satz 7
SGB V vor (vgl dazu BT-Drs 12/3608 S 79). Doch besteht der Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung gemäß §
29 Abs.
1 SGB V nur in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen,
Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Diese Regelung führt zu einer Beschränkung
des Anspruchs auf zahnärztliche/kieferorthopädische Versorgung (Fahlbusch a.a.O. §
29 Rdnr 21). Nach §
29 Abs.
4 Satz 1
SGB V hat der GBA in den Richtlinien nach §
92 Abs.
1 SGB V befundbezogen die objektiv überprüfbaren Indikationsgruppen, bei denen die in §
29 Abs.
1 SGB V genannten Voraussetzungen vorliegen, zu bestimmen. Dabei sind auch einzuhaltende Standards zur kieferorthopädischen Befunderhebung
und Diagnostik vorzugeben (§
29 Abs.
4 Satz 2
SGB V). Diesen gesetzlichen Auftrag zum Erlass normkonkretisierender und damit anspruchsbegründender Richtlinien hat der GBA mit
den am 01.01.2004 in Kraft getretenen "Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische
Behandlung" in der Fassung vom 04.06.2003 und vom 24.09.2003 (BAnz Nr. 226, S 24966) erlassen. Diese Richtlinien verstoßen
nach Auffassung des Senats nicht gegen höherrangiges Recht; auch ist der Leistungsausschluss für volljährige Versicherte verfassungsgemäß
(BSG 09.12.1997, BSGE 81, 245 ff = [...]; Wagner in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung - Pflegeversicherung, §
29 SGB V RdNr. 13).
Nach B 2. dieser Richtlinien gehört zur vertragszahnärztlichen Versorgung gemäß §
29 Abs.
1 SGB V i.V.m. §
29 Abs.
4 SGB V die gesamte kieferorthopädische Behandlung, wenn bei ihrem Beginn ein Behandlungsbedarf anhand der befundbezogenen kieferorthopädischen
Indikationsgruppen (KIG) - Anlage 1 zu den Richtlinien - festgestellt wird. Eine Einstufung mindestens in den Behandlungsbedarfsgrad
3 der Indikationsgruppen ist dafür erforderlich. Die Kriterien zur Anwendung der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (Anlage
2 zu diesen Richtlinien) sind für die Zuordnung zur vertragszahnärztlichen Versorgung verbindlich.
Nach B 4. der Richtlinien gehören kieferorthopädische Behandlungen bei Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18.
Lebensjahr vollendet haben, nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung. Das gilt nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien,
die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Schwere Kieferanomalien
in diesem Sinne liegen nach Maßgabe der Anlage 3 zu diesen Richtlinien vor bei
-
angeborenen Missbildungen des Gesichts und der Kiefer,
-
skelettalen Dysgnathien und
-
verletzungsbedingten Kieferfehlstellungen,
sofern eine Einstufung mindestens in die Behandlungsbedarfsgrade A5, D4, M4, O5, B4 oder K4 der Indikationsgruppen festgestellt
wird.
Vorliegend kommt bei der Klägerin, worauf schon Dr. R. und auch Dr. Sch. hingewiesen haben, nur eine Einstufung in den Behandlungsbedarfsgrad/KIG
D2 in Betracht. Dieser Behandlungsbedarfsgrad zeichnet sich gemäß der verbindlichen Anlage 1 zu den Richtlinien durch eine
Durchbruchsstörung in Form einer sagittalen Stufe distal von über drei bis sechs Millimeter aus. Die Messung der sagittalen
Frontzahnstufe erfolgt verbindlich nach der Anlage 2 zu den Richtlinien, dort II. D, nur in habitueller Okklusion in der Horizontalebene
und orthoradial von der Labialfläche der Schneidekante des am weitesten vorstehenden oberen Schneidezahnes zur Labialfläche
seines(r) Antagonisten. Gemäß Anlage 2 der Richtlinien, dort I. 2., wird immer die größte klinische Einzelzahnabweichung gemessen;
d.h. die Kieferrelation ist nicht systemrelevant. Daher ist der Einstufung in die Behandlungsbedarfsgruppen/KIG zwingend der
tatsächliche Abstand zwischen den vorhandenen Zähnen im Ober- und Unterkiefer auf Grundlage der tatsächlichen Zahnstellung
zugrunde zu legen. Eine Messung des Über-/Unterbisses zu einem fiktiven Zahn ist ausgeschlossen.
Auf dieser Basis gemessen liegt bei der Klägerin lediglich eine sagittale Frontzahnstufe von sechs Millimeter vor. Damit haben
Dr. R. und Dr. Sch. zu Recht nur den Behandlungsbedarfsgrad/KIG D2 festgestellt, weshalb die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen
i.S.d. §
29 Abs.
1 i.V.m. Abs.
4 SGB V nicht erfüllt (mindestens D4).
Die Anwendung einer von den Richtlinien abweichenden Messmethode kann die Klägerin nicht verlangen. Denn zunächst ist die
dort festgelegte Messmethode verbindlich (Richtlinie B 2, vgl. auch §
29 Abs.
4 Satz 2
SGB V wonach die einzuhaltenden Standards zur kieferorthopädischen Befunderhebung und Diagnostik "vorzugeben" sind). Erst durch
die Richtlinien wird der im
SGB V als bloßes Rahmenrecht ausgestaltete Anspruch so konkretisiert, dass sich hieraus subjektive Rechte ergeben (vgl dazu Engelhard
in: Hauck/Noftz,
SGB V §
29 Rdnr 17, 21; Wagner a.a.O., §
29 SGB V Rdnr 9), sodass über den Richtlinienwortlaut hinaus kein Anspruch entstehen kann. Im Übrigen würde es sich bei der "Messung"
zu einem fiktiven Zahn um eine mehr oder weniger genaue Schätzung handeln. Die Vorgaben zur Messung sind in den Richtlinien
detailliert geregelt und daher einer Auslegung in dem von der Klägerin gewünschten Sinn nicht zugänglich.
Daher war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Dabei hat der Senat im Rahmen seines Ermessens insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin in beiden Instanzen ohne Erfolg
geblieben ist.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe für die Zulassung nicht vorliegen (§
160 Nr. 1 und 2
SGG).