Anspruch auf Arbeitslosengeld; fiktive Bemessung bei einem echten Grenzgänger in die Schweiz; Europarechts- und Verfassungsrechtskonformität
Tatbestand:
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg). Rechtlich streiten die Beteiligten darum, ob bei der Berechnung des Alg
auch die Einkünfte des Klägers aus einer vorherigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz zu berücksichtigen sind.
Der 1959 geborene Kläger ist gelernter Bankkaufmann. Er war von September 1981 bis Juli 2000 bei der Sparkasse A. und im Anschluss
von August 2000 bis zum 30.05.2002 als Sekretär bzw. Buchhalter bei einer Privatschule in der Schweiz beschäftigt. In der
Folgezeit bezog er mit Unterbrechungen Alg, wobei die Beklagte bei der Berechnung der Leistungen das in der Schweiz erzielte
Einkommen (damals CHF 1.200,00 wöchentlich) zu Grunde legte, und im Anschluss bis zum 03.12.2004 Arbeitslosenhilfe. Im Anschluss
war er arbeitslos bzw. arbeitsunfähig erkrankt.
Ab dem 10.07.2006 war der Kläger als Verkäufer in einem Möbelhaus in der Schweiz bei der schweizerischen Tochter eines internationalen
Konzerns beschäftigt. Er bezog einen Monatslohn von zuletzt CHF 4.700,00. Es war bei der schweizerischen Arbeitslosenversicherung
(Unia Arbeitslosenkasse) versichert. Während dieser Zeit behielt der Kläger seinen alleinigen Wohnsitz in Deutschland. Mit
Schreiben vom 02.06.2009 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zum 31.08.2009 und stellte den Kläger "per sofort"
von Arbeitseinsätzen frei. Der Kläger nahm daraufhin ab dem 03.08.2009 ein bis zum 02.11.2009 befristetes Arbeitsverhältnis
als Briefzusteller bei der Deutschen Post AG auf, sein Einsatzort lag in Deutschland, sein Monatsgehalt betrug € 1.864,99.
Die Post kündigte dieses Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 02.09.2009 zum 18.09.2009.
Am 15.09.2009 meldete sich der Kläger mit Wirkung zum 19.09.2009 arbeitslos und beantragte Alg. Er legte Arbeitsbescheinigungen
der Post und des schweizerischen Möbelhaus sowie die Bescheinigung E 100 der Unia Arbeitslosenkasse vom 03.11.2009 vor.
Mit Bescheid vom 11.11.2009 lehnte die Beklagte den Antrag auf Alg für die Zeit vom 19. bis 22.09.2009 ab. Der Kläger habe
für diese vier Tage noch Urlaubsabgeltung von seinem letzten Arbeitgeber zu erhalten, in dieser Zeit ruhe sein Leistungsanspruch.
Mit weiterem Bescheid vom 12.11.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg ab dem 23.09.2009 für 450 Tage (bis zum 22.12.2010)
mit einem täglichen Leistungssatz von € 29,68 (Bemessungsentgelt € 67,20 täglich, Lohnsteuerklasse I). In einem Begleitschreiben
vom 11.11.2009 teilte sie dem Kläger mit, er habe in den letzten zwei Jahren weniger als 150 Tage Anspruch auf Arbeitsentgelt
"in Deutschland" gehabt, daher werde bei der Bemessung seines Alg ein fiktives Arbeitsentgelt zu Grunde gelegt. Dieses richte
sich nach der für den Kläger in erster Linie geeigneten Beschäftigung und der dazu gehörenden Qualifikationsstufe. Der Kläger
sei für eine Tätigkeit als Verkäufer geeignet. Hierfür sei eine Ausbildung erforderlich. Der Kläger sei daher in Qualifikationsstufe
3 einzuordnen.
Am 25.11.2009 legte der Kläger Widerspruch (nur) gegen den Bescheid vom 12.11.2009 ein. Er rügte den Zahlbetrag von € 890,40
im Monat. Er meinte, er habe einen Anspruch auf eine Berechnung seines Alg nach Maßgabe des in der Schweiz erzielten Verdienstes.
Sein Arbeitsverhältnis in der Schweiz habe bis zum 31.08.2009 bestanden, bis zu diesem Tag habe er sein Gehalt von CHF 4.700,00
bezogen und seien Beiträge zur schweizerischen Arbeitslosenversicherung abgeführt worden. Dass er zusätzlich ab dem 03.08.2009
bei der Post in Deutschland gearbeitet habe, könne hieran nichts ändern. Es sei hier nach Art. 68 Abs. 1 der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 ("Wanderarbeitnehmerverordnung", im Folgenden: "VO") von einer Inlandsbeschäftigung von
weniger als vier Wochen auszugehen, weil das Arbeitsverhältnis mit der Post bereits am 18.09.2009 beendet gewesen sei. Die
Bemühungen des Klägers um einen Arbeitsplatz im Inland noch während des laufenden Arbeitsverhältnisses in der Schweiz dürften
nicht dazu führen, dass seine schweizerischen Einkünfte bei der Bemessung des Alg keine Rolle mehr spielten. Im Übrigen sei
er - der Kläger - gelernter Bankkaufmann mit erfolgreich abgeschlossener zweieinhalbjähriger Ausbildung. Ein fiktives Arbeitsentgelt
könne daher jedenfalls nicht nach Qualifikationsstufe 3 bemessen werden.
Die Beklagte erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 22.12.2009. Sie führte aus, das Alg des Klägers sei nach
§
130 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III) aus den Einkünften aus seinen versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen vom 19.09.2008 bis zum 18.09.2009
zu berechnen. Nach Art. 68 Abs. 1 VO berücksichtige der zuständige Träger des leistungsgewährenden Mitgliedsstaats ausschließlich
das Entgelt, dass der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet dieses Staates erhalten habe. Habe die letzte
Beschäftigung dort weniger als vier Wochen gedauert, so würden die Leistungen auf der Grundlage des Entgelts berechnet, das
am Wohn- oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen für die Beschäftigung üblich sei, die der Beschäftigung, die er zuletzt im Gebiet
eines anderen Mitgliedsstaats ausgeübt habe, gleichwertig oder vergleichbar sei. Nachdem der Kläger zuletzt in Deutschland
beschäftigt gewesen sei, sei das zuvor in der Schweiz erzielte Arbeitsentgelt nicht zu berücksichtigen gewesen. Da der Kläger
demnach in dem eigentlichen Bemessungsrahmen nur 47 Tage in Deutschland beschäftigt gewesen sei und sein Bemessungszeitraum
daher weniger als 150 Tage mit Anspruch auf - zu berücksichtigendes - Arbeitsentgelt umfasse, sei der Bemessungsrahmen nach
§
130 Abs.
3 Satz 1 Nr.
1 SGB III auf zwei Jahre auf die Zeit vom 19.09.2007 bis zum 18.09.2009 zu erweitern. Da auch in diesem Zeitraum nicht mindestens 150
Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthalten seien, sei gemäß §
132 SGB III das Alg nach einem fiktiven Arbeitsentgelt zu berechnen gewesen. Hierbei sei der Kläger in Qualifikationsstufe 3, die eine
abgeschlossene Berufsausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordere, einzuordnen. Dies gelte unabhängig davon, ob man auf
die Tätigkeit als Verkäufer abstelle, die der Kläger zuletzt ausgeübt habe, oder auf die frühere Ausbildung als Bankkaufmann.
Am 12.01.2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Er hat ergänzend vorgetragen, sein schweizerisches Arbeitsentgelt habe umgerechnet € 3.120,00 betragen, hinzu seien
Jahressonderzahlungen gekommen. Nach der Kündigung des Arbeitsverhältnisses in dem Möbelhaus habe er Arbeitslosigkeit vermeiden
wollen und daher als Briefzusteller eine Beschäftigung bei der Post aufgenommen, für die lediglich ein Gehalt von € 1.864,99
vereinbart worden sei. Da er den Anforderungen körperlich und gesundheitlich nicht gewachsen gewesen sei, habe die Post das
Arbeitsverhältnis in der Probezeit gekündigt. Er - der Kläger - werde unangemessen benachteiligt, wenn sein schweizerisches
Arbeitsentgelt nicht berücksichtigt würde. Bereits sein Anspruch auf Alg hätte über dem Nettoeinkommen aus der Beschäftigung
bei der Post gelegen, wenn er sich sofort arbeitslos gemeldet hätte. Es sei auch der Rechtsgedanke des §
130 Abs.
2 SGB III heranzuziehen, wonach atypische Beschäftigungsverhältnisse bei der Bemessung des Alg unberücksichtigt blieben. Auch ein Probearbeitsverhältnis
sei in diesem Sinne atypisch. Letztlich habe er auf eine Berücksichtigung seines schweizerischen Einkommens vertrauen dürfen,
weil ihn die Beklagte vor Erlass des angefochtenen Bescheids so beraten habe, dass das zuletzt in der Schweiz erzielte Einkommen
Bemessungsgrundlage für das Alg sei.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat ergänzend vorgetragen, sie habe bei oder nach der Arbeitslosmeldung des
Klägers am 15.09.2009 nicht zugesagt, dass das schweizerische Einkommen berücksichtigt werden, im Übrigen bedürfe eine Zusicherung
der Schriftform.
Mit Urteil vom 25.08.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe bei der Überprüfung der im Bemessungsrahmen liegenden Entgeltabrechnungszeiträume
zu Recht das schweizerische Einkommen des Klägers unberücksichtigt gelassen. Dies folge aus der VO, die nach dem Abkommen
zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten einer- und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits
vom 21.06.1999, das am 01.06.2001 in Kraft getreten sei, auch im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz gelte. Nach
Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO sei ausschließlich das Entgelt zu berücksichtigen, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung
im Gebiet jenes Staates erzielt habe, der für die Leistung zuständig sei. Der Kläger sei unmittelbar vor seiner Arbeitslosigkeit
in Deutschland beschäftigt gewesen. Daher könne sein schweizerisches Einkommen nicht berücksichtigt werden, obwohl er echter
Grenzgänger im Sinne von Art. 1b VO gewesen sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus Art. 71 Abs. 1b Ziff. 1 VO. Nach
dieser Vorschrift erhielten Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats,
in dem sie wohnten, als ob während ihrer letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaats für sie gegolten
hätten. Auch in diesen Fällen sei, dem aus Art. 68 Abs. 1 VO abzuleitenden Grundsatz folgend, stets das zuletzt bezogene Entgelt
maßgeblich, hier also das Einkommen aus der Tätigkeit in Deutschland, sodass ein noch früher im Ausland bezogenes Entgelt
nicht in Betracht komme (Verweis auf Europäischer Gerichtshof [EuGH], SozR 6050 Art. 68 Nr. 1). Auch aus einer etwaigen anderen
Auskunft der Beklagten ergebe sich kein Anspruch des Klägers auf höheres Alg. Der Kläger mache nicht geltend, sich vor Aufnahme
der Beschäftigung in Deutschland mit der Beklagten in Verbindung gesetzt zu haben. Daher könne die Aufnahme dieser Beschäftigung
nicht auf unterlassener oder unzutreffender Beratung durch die Beklagte beruhen, weshalb ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
ausscheide. Eine schriftliche Zusicherung habe der Kläger nicht erhalten. Letztlich, so das SG weiter, habe die Beklagte deswegen zu recht das Bemessungsentgelt fiktiv berechnet, da der Kläger auch im erweiterten Bemessungsrahmen
keine 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt vorweisen könne. Hierbei sei der Kläger in Qualifikationsgruppe 3 einzuordnen,
weil er, abgesehen von seiner kurzen Tätigkeit als Briefzusteller, über viele Jahre als Verkäufer tätig gewesen sei und auch
eine solche Beschäftigung wieder gesucht habe, und weil diese Tätigkeit - ebenso wie eine Tätigkeit als Bankkaufmann, auf
die der Kläger abstelle - eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordere.
Gegen dieses Urteil, das seinem Prozessbevollmächtigten am 29.10.2010 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 26.11.2010
Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt ergänzend vor, es dürfe ihm nicht zum Nachteil gereichen,
dass er zunächst versucht habe, wieder in Deutschland beschäftigt zu sein, anstatt sich sofort nach dem Ende seines schweizerischen
Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten arbeitslos zu melden. Zumindest nach dem Rechtsgedanken des §
130 Abs.
2 SGB III müsse sein Arbeitsverhältnis bei der Post unberücksichtigt bleiben. Sein Arbeitsverhältnis in der Schweiz habe bis zum 31.08.2009
bestanden und sein weiteres Beschäftigungsverhältnis bei der Post sei schon am 02.09.2009 gekündigt worden; hiernach sei er
im Sinne der Rechtsprechung des EuGH bis "unmittelbar" vor seiner Arbeitslosigkeit im Ausland beschäftigt gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 25. August 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom
12. November 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2009 zu verurteilen, ihm ab dem 23. September 2009
Arbeitslosengeld nach den gesetzlichen Vorschriften unter Berücksichtigung seines in der Schweiz bis zum 31. August 2009 erzielten
Einkommens als Bemessungsentgelt zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil und ihre Entscheidungen. Sie teilt mit - dieser Punkt ist unstreitig -, es sei ihre
ständige Praxis, das Alg eines Grenzgängers dann (auch) unter Berücksichtigung seines im Ausland erzielten Einkommens zu berechnen,
wenn der Grenzgänger bis "unmittelbar" vor der Arbeitslosigkeit im Ausland beschäftigt gewesen sei. Dagegen werde das ausländische
Arbeitsentgelt nicht berücksichtigt, wenn der Grenzgänger nach seiner Auslandsbeschäftigung noch in Deutschland beschäftigt
gewesen sei, hierbei sei es unerheblich, wie lange die Beschäftigung in Deutschland gedauert habe, ob sie insbesondere weniger
oder mehr als vier Wochen gedauert habe. Diese Praxis entspreche der Rechtsprechung des EuGH. Die Beklagte legt dazu ihr Merkblatt
Nr. 20 "Arbeitslosengeld und Auslandsbeschäftigung" vor, auf das verwiesen wird.
Der Berichterstatter des Senats hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert. Auf das Protokoll der nichtöffentlichen
Sitzung vom 28.06.2011 wird verwiesen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat im Einvernehmen mit den Beteiligten nach §
153 Abs.
1 i.V.m. §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1 Var. 1, Abs.
4 SGG) abgewiesen. Der angegriffene Bewilligungsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Dem Kläger steht für die Zeit ab dem 23.09.2009
kein Anspruch auf höheres Alg als bewilligt zu.
a) Insbesondere hat die Beklagte zu Recht ihrer Berechnung ein fiktives Arbeitsentgelt zu Grunde gelegt.
aa) Eine solche fiktive Berechnung ist nach §
132 Abs.
1 Satz 1
SGB III vorgeschrieben, wenn innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens ein Bemessungszeitraum von mindestens 150
Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht festgestellt werden kann.
(1) Der in diesem Sinne erweiterte Bemessungsrahmen umfasst nach §
130 Abs.
3 Nr.
1 i.V.m. Abs.
1 Satz 2 Halbsatz 2
SGB III die beiden Jahre bis zum letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des (jeweiligen) Anspruchs
(auf Alg). Der Bemessungszeitraum umfasst nach §
130 Abs.
1 Satz 1
SGB III die bei Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume
der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen.
(2) Nach diesen nationalrechtlichen deutschen Vorschriften können im (erweiterten) Bemessungsrahmen nur versicherungspflichtige
Beschäftigungen (vgl. hierzu §
24 Abs.
1 SGB III) in Deutschland berücksichtigt werden. Nur eine solche Inlandsbeschäftigung kann "versicherungspflichtig" im Sinne des Rechts
der Arbeitsförderung sein. Dies folgt aus der Grundregel in §
3 Abs.
1 Nr.
1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV), nach der - unter anderem - die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über die Versicherungspflicht, soweit sie eine Beschäftigung
voraussetzen, für alle Personen gelten, die im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs beschäftigt sind. Dies ist die Bundesrepublik.
Der Sinn hinter dieser Regelung ist, dass auch Sozialversicherungsbeiträge nur für eine Inlandsbeschäftigung abgeführt werden,
dann aber können entsprechende Leistungsansprüche - grundsätzlich - auch nur aus Inlandsbeschäftigungen erwachsen.
(3) Auch im Rahmen einer europarechtskonformen (hier einer verordnungskonformen) Auslegung des §
130 Abs.
1 Satz 1
SGB III können Auslandsbeschäftigungen, die innerhalb des (erweiterten) Bemessungsrahmens ausgeübt worden sind, für die Berechnung
der Höhe des Alg-Anspruchs nicht herangezogen werden.
Für den Alg-Anspruch des Klägers gilt insoweit die genannte VO (EWG) Nr. 1408/71 (im Folgenden weiterhin: VO). Diese ist im
Verhältnis zur Schweiz, also jenem Land, in dem der Kläger die hier streitige Auslandsbeschäftigung ausgeübt hat, seit dem
01.06.2002 anwendbar, denn sie ist in Anhang II Abschn. A des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits
und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 aufgeführt,
das seinerseits (für Deutschland und die Schweiz) am 01.06.2002 in Kraft getreten ist. Dagegen galt für den Alg-Anspruch des
Klägers im Streitzeitraum ab dem 23.09.2009 (noch) nicht die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 29.04.2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Zum einen ist diese Verordnung selbst
innerhalb der EU erst seit dem 01.05.2010 anwendbar, nachdem erst zu diesem Tag die nach Art. 89, 91 VO (EG) Nr. 883/2004
notwendige Durchführungsverordnung (Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009)
in Kraft getreten ist. Zum anderen ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 im Verhältnis zur Schweiz bis heute nicht anwendbar,
nachdem die Schweiz nach wie vor nicht Mitgliedsstaat der EU ist und ein bilaterales Abkommen zwischen der EU und der Schweiz
über die Anwendbarkeit der neuen Verordnung bislang nicht geschlossen worden ist.
Nach Art. 71 Abs. 1 lit. a Unterabs. ii Halbsatz 1 VO erhalten Grenzgänger - darunter echte Grenzgänger wie der Kläger - bei
Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates, in dessen Gebiet sie wohnen, als ob während
der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaats für sie gegolten hätten. Dieser Grundsatz, der überhaupt
erst zu einem Anspruch auf Alg in Deutschland nach einer Auslandsbeschäftigung führt, wird in Art. 67 ff. VO konkretisiert:
Hiernach werden ausländische Beschäftigungs- und Versicherungszeiten nach Art. 67 Abs. 1 und Abs. 2 VO berücksichtigt, soweit
dies "für den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs" erforderlich ist. Dies gilt an
sich nach Art. 67 Abs. 3 VO nur dann, wenn der Arbeitslose "unmittelbar zuvor" entsprechende Zeiten im (jetzigen) Wohnsitzstaat
zurückgelegt hat, aus dem hier enthaltenen Verweis auf Art. 71 Abs. 1 lit. a Unterabs. ii VO ergibt sich jedoch, dass diese
einschränkende Voraussetzung bei echten Grenzgängern nicht gefordert ist. Ferner werden ausländische Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten
nach Art. 67 Abs. 4 VO bei der Bestimmung der Dauer der Leistungsgewährung im Wohnsitzstaat berücksichtigt.
Anders sind dagegen die Regelungen über die Höhe eines Leistungsanspruchs bei Vollarbeitslosigkeit ausgestaltet. Hier bestimmt
Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO, dass der zuständige Leistungsträger - dies ist nach Art. 71 Abs. 1 lit. a Unterabs. ii Halbsatz
2 VO der Leistungsträger im Wohnsitzstaat - "ausschließlich" das Entgelt zu Grunde zu legen hat, das der Arbeitslose während
seiner letzten Beschäftigung im Gebiet "dieses Staates" erhalten hat. Damit ist die letzte Beschäftigung im Wohnsitzstaat
gemeint, also gerade nicht die Auslandsbeschäftigung. Dies wird bestätigt durch die Ausnahmeregelung in Art. 68 Abs. 1 Satz
2 VO für die Fälle, in denen die letzte Beschäftigung "dort" (also im Wohnsitzstaat) weniger als vier Wochen gedauert hat.
Auch in diesem Fall wird allerdings nicht etwa das Entgelt während der Auslandsbeschäftigung berücksichtigt, sondern (fiktiv)
das "Entgelt, das am Wohnort (...) des Arbeitslosen für eine Beschäftigung üblich ist, die der Beschäftigung, die er zuletzt
im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaats ausgeübt hat, gleichwertig oder vergleichbar ist". Für den Kläger wäre dies - genau
wie es §
132 Abs.
1 Satz 1, Abs.
2 SGB III vorsieht - ein Entgelt, das in Deutschland - genauer: im Bezirk der Agentur für Arbeit Konstanz - für eine Tätigkeit als
Verkäufer üblich ist. Diese rein fiktive Berechnung des Alg war gegenüber der Schweiz im Übrigen schon in der Zeit vor In-Kraft-Treten
des Abkommens vom 21.06.1999 maßgeblich: Nach Art. 7 Abs. 2 lit. a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Arbeitslosenversicherung vom 20.10.1982 war "bei der Bemessung von Arbeitslosengeld
nach deutschen Rechtsvorschriften" (ausschließlich) "das am Wohnsitz (...) des Arbeitslosen maßgebliche tarifliche oder (...)
ortsübliche Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung zu Grunde zu legen, für die der Arbeitslose (...) in Betracht" kam. Dagegen
hatte die Schweiz bei der Berechnung einer dort gewährten Arbeitslosenentschädigung nach Art. 7 Abs. 2 lit. b des Abkommens
auf das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt abzustellen.
Allerdings ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es für echte Grenzgänger wie den Kläger eine weitere Ausnahme von Art.
68 Abs. 1 Satz 1 VO gibt, und zwar dann, wenn sie vor ihrer Arbeitslosigkeit in ihrem Wohnsitzland überhaupt kein Arbeitsentgelt
erzielt haben, sondern direkt aus ihrer Auslandsbeschäftigung heraus arbeitslos geworden sind. Bei wörtlicher Auslegung beider
Sätze des Art. 68 Abs. 1 VO wäre dann gar kein Arbeitsentgelt zu berücksichtigen. Es wäre allerdings denkbar, hier Satz 2
anzuwenden, nämlich mit der Begründung, dass auch eine fehlende Beschäftigung eine Beschäftigung von "weniger als vier Wochen"
ist (vgl. zu allem Schlegel, in: Eicher/Schlegel,
SGB III, Stand Juni 2008, EWGVO 1408/71 Art 68 Rn 16; Fuchs, in: Gagel, SGB II/III, Band 2, Stand Juli 2010, VO (EG) Nr. 987/2009 Rn. 68 [noch zur VO]). Der EuGH hat in
seiner Rechtsprechung jedoch eine andere Lösung für dieses Problem gewählt. In dem Urteil vom 28.02.1980 in der Rechtssache
(Rs.) Fellinger (Az. 67/79, SozR 6050, Art. 68 Nr. 1) hat er entschieden, dass Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO im Lichte von Art.
51 des (damaligen) Vertrags über die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsunion (EWGV) dahin auszulegen ist, dass im Falle eines vollarbeitslosen Grenzgängers der zuständige Leistungsträger des Wohnsitzmitgliedsstaats
die von ihm zu gewährenden Leistungen unter Berücksichtigung des Entgelts zu berechnen hat, dass der Arbeitnehmer während
der letzten Beschäftigung in dem (ggfs. anderen) Mitgliedsstaat erhalten hat, in dem er "unmittelbar" vor Eintritt der Arbeitslosigkeit
beschäftigt war. Entsprechend diesem Urteil des EuGH hat das Bundessozialgericht (BSG), auf dessen Vorlagebeschluss vom 15.02.1979
hin das Urteil Fellinger ergangen ist, in seinem Urteil vom 13.05.1981 (7 RAr 68/77, Juris Rn. 21) ausgeführt, das im Ausland erzielte Entgelt sei zu berücksichtigen, wenn die letzte Beschäftigung "unmittelbar"
vor der Arbeitslosigkeit im Ausland ausgeübt worden ist. Jenem Verfahren zu Grunde lag der Alg-Antrag eines echten Grenzgängers,
der nach seiner Auslandsbeschäftigung überhaupt nicht mehr in Deutschland gearbeitet, sondern sich direkt arbeitslos gemeldet
hatte. Diese Rechtsprechung hat dann zu der Praxis der Beklagten geführt, das ausländische Entgelt nur dann zu berücksichtigen,
wenn überhaupt keine Inlandsbeschäftigung mehr ausgeübt worden ist (vgl. BA-Rundbrief 2003 Nr. 5, S. 1-2 vom 14.01.2003, zit.
nach Juris).
Diese bislang nur richterrechtlich gebildete Ausnahme zu Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO hat der europäische Verordnungsgeber (hier:
Parlament und Rat) nunmehr in Art. 62 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 vom 29.04.2004 übernommen. Nach dieser Regelung - die aber
wie ausgeführt hier noch nicht anwendbar ist - berücksichtigt der Träger des Wohnmitgliedsstaats bei der Berechnung der Leistungen
bei Vollarbeitslosigkeit das Entgelt, das der Grenzgänger in dem Mitgliedsstaat erhalten hat, dessen Rechtsvorschriften für
ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten haben. Die Formulierung, es sei die "letzte" Beschäftigung maßgeblich, wird
auch in der entsprechenden Durchführungsregelung in Art. 54 Abs. 2 VO (EG) Nr. 987/2009 verwendet.
Gerade aus der Formulierung der "letzten Beschäftigung", die nunmehr der europäische Verordnungsgeber gewählt hat, um die
bisherige Rechtsprechung des EuGH zu kodifizieren, ergibt sich, dass auf eine Auslandsbeschäftigung nur dann abgestellt werden
kann, wenn nach ihrem Ende im Inland überhaupt keine Beschäftigung mehr ausgeübt worden ist, sondern sich der (ehemalige)
Grenzgänger direkt arbeitslos gemeldet hat. Wie ausgeführt, war die Formulierung "unmittelbar" aus dem Urteil des EuGH in
der Rs. Fellinger schon bislang so verstanden worden.
Auch inhaltlich lässt sich diese Auslegung rechtfertigen. Wenn sich ein Grenzgänger nach dem Ende seiner Auslandsbeschäftigung
im Wohnsitzstaat nicht direkt arbeitslos meldet, sondern zunächst noch eine Inlandsbeschäftigung aufnimmt, verliert er seinen
Status als Grenzgänger und wird - zunächst - im ganz üblichen Sinn Inlandsarbeitnehmer. Er gliedert sich (wieder) in den Arbeitsmarkt
seines Wohnsitzstaates ein. Auf ihn können daher uneingeschränkt allein die innerstaatlichen Regelungen angewandt werden.
Es bleibt dann dem für die Leistungsgewährung zuständigen Wohnsitzstaat überlassen, ob er gleichwohl (auch) die Auslandsbeschäftigungen
berücksichtigt oder nicht. Das Europarecht kann ihm für einen derartigen Inlandssachverhalt keine Vorgaben machen. Sie wären
auch kaum einheitlich möglich, weil es dem Mitgliedsstaat selbst überlassen ist, wie er seine etwaigen Sozialleistungen bei
Arbeitslosigkeit berechnet. In einem Mitgliedsstaat etwa, der allein auf den letzten Beschäftigungsmonat abstellt und nicht
auf längere Zeiträume wie Deutschland mit den Regeln über den Bemessungsrahmen (ähnlich wie z. B. die deutschen Regeln über
die Berechnung von Krankengeld), käme die Frage gar nicht auf, ob länger zurückliegende Auslandsbeschäftigungen zu berücksichtigen
seien.
Da es sich bei der genannten Rechtsprechung um eine Ausnahme zu der Grundregel in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO handelt, kann diese
auch nicht erweiternd angewandt werden. Die Anwendung dieser Ausnahme ist nur gerechtfertigt in den Fällen, in denen nach
wortgetreuer Auslegung des § 68 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VO - jedenfalls nach Lesart des EuGH - überhaupt kein Entgelt zu berücksichtigen
wäre, auch kein fiktives, und der Arbeitslose daher womöglich ganz ohne Leistungsanspruch bliebe. Greift diese Erwägung nicht
ein, weil auch bei Abstellen auf eine Inlandsbeschäftigung ein Leistungsanspruch besteht, der - wie Art. 68 Abs. 1 Satz 2
VO zeigt - auch nach einem fiktiven Einkommen berechnet werden kann, gelten wieder die grundsätzlichen Erwägung, die hinter
Art. 68 Abs. 1 VO stehen: Zum einen werden die Leistungen bei Arbeitslosigkeit am Wohnort vom Wohnsitzstaat gewährt und sollen
auch - nur - den Lebensunterhalt des Arbeitslosen an diesem Ort sichern. Es ist daher gerechtfertigt, die Höhe der Leistungen
nach den Regeln dieses Wohnsitzstaats zu ermitteln, weil davon auszugehen ist, dass diese Regelungen die Lebensumstände am
Wohnort sachgerecht widerspiegeln. Hatte der Arbeitslose länger zuvor im Ausland (umgerechnet) höhere Entgelte erzielt, kann
davon ausgegangen werden, dass dies auch auf höheren Lebenshaltungskosten in jenem Staat beruhte. Nach dem Wegfall der Auslandsbeschäftigung,
allein auf den Wohnort abstellend, können daher aus dem früheren, ggfs. höheren Einkommen keine Rechte hergeleitet werden.
Und zum anderen muss der Träger des Wohnsitzstaates nach Art. 71 Abs. 1 lit. a Unterabs. ii, Art. 67 Abs. 1, 2 VO Leistungen
gewähren, auch wenn an ihn selbst keine Beiträge für die vorherige Beschäftigung abgeführt wurden. Er hat auch keinen Anspruch
gegen den früheren Beschäftigungsstaat auf Erstattung von Beiträgen, die möglicherweise dort gezahlt worden sind (Art. 70
VO). Es ist daher gerechtfertigt, zumindest bei der Höhe der Leistungen, denen keine Beitragszahlung gegenüber steht, auf
die innerstaatlichen Rechtsvorschriften abzustellen.
Der Kläger nun hat - unstreitig - nach dem Ende seines Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnisses in der Schweiz zunächst ein
inländisches Beschäftigungsverhältnis bei der Deutschen Post aufgenommen, das versicherungspflichtig zur Arbeitslosenversicherung
war. Auf die Länge dieses Beschäftigungsverhältnisses kommt es nach der genannten Rechtsprechung von EuGH und BSG nicht an.
Der Kläger hat daher nicht "unmittelbar" vor seiner Arbeitslosigkeit (oder der nach deutschem Recht insoweit relevanten Arbeitslosmeldung)
als Grenzgänger im Ausland gearbeitet.
Auch aus anderen Erwägungen heraus lässt sich eine solche "Unmittelbarkeit" trotz des inländischen Beschäftigungsverhältnisses
nicht annehmen. Der Kläger hat hierzu darauf verwiesen, sein Arbeitsverhältnis in der Schweiz habe bis zum 31.08.2009 bestanden
und die Post habe das inländische Arbeitsverhältnis bereits am 02.09.2009 zum 18.09.2009 gekündigt. Es kommt jedoch nicht
auf das (zivilrechtliche) Arbeits-, sondern auf das (sozialrechtliche) Beschäftigungsverhältnis an, also die faktische weisungsgebundene
Tätigkeit (§
7 Abs.
1 SGB IV). Dies gilt nicht nur nach deutschem Recht, sondern auch Art. 68 Abs. 1 VO spricht allein von einer "Beschäftigung", während z. B. Art. 67 Abs. 1 und 2 VO durchaus zwischen Beschäftigungszeiten
und "Versicherungszeiten", zu denen im Prinzip auch Zeiten ohne faktische Tätigkeit gehören können, unterscheidet. Im Übrigen
lägen selbst dann, wenn man vom Ende des schweizerischen Arbeitsverhältnisses ausginge, bis zur Arbeitslosigkeit des Klägers
noch immer 18 Tage mit einer Inlandsbeschäftigung, sodass es auch dann an der Unmittelbarkeit fehlte.
(4) Ebenso kann der Kläger auf der Ebene des einfachen deutschen Rechts keine günstigere Rechtsposition herleiten.
Hier hat er vor allem darauf verwiesen, es sei unbillig, dass sein Anspruch auf Alg wegen der kurzzeitigen Inlandsbeschäftigung
niedriger sei als er wäre, wenn er sich unmittelbar nach dem Ende seines schweizerischen Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnisses
arbeitslos gemeldet hat. Er hat hierzu unter anderem vorgetragen, auf ihn seien die Ausnahmeregelungen über atypische Beschäftigungsverhältnisse
aus §
130 Abs.
2 SGB III zumindest dem Rechtsgedanken nach anzuwenden. Dem folgt der Senat jedoch nicht.
Nach §
130 Abs.
2 SGB III bleiben bestimmte Beschäftigungszeiten oder ähnliche Zeiten bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums unberücksichtigt.
Sie führen nicht zu einer Verlängerung des Bemessungsrahmens. Die Norm soll verhindern, dass kurzzeitige Beschäftigungen mit
niedrigerem Gehalt solche Anwartschaften wertmäßig vermindern, die der Arbeitslose auf Grund einer vorher ausgeübten Beschäftigung
mit höherem Gehalt bereits erworben hatte. Dies setzt aber voraus, dass diese vorherige Beschäftigung ihrerseits versicherungspflichtig
war und durch eine Beitragszahlung zur (deutschen) Arbeitslosenversicherung zu entsprechenden Anwartschaften geführt hat.
Dies war bei dem Kläger nicht der Fall.
Eine weitergehende Billigkeitsklausel enthalten die §§
130 ff.
SGB III nicht. Bereits die Erweiterung des Bemessungsrahmens auf zwei Jahre nach §
130 Abs.
3 Satz 1
SGB III beruht auf Billigkeitserwägungen, worauf gerade dieser Begriff in Nr. 2 der Norm hindeutet. Diese Verlängerung ermöglicht
einem Arbeitslosen, ggfs. auf länger zurückliegende, versicherungspflichtige Inlandsbeschäftigungen zurückzugreifen. Dies
nützt dem Kläger nichts, da er wesentlich länger als zwei Jahre in der Schweiz gearbeitet hatte. Und selbst wenn eine noch
weitergehende Erweiterung des Bemessungsrahmens möglich wäre, würde dies immer nur dazu führen, dass sehr lange zurückliegende
Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland maßgeblich würden. Das schweizerische Beschäftigungsverhältnis bliebe dagegen immer
unberücksichtigt.
(5) Letztlich sieht der Senat in dieser Auslegung der innerstaatlichen Vorschriften, aber auch der VO, keinen Verstoß gegen
Grundrechte des Klägers, sodass offen bleiben kann, ob Normen des europäischen Sekundärrechts überhaupt am
Grundgesetz (
GG) gemessen werden können.
(aa) Die Eigentumsgarantie des Klägers ist bereits nicht beeinträchtigt. Für seine Auslandsbeschäftigung in der Schweiz hat
er zumindest keine Beiträge zur deutschen Arbeitslosenversicherung geleistet. Daher sind ihm auch keine Anwartschaften (im
verfassungsrechtlichen) Sinne erwachsen, die möglicherweise nach Art.
14 Abs.
1 Satz 1 Var. 1
GG geschützt wären.
(bb) Der Anspruch des Klägers auf Gewährung staatlicher Leistungen zur Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz aus
Art.
1 Abs.
1 Satz 1
GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nach Art.
20 Abs.
3, Art.
28 Abs.
1 Satz 1
GG ist durch die gewährten Leistungen erfüllt worden, im Übrigen bestanden ggfs. Ansprüche auf aufstockende existenzsichernde
Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
(cc) Auch Art.
3 Abs.
1 GG ist nicht verletzt. Der Kläger wird im Vergleich zu keiner anderen Gruppe in ungerechtfertigter Weise benachteiligt.
Als Vergleichsgruppe heranzuziehen sind hier jene Grenzgänger, die sich unmittelbar nach dem Ende ihrer Auslandsbeschäftigung
arbeitslos melden und bei denen dann die ausländischen Arbeitsentgelte berücksichtigt werden. Diese Gruppe ähnelt der Gruppe
des Klägers, bei der noch eine Inlandsbeschäftigung dazwischen liegt, in den meisten relevanten Punkten.
Gegenüber dieser Gruppe wird der Kläger benachteiligt. Diese Benachteiligung ist jedoch gerechtfertigt.
Als Rechtfertigungsmaßstab ist hier - nur - das Willkürverbot anzulegen. Dies genügt immer dann, wenn das Gesetz eine Differenzierung
an sachbezogene Merkmale knüpft. Eine strengere Prüfung, etwa nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ist nur dann zu
fordern, wenn an personenbezogene Merkmale angeknüpft wird, insbesondere, wenn die Betroffenen diese Merkmale in ihrer Person
nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand erreichen können (unveränderliche personenbezogene Merkmale), ebenso ist eine strengere
Prüfung durchzuführen, wenn die Differenzierung auch die Schutzbereiche anderer Grundrechte berührt. Die Benachteiligung des
Klägers nun beruht darauf, dass er nach dem Ende seiner Auslandsbeschäftigung noch in Deutschland beschäftigt war, bevor er
sich arbeitslos meldete. Dies ist ein rein sachbezogenes Merkmal, das der Kläger beeinflussen konnte. Andere Grundrechte berührt
die Differenzierung, wie ausgeführt, ebenfalls nicht.
Das Willkürverbot ist nur dann verletzt, wenn sich kein vernünftiger, einleuchtender Grund für die Ungleichbehandlung finden
lässt. Möglicherweise reicht hierzu schon aus, dass Deutschland europarechtlich, nämlich nach der Rechtsprechung des EuGH,
gezwungen ist, bei einer Arbeitslosigkeit unmittelbar nach einer Auslandsbeschäftigung das dort erzielte Entgelt zu berücksichtigen.
Aber auch inhaltlich gibt es vertretbare Gründe für die Unterscheidung, vor allem die bereits erwähnte Eingliederung des ehemaligen
Grenzgängers in den deutschen Arbeitsmarkt durch die Inlandsbeschäftigung.
bb) Bei dem Kläger lagen auch in dem erweiterten Bemessungsrahmen keine 150, sondern nur 47 Kalendertage mit (berücksichtigungsfähigem)
Arbeitsentgelt vor, nämlich nur die Tage vom 03.08. bis 18.09.2009.
b) Die Beklagte hat auch bei der Errechnung des fiktiven Arbeitsentgelts §
132 Abs.
2 SGB III richtig angewandt. Sie hat den Kläger in die Qualifikationsgruppe 3 eingeordnet und entsprechend ein Arbeitsentgelt von einem
Vierhundertfünfzigstel der Bezugsgröße (§
18 Abs.
1 SGB IV) zu Grunde gelegt. Die Beklagte ist hierbei davon ausgegangen, dass jene Beschäftigung, für die sich der Kläger den Vermittlungsbemühungen
der Beklagten zur Verfügung gestellt hat, nämlich die Tätigkeit als Verkäufer, eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf
erfordere. Ob dies so ist, kann hier offen bleiben, denn der Kläger ist durch diese Annahme nicht beschwert. Eine Einordnung
in Qualifikationsgruppe 2 kam nicht in Betracht, weil die Tätigkeit als Verkäufer jedenfalls keine Ausbildung an einer Fachschule
und keine Qualifikation als Meister erfordert. Dies gölte auch dann, wenn man mit dem Kläger auf seine frühere Tätigkeit als
Bankkaufmann abstellte.
c) Andere Fehler der Beklagten bei der Errechnung des Anspruchs des Klägers auf Alg ab dem 23.09.2009 sind nicht vorgetragen
oder ersichtlich.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf §
193 SGG.
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.