Tatbestand
Die Klägerin begehrt die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) ab ihrer Geburt, teilweise in einem
Erstfeststellungs-, teilweise in einem Überprüfungsverfahren.
Sie ist 1971 geboren, deutsche Staatsangehörige und wohnt seit ihrer Geburt im Inland. Im Alter weniger Monate wurde sie adoptiert.
Nach ihren späteren Angaben erlernte sie mehrere Sprachen, darunter neben Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch später
auch Türkisch, sowie fünf Musikinstrumente. Nach Abschluss der Regelschule absolvierte sie eine Lehre in einer Bank, die sie
nach ihren Angaben als Jahrgangsbeste abschloss. Aus einer ersten Ehe sind zwei 1996 und 1998 geborene Kinder hervorgegangen.
In einer zweiten Ehe ist die Klägerin Mutter eines Sohnes geworden, der nach ihren Angaben an frühkindlichem Autismus leidet.
Sie war ferner mehrere Jahre lang als Vorstandsmitglied eines eingetragenen Vereins im Bereich sozialer Dienste tätig.
Sie beantragte erstmals am 11. Februar 2004 bei dem früheren Versorgungsamt K. die Feststellung eines GdB. Bei der - vorgedruckten
- Frage, ob ihr Antrag alle bestehenden Gesundheitsstörungen umfassen solle, kreuzte sie das Feld "nein" an. Der Vordruck
wies an dieser Stelle auf die Rechtsfolgen einer solchen Beschränkung hin. Als alleinige Gesundheitsstörung gab die Klägerin
einen Morbus (M.) Crohn an. Sie habe seit Jahren von einer Antragstellung Abstand genommen, aber nun sei sie wegen hoher Fehlzeiten
im Beruf unumgänglich. Bei der Frage, ab wann der GdB festgestellt werden solle, kreuzte sie "ab Antragstellung" an. Der Beklagte
holte Befundberichte des behandelnden Internisten Dr. Dr. ein, der als Diagnosen einen M. Crohn, eine Gallenblasenerkrankung
und eine Adipositas angab. Mit Bescheid vom 28. April 2004 stellte der Beklagte einen GdB von 30 seit dem 11. Februar 2004
fest. Er berücksichtigte hierbei - nur - "M. Crohn, Teilverlust des Dünndarms, Teilverlust des Dickdarms". Die Klägerin erhob
Widerspruch, wobei sie ausschließlich eine höhere Bewertung der festgestellten Behinderungen begehrte. Der Beklagte wies diesen
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 2004 bestandskräftig zurück.
Am 27. Oktober 2009 beantragte die Klägerin bei dem nunmehr zuständigen Landratsamt C. (LRA) die "Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung
der bisher berücksichtigten Gesundheitsstörungen bzw. neu aufgetretener Gesundheitsstörungen" und die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche
(Merkzeichen) "G", "H", "B" und "RF". Sie führte aus, sie leide an einer mittelgradigen depressiven Episode sowie "seit Geburt"
an einem Asperger-Syndrom. Diese Erkrankung sei "nun" diagnostiziert worden. Der Weg zu dieser Diagnose sei lang und die lange
Zeit ohne Diagnose schwierig gewesen. Es handele sich um eine tiefgreifende und angeborene Entwicklungsstörung, weswegen sie
die Zuerkennung eines GdB ab ihrer Geburt begehre. Es seien schon früh behinderungsbedingte Nachteile entstanden. Auf Anforderung
des LRA teilte Dr. Dr. Ri., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in einer Befundbeschreibung mit, dass bei der Klägerin
das Vollbild eines Asperger-Syndroms u.a. mit Defiziten in der sozialen Wahrnehmung und der Interaktion vorliege. Die Erkrankung
sei angeboren und manifestiere sich meist im dritten Lebensjahr. Die Klägerin habe früher unter Einfluss von Ecstasy gerne
die Disco besucht und den Techno-Rhythmus wie die Lichteffekte als extrem lustvoll empfunden. Halluzinationen seien lediglich
unter Drogen aufgetreten, die sie vom 19. bis 30. Lebensjahr konsumiert habe. Beigefügt war der Untersuchungsbericht der Abteilung
für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums F. vom 22. Oktober 2009, in dem die Diagnose gestellt wurde.
Ausgeführt war ferner, wie die Klägerin ihre Defizite durch antrainiertes Verhalten überspielt. Nach einer versorgungsärztlichen
Überprüfung vom 17. Dezember 2009, die für eine "Verhaltensstörung, Depression" einen weiteren Teil-GdB von 50 und insgesamt
einen GdB von 60 ohne die Feststellung von Nachteilsausgleichen vorschlug, stellte das LRA mit Bescheid vom 15. Januar 2010
den GdB der Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 28. April 2004 ab dem 27. Oktober 2009 mit 60 fest und lehnte - nur
- die Zuerkennung der begehrten Nachteilsausgleiche ab.
Mit ihrem Widerspruch hiergegen wandte sich die Klägerin gegen die Höhe des GdB und brachte vor, das Asperger-Syndrom begründe
einen GdB von 80, der seit ihrer Geburt festzustellen sei. Sie verwies auf die Zeugnisse ihrer Schulzeit, in denen ihre eingeschränkte
Aufmerksamkeit, ihre leichte Ablenkbarkeit, gelegentliche Störungen durch ihr Verhalten und Beiträge neben der Sache beschrieben
worden seien. Ferner hielt sie an dem Merkzeichen "B" fest. Nach einer erneuten versorgungsärztlichen Überprüfung erging der
zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 16. April 2010. In den Gründen führte der Beklagte aus, eine Behinderung bzw. ein
GdB könnten erst ab Krankheitsnachweis festgestellt werden, weswegen eine Anerkennung für die Zeit vor dem 27. Oktober 2009
nicht in Betracht komme.
Die Klägerin erhob - erstmals - Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Sie vertiefte ihre Ausführungen zu den Einschränkungen des Asperger-Autismus ab Geburt und teilte ergänzend mit, sie leide
auch an einem Diabetes mellitus (S 6 SB 1787/10).
Das SG vernahm die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. Fr., Facharzt für Allgemeinmedizin,
teilte mit, sie habe erstmals am 12. Oktober 2009 davon berichtet, vermutlich autistisch zu sein. Dr. Dr. Ri. führte in seiner
Stellungnahme vom 10. August 2010 aus, die Klägerin habe sich erstmals am 13. Oktober 2009 in der "Asperger-Sprechstunde"
vorgestellt. Die dort geschilderten Beschwerden entsprächen dem Vollbild eines Asperger-Syndroms. Der Diabetologe Dr. Vo.
teilte mit, ihre diabetische Stoffwechsellage werde mit Metformintabletten und ergänzenden Insulininjektionen behandelt. Das
SG zog ferner den Entlassungsbericht der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Zentrum für Psychiatrie E.
vom 25. Februar 2011 über eine stationäre Behandlung Anfang 2011 ein. Dort war ein Diabetes mellitus Typ II diagnostiziert
worden. Ausgeführt war, die Klägerin pflege ihren behinderten Sohn. Ferner sei sie ehrenamtlich in einem Frauenhaus und im
Vorstand des sozialen Vereins tätig. Das SG erhob sodann das Gutachten des Internisten, Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. Sn. vom 14. September 2012.
Der Sachverständige führte aus, es handele sich um ein Asperger-Syndrom, einen seit Mai 2011 insulinpflichtigen Diabetes mellitus
(optimal eingestellt ohne Diabetesfolgeerkrankungen) und einen M. Crohn (zweiter Schub in weitestgehender Remission). Die
Klägerin führe im Wesentlichen den Haushalt und kümmere sich um die drei Kinder, ansonsten werkle sie im Garten, lese und
male sowie besuche mit ihrem Ehemann Fußballspiele des VfB Stuttgart. Den letzten Urlaub habe sie anlässlich einer Delfintherapie
mit dem jüngsten Sohn verbracht. Das Asperger-Syndrom sei mittelschwer bis schwer ausgeprägt und führe zu mittelgradigen sozialen
Anpassungsschwierigkeiten. Die sozialen Kontakte der Klägerin beschränkten sich auf die Familie, einer Erwerbstätigkeit könne
sie nicht mehr nachgehen. Hierfür sei ein Einzel-GdB von 50 anzusetzen. Der M. Crohn bedinge einen Einzel-GdB von 30, die
Diabetes-Erkrankung einen solchen von 20. Insgesamt sei ein GdB von 60 angemessen.
Mit Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2013 wies das SG die Klage ab. Die Einzel-GdB-Werte von 50, 30 und 20 habe Dr. Sn. zutreffend dargestellt. Aus ihnen ergebe sich ein Gesamt-GdB
von 60. Der GdB sei auch nicht rückwirkend, ab dem Zeitpunkt der Geburt, festzustellen, da, ungeachtet davon, ob die Klägerin
ein berechtigtes Interesse an einer rückwirkenden Feststellung glaubhaft gemacht habe, der Bescheid vom 28. April 2004 zum
Zeitpunkt seines Erlasses nicht rechtswidrig gewesen sei und daher die Voraussetzungen einer Überprüfung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht vorlägen.
Die Klägerin erhob Berufung beim Landessozialgericht (L 3 SB 1238/13). Sie trug ergänzend vor, sie begehre die rückwirkende Anerkennung des Asperger-Syndroms, weil sie steuerliche Vorteile nicht
habe in Anspruch nehmen können. Überdies erstrebe sie eine "Wiedergutmachung" dafür, dass ihr und ihren Eltern vorgehalten
worden sei, sie sei nicht richtig erzogen worden.
In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 13. Mai 2015 schlossen die Klägerin und der Beklagte, dieser vertreten durch das
Regierungspräsidium Stuttgart (RP) als Landesversorgungsamt, einen Vergleich. Darin verpflichtete sich der Beklagte, zum einen
"auf der Basis der Antragstellung der Klägerin von 27. Oktober 2009 nach § 44 Abs. 2 SGB X über eine Rücknahme des Bescheids vom 28. April 2004 und die Zuerkennung eines GdB ab Geburt rechtsbehelfsfähig zu entscheiden"
und - zum anderen - "auf der Basis eines heute, am 13. Mai 2015, gestellten Neufeststellungsantrags rechtsbehelfsfähig über
eine Höherbewertung des GdB und ( Merkzeichen) zu erkennen ( )". Den damaligen Rechtsstreit erklärten beide Beteiligte für
erledigt.
Das RP gab die Akten dem LRA zurück. Es sei "durch Zugunstenantrag ( ), ggfs. ergänzenden Erstfeststellungsbescheid" über
die Feststellung eines GdB von 50 ab Geburt - und daneben über den Neufeststellungsantrag - zu entscheiden (Vermerk vom 28.
Mai 2015).
Zur Frage der rückwirkenden Feststellung eines GdB wertete Dr. Di. die vorhandenen Unterlagen versorgungsärztlich aus. Er
führte aus, es sei eine rückwirkende Anerkennung und Tenorierung des Asperger-Syndroms ab Geburt "der Form nach" zu empfehlen,
allerdings sei dieses nur mit einem Teil-GdB von 10 zu bewerten, da aus den erhobenen biografischen Daten keine wesentlichen
Teilhabebeeinträchtigungen in der Zeit von Geburt bis zur Erstdiagnose im Oktober 2009 hervorgingen. Nach dem "Arbeitskompendium"
der Versorgungsärzte der Länder und der Bundeswehr liege eine Behinderung auf Grund einer Verhaltens- und Emotionsstörung
mit Beginn in der Kindheit und Jugend erst ab Eintreten einer Teilhabebeeinträchtigung vor. Eine pauschale Feststellung eines
GdB sei nicht möglich, auch nicht ab einem bestimmten Lebensalter.
Mit Bescheid vom 8. Juli 2015 (der als weiteres Datum den 22. Juli 2015 nennt) lehnte der Beklagte den "am 27. Oktober 2009
eingegangenen Antrag auf Erteilung eines Rücknahmebescheids nach § 44 SGB X" ab. Nach der Zwischenüberschrift "Gründe" führte er unter anderem aus, die Klägerin habe in ihrem Erstantrag vom 11. Februar
2004 die Frage, ob alle Gesundheitsstörungen berücksichtigt werden sollten, ausdrücklich mit "nein" beantwortet. Sie habe
damit eine wirksame Antragsbeschränkung vorgenommen. Der Bescheid vom 28. April 2004 habe somit im Zeitpunkt seines Erlasses
der Sach- und Rechtslage entsprochen, sodass § 44 SGB X nicht anwendbar sei, was zur Folge habe, dass eine Zuerkennung eines GdB ab Geburt abzulehnen sei. Für eine Aufhebung jenes
Bescheids nach § 48 SGB X, so das LRA weiter, fehle die Rechtsgrundlage, da sich die Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Neufeststellung beschränke.
Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, sie habe damals die Frage, ob alle Gesundheitsstörungen berücksichtigt werden
sollten, nur deshalb mit "nein" beantwortet, weil das Versorgungsamt Karlsruhe seiner Beratungs- und Aufklärungspflicht nicht
nachgekommen sei. Es habe sie in keinster Weise unterstützt. Sie sei mit den Formularen überfordert gewesen, was ihr nicht
zur Last gelegt werden könne. Sie sei schon als kleines Baby auffällig gewesen und habe früh Unterschiede zu einem neurotypischen
gezeigt. Es könne weder ihren Eltern noch ihr zum Nachteil gereichen, dass es für ihre Andersartigkeit damals keinen Namen
gegeben habe. Das
Grundgesetz sehe Nachteilsausgleiche für Behinderungen vor. Hierzu gehöre ein Steuerausgleich für Mehrkosten.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2016 zurück. Er vertiefte die Begründung des Ausgangsbescheids
und führte ergänzend aus, eine Rücknahme nach § 44 SGB X scheide auch dann aus, wenn - zwar - eine "geltend gemachte" Gesundheitsstörung unberücksichtigt geblieben sei, dies jedoch
keine Auswirkungen auf den Gesamt-GdB gehabt habe. Bei der Klägerin gingen aus den Unterlagen keine wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen
hervor, die damals einen GdB von 20 oder mehr hätten begründen können. Das Asperger-Syndrom habe damals lediglich einen solchen
von 10 zur Folge gehabt. Es könne jedoch erst ein GdB von 20 festgestellt werden.
Hiergegen hat die Klägerin am 17. Juni 2016 erneut Klage beim SG erhoben (S 6 SB 2023/16). Sie hat vorgetragen, es sei unrichtig, dass sie den Erstfeststellungsantrag beschränkt habe. Außerdem habe der Beklagte
auf eine "solche Rechtswirkung" hinweisen müssen.
Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 3. November 2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sei - nur - § 44 Abs. 2 (Satz 2) SGB X. Der Bescheid vom 28. April 2004 sei aber nicht rechtswidrig. Die Klägerin habe ihren Erstfeststellungsantrag wirksam auf
den M. Crohn beschränkt. Deswegen habe der Beklagte etwaige Beeinträchtigungen auf Grund des Asperger-Syndroms nicht zu prüfen
gehabt. Auch ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehe nicht. Das Versorgungsamt K. habe keine Beratungs- oder Aufklärungspflicht
verletzt. Der Antragsvordruck habe unmissverständlich darauf hingewiesen, dass ausgeschlossene Behinderungen nicht in die
Bewertung des GdB einbezogen würden. Außerdem habe sich die Klägerin bei Unklarheiten oder Schwierigkeiten beim Ausfüllen
des Vordrucks an das Versorgungsamt wenden können.
Gegen den Gerichtsbescheid, der ihren Prozessbevollmächtigten am 13. November 2017 zugestellt worden ist, hat die Klägerin
am 12. Dezember 2017 Berufung beim LSG erhoben. In ihrer Berufungsbegründung vom 25. April 2018 trägt sie vor, das SG habe den Erstfeststellungsantrag vom 11. Februar 2004 fehlerhaft ausgelegt. Zu rügen sei auch, dass bislang keine Entscheidung
über die Neufeststellung des GdB, zu der sich der Beklagte in dem Vergleich vom 13. Mai 2015 ebenfalls verpflichtet habe,
ergangen sei.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 3. November 2017 und den Bescheid vom 8. Juli 2015 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter teilweiser Rücknahme des Bescheides
vom 28. April 2004 bei ihr ab ihrer Geburt am 26. März 1971 einen Grad der Behinderung von mindestens 70 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt seine Entscheidungen.
Auf Bitte des Senats um Konkretisierung ihres besonderen steuerrechtlichen Interesses an einer rückwirkenden Feststellung
hat die Klägerin die Bescheinigung des Finanzamts C. vom 3. September 2013 zur Akte gereicht. Darin ist ausgeführt, nach früherer
- finanzgerichtlicher - Rechtsprechung hätten "ressortfremde Grundlagenbescheide" auch für Steuerbescheide weit zurück liegender
Veranlagungszeiträume eine Ablaufhemmung nach §
171 Abs.
10 Abgabenordnung (
AO) auslösen können. Nunmehr habe aber der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 21. Februar 2013 (V R 27/11) entschieden, dass dies nur - noch - gelte, wenn der ressortfremde Grundlagenbescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist der
im Einzelfall betroffenen Steuer erlassen werde. §
171 Abs.
10 AO sei daraufhin mit Gesetz vom 22. Dezember 2014 (BStBl. I 2015, 58) dahin ergänzt worden, dass die Ablaufhemmung nur solche
Grundlagenbescheide auslösen könnten, die vor Ablauf der Festsetzungsfrist des Folgebescheids bei der für den Grundlagenbescheid
zuständigen Behörde beantragt würden. Für die Klägerin, bei der hinsichtlich der Veranlagung für 2012 bereits Festsetzungsverjährung
eingetreten sei, bedeute dies, dass noch eine Änderung der Veranlagung bis 2013 zurück möglich sei, wenn sie den maßgeblichen
Antrag 2018 gestellt habe; sei ihr Antrag schon 2017 gestellt worden, könne auch noch die Festsetzung für 2012 geändert werden.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und
die Gerichtsakten beider Verfahren Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§
105 Abs.
2 Satz 1 i.V.m. §
143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) erhoben worden. Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
SGG) auf Rücknahme (Teilrücknahme) des Bescheids vom 28. April 2004 und Feststellung eines GdB von mindestens 70 ab der Geburt
abgewiesen.
Auch der Senat stuft die Klage hinsichtlich aller geltend gemachter Zeiträume als zulässig ein, obwohl hinsichtlich des Abschnitts
von Geburt der Klägerin bis zum 10. Februar 2004 Bedenken bestehen.
In einem Subordinationsverhältnis zwischen Bürger und Staat wie hier obliegt es nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung
(vgl. Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz [GG]) zwischen vollziehender Gewalt und Rechtsprechung zunächst der Exekutive selbst, über Ansprüche des Bürgers gegen sich
zu entscheiden. Daher kann ein Bürger in diesen Fällen keine isolierte Leistungsklage (einschließlich einer Verpflichtungsklage
wie hier) erheben, sondern muss diese mit einer vorgeschalteten Anfechtungsklage verbinden (vgl. §
54 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG). Eine solche kombinierte Klage ist aber nur zulässig, soweit die Behörde des beklagten Rechtsträgers im Verwaltungsverfahren
durch Bescheid über die geltend gemachten Ansprüche auf Leistung oder Feststellung entschieden hat. Soweit eine solche Entscheidung
nicht vorliegt, fehlt einem Betroffenen auch die nach §
54 Abs.
1 Satz 2
SGG notwendige Klagebefugnis (BSG, Urteil vom 21. September 2010 - B 2 U 25/09 R -, juris, Rz. 12). Außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde besteht kein berechtigtes Interesse an einer originären
gerichtlichen Verurteilung oder Verpflichtung (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - B 2 U 17/14 R -, SozR 4-1500 § 54 Nr. 41, Juris Rz. 13).
Ob eine solche Entscheidung durch Verwaltungsakt (vgl. für die Sozialverwaltung § 31 SGB X) vorliegt, bestimmt sich durch Auslegung. Der Maßstab hierfür ist der Empfängerhorizont verständiger Beteiligter, die die
Zusammenhänge berücksichtigen, die die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§§
133,
157 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2008 - B 5a/5 R 20/06 R -, BSGE 100, 1, 2; Urteil des Senats vom 30. Juli 2015 - L 6 U 3058/14 -, juris, Rz. 53).
Ausdrücklich - in dem Verfügungssatz - hat der Beklagte in dem Bescheid vom 8. Juli 2015 allein die Rücknahme des Bescheides
vom 28. April 2004 nach § 44 SGB X abgelehnt. In diesem Bescheid hatte der Beklagte aber nur über den GdB der Klägerin ab dem 11. Februar 2004 entschieden.
Für die Zeit zuvor hatte jene Verwaltungsentscheidung überhaupt keine rechtliche Regelung getroffen. Der Beklagte hat damals
einen GdB - von 30 - erst ab der Antragstellung zuerkannt. Auch in der Begründung des Bescheides vom 28. April 2004 finden
sich keine Ausführungen, aus denen aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers zu ersehen gewesen wäre, dass damals die
Feststellung eines GdB für die Vergangenheit abgelehnt werden sollte. Dies entsprach auch dem Antrag vom 11. Februar 2004
selbst, denn dort hatte die Klägerin ausdrücklich angekreuzt, die GdB-Feststellung solle - erst - ab Antragstellung gelten.
Die damalige Entscheidung des Beklagten entsprach ferner der gesetzlichen Grundregel, wonach ein GdB im Normalfall erst ab
dem Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt werden darf. Diese Regelung hatte damals in § 6 Abs. 1 Satz 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAV) in der Fassung der Bek. vom 25. Juli 1991 (BGBl I S. 1739) ihre Rechtsgrundlage. Ab dem 30. Dezember 2016 galt insoweit §
69 Abs.
1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) a.F., seit dem 1. Januar 2018 findet sie sich in §
152 Abs.
1 Satz 1
SGB XI (beide Vorschriften i.d.F. des Bundesteilhabegesetzes [BTHG] vom 23. Dezember 2016 [BGBl I S. 3234]). Wenn demnach der Bescheid,
dessen Überprüfung die Klägerin beantragt hatte, eine solche zeitliche Beschränkung enthielt, erstreckte sich auch das Rücknahmeverfahren
nach § 44 SGB X nur auf diesen Zeitraum.
Der Senat legt den in diesem Verfahren angegriffenen Bescheid vom 8. Juli 2015 aber dahin aus, dass der Beklagte auch die
Erstfeststellung eines GdB für die Zeit von der Geburt der Klägerin bis zum Eingang des ersten Antrags am 11. Februar 2004
abgelehnt hat. Eine entsprechende Ausführung findet sich in dem Abschnitt "Gründe" dieses Bescheides. Eine solche Formulierung
stellt einen weiteren, einer Regelung zugänglichen selbstständigen Verfügungssatz im Rahmen der Begründung eines Bescheids
dar (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 20/14 R -, BSGE 118, 267, 269 f.; Urteil des Senats vom 24. Januar 2019 - L 6 U 1768/18 -, nicht veröffentlicht). Diese Auslegung entspricht den Vorstellungen beider Beteiligter. Der Vergleich vom 13. Mai 2015
hatte sich unter Ziffer 1 Buchstabe a auf die gesamte Zeit seit Geburt erstreckt. Dem Beklagten war auch bewusst, dass eine
bloße Überprüfungsentscheidung nach § 44 SGB X nicht diesen gesamten Zeitraum erfassen konnte, weil der Bescheid vom 28. April 2004 die Zeit vor dem 11. Februar 2004 überhaupt
nicht betroffen hatte. Bei der Rückgabe der Akten an das LRA hatte das RP daher (Aktenvermerk vom 28. Mai 2015) darauf hingewiesen,
dass neben dem Bescheid nach § 44 SGB X ein "ergänzender Erstfeststellungsbescheid" (für die Zeit von Geburt bis 10. Februar 2004) ergehen müsse. Der Senat geht
davon aus, dass das LRA eine solche Entscheidung auch getroffen hat.
Da der Beklagte in dem angegriffenen Bescheid über den gesamten Zeitraum seit Geburt entschieden hat, war dieser auch Gegenstand
des nach §
78 Abs.
1 SGG notwendigen Vorverfahrens.
Nur für die Zeit ab dem 27. Oktober 2009, also die Zeit nach dem - in dem Vergleich angenommenen - Eingang des Überprüfungsantrags,
steht dem Anspruch der Klägerin die Bindungswirkung (§
77 SGG) des Bescheides vom 15. Januar 2010 entgegen. Mit diesem Bescheid hatte der Beklagte nicht nur den GdB mit 60 neu festgestellt,
sondern auch - ausdrücklich - den Bescheid vom 28. April 2004 für die Zukunft aufgehoben, sodass dieser keine Regelungswirkung
mehr entfaltet hat. Eine Überprüfung des Bescheids vom 15. Januar 2010 hat die Klägerin aber nicht beantragt, auf eine solche
Überprüfung hat sich der Vergleich vom 13. Mai 2015 nicht erstreckt.
Die Klage ist aber für beide streitigen Zeiträume von der Geburt bis Februar 2004 und ab dem 11. Februar 2004 bis zum 26.
Oktober 2009 nicht begründet.
Zunächst hat der Beklagte im Ergebnis zu Recht die Rücknahme des Bescheids vom 28. April 2004 abgelehnt.
Die - formelle - Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines Bescheids über die Feststellung eines GdB für die Vergangenheit ist
§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X. Die andere Regelung über die Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakts nach § 44 Abs. 1 SGB X ist dagegen eine Spezialregelung für Bescheide über sozialrechtliche Leistungen. Der die Eigenschaft als schwerbehinderter
Mensch oder die Höhe des GdB feststellende Statusakt ist aber keine Leistung in diesem Sinne (Bundessozialgericht [BSG], Urteil
vom 7. April 2011 - B 9 SB 3/10 R -, juris, Rz. 28). Diese Feststellungen sind lediglich eine Vorentscheidung für Ansprüche auf sozialrechtliche Dienstleistungen
sowie auf Leistungen außerhalb des Sozialrechts. Das Steuerrecht spricht insoweit von einem Grundlagenbescheid. Dem entspricht
es, dass § 20 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) als "Leistungen" nach dem Schwerbehindertenrecht gerade nicht die Feststellung des GdB nennt, sondern nur arbeitsrechtliche
Vorteile wie vorrangige Beschäftigungschancen, besonderen Kündigungsschutz und verlängerter Urlaub sowie nachgehende Hilfen
(vgl. BSG, Urteil vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 -, juris, Rz. 19).
Im Gegensatz zu dem bindenden Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X eröffnet § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X der Behörde einen Ermessensspielraum (§
54 Abs.
2 Satz 2
SGG) bei der Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit. Wie schon
bei der Erstfeststellung eines GdB ist im Rahmen dieser Ermessensentscheidung auch zu berücksichtigen, dass eine rückwirkende
Feststellung nur auf ausdrücklichen Antrag und unter Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erfolgen darf (vgl. heute
§
152 Abs.
1 Satz 2
SGB IX, damals § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAV). Darüber hinaus ist eine zulässige Ermessenserwägung bei einer Entscheidung nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X, ob die Rechtswidrigkeit "offenkundig" ist, also die dem rechtswidrigen Verwaltungsakt zu Grunde gelegten (tatsächlichen)
Umstände offensichtlich falsch sind (vgl. Urteil des Senats vom 21. Februar 2013 - L 6 SB 4007/12 -, juris, Rz. 28). Dieses Erfordernis war anfangs in der Rechtsprechung für jede rückwirkende Feststellung eines GdB postuliert
worden, auch im Rahmen einer Erstfeststellung. Jedoch hat das BSG inzwischen entschieden, dass es sich um einen spezifischen Ermessensbelang handeln muss, der - nur - bei Entscheidungen nach
§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X relevant ist (BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 SB 3/10 R -, juris, Rz. 28). Eine weitere zulässige Erwägung im Rahmen einer Entscheidung über die Rücknahme einer GdB-Feststellung
ist es, die Rückwirkung auf die vier Jahre vor der Entscheidung bzw. dem Eingang des Überprüfungsantrags zu beschränken. Dies
folgt aus dem Rechtsgedanken des § 44 Abs. 4 SGB X. Wenn schon der bindende Anspruch auf Rücknahme eines Bescheids im Bereich des § 44 Abs. 1 SGB X auf vier Jahre beschränkt ist, so kann dies erst recht bei der Ermessensentscheidung nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X berücksichtigt werden (BSG, Urteil vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 -, juris, Rz. 23).
In dem Zeitraum, in dem er galt, war der Bescheid vom 28. April 2004 nicht rechtswidrig im Sinne von § 44 Abs. 1, Abs. 2 SGB X. Bei seinem Erlass hatte der Beklagte weder das Recht falsch angewandt noch war er von einem Sachverhalt ausgegangen, der
sich als unrichtig erweist. Eine Rücknahme scheidet daher schon auf der Ebene der Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm aus,
einer eigentlichen Ermessensentscheidung des Beklagten bedurfte es nicht.
Die Klägerin beschränkte ihren Antrag vom 11. Februar 2004 nicht auf den M. Crohn, nahm also keine wirksame Verfahrenshandlung
dahin vor, dass - etwaige - psychische Erkrankungen bei der Feststellung des GdB nicht berücksichtigt werden sollten.
Es ist zwar grundsätzlich anerkannt, dass ein Antragsteller in einem schwerbehindertenrechtlichen Verfahren einzelne Behinderungen
von einer Anerkennung ausnehmen kann (Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB IX, 3. Aufl. 2018, §
152 SGB IX, Rz. 11). Dies folgt aus seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art.
1 Abs.
1 Satz 1 i.V.m. Art.
2 Abs.
1 Grundgesetz [GG]). Daraus folgt ein anerkennenswertes Interesse, Behinderungen ganz oder teilweise nicht offenbaren zu müssen (BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 - 9a RVs 3/84 -, BSGE 60, 284 ff.). Geschähe dies ohne rechtfertigenden Grund doch, so verkehrte sich das Benachteiligungsverbot aus Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG in sein Gegenteil. Auch aus diesem Grunde ist das Recht, die Feststellung einer Behinderung und eines GdB zu beantragen,
ein höchstpersönliches Recht des behinderten Menschen. Es erlischt mit seinem Tode und kann nicht - im eigenen Namen - von
Dritten ausgeübt werden (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 21. Oktober 1987 - 5 C 42/84 -, juris Rz. 14, für einen Antrag eines Arbeitgebers). Daher eröffnet das schwerbehindertenrechtliche Verwaltungsverfahren
dann keine allumfassende Prüfung und Entscheidung über alle Behinderungen, wenn der behinderte Mensch nur eine eingeschränkte
Prüfung und Berücksichtigung will.
Eine solche Beschränkung kann nur dann wirksam vorgenommen werden, wenn dem behinderten Menschen die fragliche Behinderung
bereits bekannt ist. Nur dann kann er eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen, ob er diese Behinderung offenbaren oder
- unter Inkaufnahme der damit verbundenen Nachteile - von einer Anerkennung ausschließen möchte. Dafür spricht, dass auch
in einem schwerbehindertenrechtlichen Verfahren auf den Antrag des behinderten Menschen hin grundsätzlich der gesamte Sachverhalt
von Amts wegen zu erforschen ist, wobei die Behörde grundsätzlich weder an das Vorbringen noch an die Beweisanträge der Beteiligten
gebunden ist (§ 20 Abs. 1 SGB X). Der Grundsatz, dass behinderte Menschen einzelne Behinderungen von einer Berücksichtigung ausschließen können, ist somit
schon eine Ausnahme, die nicht erweiternd ausgelegt werden kann.
Da der Senat demnach nicht von einer wirksamen Antragsbeschränkung ausgeht, stellt sich die Frage nicht, ob sich die Klägerin
jetzt nach den Rechtsgrundsätzen der §§
119 Abs.
1,
142 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) von einer solchen Beschränkung lösen kann oder ob es unter Umständen einer Behörde nach dem Grundsatz des §
242 BGB verwehrt ist, sich auf eine Antragsbeschränkung zu berufen, wenn sie selbst durch Verletzung einer Aufklärungs- und Beratungspflicht
zu der Beschränkung beigetragen hat und sich daher nunmehr einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ausgesetzt sieht.
Gleichwohl ist der Bescheid vom 11. Februar 2004 nicht rechtswidrig im Sinne von § 44 Abs. 2 SGB X. Der Senat folgt insoweit der ergänzenden Begründung des Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2016.
Für die Zuerkennung eines GdB in jenem Zeitraum im Jahre 2004 gelten weiterhin die §§
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX in der bis Ende 2016 bzw. dem 31. Dezember 2017 geltenden Fassung. Die Neuregelungen durch das BTHG sind nicht zu berücksichtigen,
da ihnen der Gesetzgeber keine Rückwirkung beigegeben hat.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX a.F. stellten auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX). Eine Feststellung war indes nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorlag (§
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX i. d. F. des Gesetzes vom 7. Januar 2015, BGBl II, S. 15). Menschen waren - und sind - nach §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger
als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Schwerbehindert sind gemäß §
2 Abs.
2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er-Graden abgestuft festgestellt.
Für die Ermittlung des GdB galten im Jahre 2004 noch nicht die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VG), die Anlage zu §
2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), weil diese erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2009 in Kraft gesetzt worden sind. Es sind daher weiterhin die "Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) heranzuziehen
(Urteil des Senats vom 20. Juni 2013 - L 6 SB 458/13 -, Juris, Rz. 28), die in der Zeit bis zum 31. Dezember 2008 als antizipiertes Sachverständigengutachten im Interesse einer
gleichmäßigen Rechtsanwendung im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu Grunde zu legen waren (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris, Rz. 5).
Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen kann bei der Klägerin für die Zeit vor der Erstdiagnose des Asperger-Syndroms
im Oktober 2009, mithin auch für die hier streitige Zeit ab 2004, kein GdB festgestellt werden.
Der GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus, was für Kinder in gleicher
Weise gilt wie für alte Menschen (Teil A Nr. 18 Abs. 2 AHP). Nach Teil A Nr. 26.3 der AHP sind leichtere Formen der im Kindesalter
beginnenden psychischen Behinderungen in Form der autistischen Syndrome, nämlich vorliegend ein Asperger-Autismus-Syndrom
(F 84.5 ICD-10 GM), mit einem Einzel-GdB von 50 bis 80 zu berücksichtigen (während nach den VG seit dem Jahre 2009 nur noch
ein GdB von 30 bis 40 oder sogar - wenn keine sozialen Anpassungsschwierigkeiten bestehen - von 10 bis 20 in Betracht kommt).
Jedoch galt schon unter Anwendung der AHP, dass eine tiefgreifende Entwicklungsstörung mit Störungen emotionaler und psychosozialer
Art (Verhaltensstörungen) erst ab dem Beginn tatsächlicher Teilhabebeeinträchtigungen angenommen werden konnte (vgl. heute
Teil B Nr. 3.5 VG). Dies gilt unabhängig davon, ob eine Erkrankung angeboren ist. Der Senat hat bereits entschieden, dass
eine Teilhabebeeinträchtigung auch bei einem Asperger-Syndrom erst anzunehmen ist, wenn die Krankheit manifest wird (Urteil
vom 21. Februar 2013 - L 6 SB 4007/12 -, juris, Rz. 41 ff.). Dem sind unter anderem das Sächsische LSG (Urteil vom 6. Juni 2017 - L 9 SB 253/13 ZVW -, juris, Rz. 60) und das LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 25. April 2018 - L 13 SB 93/17 -, juris, Rz. 24) gefolgt. Ein Grund hierfür ist, dass ohne das Vorliegen einer ärztlich gesicherten Diagnose Feststellungen
über Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft kaum rückwirkend zu treffen sind, zumal die Erforderlichkeit
einer ärztlichen Behandlung nach der Rspr. einen entsprechenden Leidensdruck dokumentiert, der einen Anhaltspunkt für eine
Leistungseinschränkung darstellt.
Solche tiefgreifenden Störungen sind für die hier streitige Zeit vor der Erstdiagnose des Asperger-Syndroms im Jahre 2009
nicht nachgewiesen. Der Senat schließt sich in diesem Punkt den Ausführungen des Versorgungsarztes Dr. Di. vom 6. Juli 2013
an.
Insbesondere sind keine Einschränkungen der Intelligenz oder des Durchhaltevermögens nachgewiesen. Die Klägerin hat vielmehr
- nach ihren eigenen Angaben - zumindest fünf oder sechs Sprachen sowie mehrere Musikinstrumente erlernt. Auch auf sozial-kommunikativer
Ebene, auf der sich ein Asperger-Syndrom typischerweise auswirkt, sind für die Zeit seit Geburt keine gravierenden Einschränkungen
verzeichnet. Die Klägerin hat die Schule absolviert und eine Lehre als Bankkauffrau, die sicherlich mit Publikums- und Kollegenkontakt
verbunden war, als Jahrgangsbeste beendet. Sie hat in diesem Beruf viele Jahre gearbeitet. Selbst wenn - wie die Klägerin
vorträgt - in ihren Schulzeugnissen Hinweise auf ein auffälliges Verhalten zu finden sein sollten, so ist angesichts des sehr
erfolgreichen Schulbesuchs daraus nicht auf eine gravierende Einschränkung bzw. ein über das noch übliche Maß an Auffälligkeit
bei Kindern und Jugendlichen, welche sich bei der Teilhabe am Leben in Gemeinschaft auswirkt, zu schließen. Auch ihr Privatleben
- zwei Ehen und drei Kinder - und ihr ehrenamtliches Engagement als Vorstand eines Vereins im sozialen Bereich zeigen, dass
keine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt. Der Senat verkennt bei alledem nicht, dass diese nur unter größeren Mühen als bei
einem nicht behinderten Menschen möglich ist. So hat Prof. Dr. Ebert in seinem Untersuchungsbericht vom 22. Oktober 2009 überzeugend
ausgeführt, dass die Klägerin zeit ihres Lebens zahlreiche Verhaltensweisen hat auswendig lernen müssen, die nicht behinderten
Menschen ohne Einüben möglich sind. Sie hat in diesem Zusammenhang aber auch ausgeführt, sie könne sich sehr wohl mit anderen
Menschen unterhalten, auch von Angesicht zu Angesicht, wiewohl sie sich, was sie in der mündlichen Verhandlung beim LSG ebenfalls
hervorhob, oft über aus ihrer Sicht nichtssagende oder blödsinnige Aussagen anderer Menschen wundere. Die tatsächlichen Einschränkungen,
die die Klägerin im kommunikativen Bereich schildert - sie versteht verschiedene Formen des Humors nicht und kommt mit körperlicher
Nähe wie Umarmen nicht zurecht, wertet der Senat nicht als gravierend. Auch der Bericht von Prof. Dr. Ebert beschreibt noch
für das Jahr 2009 wenig konkrete Störungen. So war sogar der Blickkontakt initial unauffällig und die Klägerin fragte sogar,
ob sie ihn schweifen lassen könne, bevor sie dies tat. Ferner war die Mimik nur reduziert. Die kognitiven Fähigkeiten waren
uneingeschränkt, sie war bewusstseinsklar, in allen drei Dimensionen orientiert, die Konzentration und die Aufmerksamkeit
waren nicht eingeschränkt, der Antrieb war unauffällig. Nur die Stimmung wurde als subdepressiv beschrieben. Dies ist allerdings
eher der depressiven Erkrankung zuzuordnen, die neben dem Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde und für das eine rückwirkende
Anerkennung schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil depressive Episoden keine monokausal auf genetische - oder andere
- Umstände zurückzuführenden Erkrankungen sind und daher im Gegensatz zum Asperger-Syndrom nicht von einer angeborenen Krankheit
ausgegangen werden kann (vgl. nur Bayerisches LSG, Urteil vom 27. April 2018 - L 3 U 233/15 -, juris, Rz. 61).
Nichts Anderes entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. Sn. vom 14. September 2012 in dem Verfahren S 6 SB 1787/10 (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
411 Zivilprozessordnung -
ZPO). Auch der Sachverständige hatte während der längeren Exploration keine nennenswerten Einschränkungen im Umgang mit anderen
Menschen beschrieben. Er hat zwar für die Zeit der Begutachtung einen GdB von 50 auf psychiatrischem Fachgebiet vorgeschlagen
und dies im Wesentlichen damit begründet, die Klägerin könne keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Aber aus seinem Gutachten
ergibt sich auch, dass die Klägerin ihre Berufstätigkeit nunmehr 2004 - nach der Antragstellung bei dem Beklagten - aufgegeben
hatte und erst seit 2011 berentet ist. Der zunehmende soziale Rückzug in die Familie bestätigt, dass sich zumindest die Teilhabebeeinträchtigungen
auf Grund des Asperger-Syndroms im Laufe der Jahre verschlimmert haben, auch wenn die Krankheit selbst unverändert besteht.
Gerade wegen dieser Umstände kann sich der Senat im Ergebnis nicht im Sinne von §
128 Abs.
2 SGG davon überzeugen, dass ihre Erkrankung schon im Jahre 2004 zu erheblichen Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft geführt hat.
Da nach diesen Ausführungen der Bescheid vom 28. April 2004 weiterhin bindend die Zeiträume seit dem 11. Februar 2004 regelt,
kann die Klägerin insoweit auch nicht die Feststellung eines höheren GdB verlangen.
Ferner hat der Beklagte in dem Bescheid vom 8. Juli 2015 zu Recht für die bislang ungeregelte Zeit vor dem 11. Februar 2004
die Feststellung eines GdB abgelehnt.
Wie schon ausgeführt, bestimmte für die damalige Zeit § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV a.F., dass eine rückwirkende Zuerkennung eines GdB für Zeiten vor Antragstellung die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses
voraussetzte. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat das BSG entschieden, dass auch die beabsichtigte Inanspruchnahme konkreter Steuervorteile ein besonderes Interesse an einer vor die
Antragstellung zurückreichenden Feststellung des GdB begründen kann (Urteil vom 16. Februar 2012 - B 9 SB 1/11 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 15, Rz. 40 ff.). Auf solche Vorteile beruft sich auch die Klägerin, allerdings hat sie erst im Berufungsverfahren
und nicht schon in dem Verfahren vor dem LRA entsprechende Ausführungen gemacht und - vor allem - erst jetzt durch Vorlage
einer Bescheinigung des Finanzamts glaubhaft zu machen versucht. Andere besondere Interessen an einer rückwirkenden Feststellung
ab Geburt hat die Klägerin nicht vorgetragen. Insbesondere stellte es kein rechtliches, sondern ein eher emotionales Interesse
dar, wenn sie ausführt, sie wolle bestätigt bzw. wiedergutgemacht sehen, dass ihre Eltern in ihrer Erziehung nichts falsch
gemacht hätten.
Vor diesem Hintergrund kam, als die Klägerin im Oktober 2009 erstmals die Feststellung des GdB ab Geburt beantragte, für die
damals noch nicht durch Bescheid geregelte Zeit vor 2004 schon aus verfahrensrechtlichen Gründen eine Feststellung nicht in
Betracht. Für diesen Zeitraum fehlt es an einem ausreichenden steuerrechtlichen Interesse an einer rückwirkenden Feststellung
des GdB.
Nach den Neuregelungen im Steuerrecht durch das Gesetz zur Anpassung der
Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (ZollkodexAnpG) vom 22. Dezember 2014
(BStBl. I 2015, S. 58) sowie durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. Juli 2016 (BGBl. I S.
1679) kommt eine Gewährung des Behindertenpauschbetrags (§
33b Einkommensteuergesetz [EStG]) oder einer anderen steuerrechtlichen Vergünstigung für behinderte Menschen rückwirkend nur noch eingeschränkt in
Betracht.
Unverändert bestimmt zwar §
175 Abs.
1 Nr.
1 AO, dass ein Steuerbescheid - auch nach Bestandskraft - aufzuheben bzw. zu ändern ist, soweit ein Grundlagenbescheid (§
171 Abs.
10 AO), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid (den "Folgebescheid" in Bezug auf den Grundlagenbescheid) zukommt, erlassen,
aufgehoben oder geändert wird (Rüsken, in: Klein, Kommentar zur
AO, 14. Auf. 2018, §
171 Rz. 96). Die Regelung des §
169 Abs.
1 Satz 1
AO, wonach eine Steuerfestsetzung nach Ablauf der jeweiligen Festsetzungsfrist nicht mehr aufgehoben oder geändert werden kann,
gilt auch für Berichtigungen nach §
175 Abs.
1 Nr.
1 AO, und zwar auch dann, wenn der relevante Grundlagenbescheid von einer Behörde erlassen wird, die nicht selbst Finanzbehörde
ist ("ressortfremde Behörde"). Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer beträgt nach §
169 Abs.
2 Nr.
2 AO vier Jahre. Sie beginnt nach §
170 Abs.
1 AO generell mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist, in den Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen
ist, mit Ablauf des Jahres der Einreichung, spätestens aber mit Ablauf des dritten Jahres nach dem Jahr ihrer Entstehung (§
170 Abs.
2 Nr.
1 AO). Bislang schon galt aber nach §
171 Abs.
10 Satz 1
AO, dass bei nachträglichem Erlass eines Grundlagenbescheids die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf zweier Jahre nach Erlass
bzw. Bekanntgabe dieses Grundlagenbescheids ablief.
Allerdings hatte der BFH (Urteil vom 21. Februar 2013 - V R 27/11 -, BFHE 240, 487, BStBl II 2013, 529, Juris, Rz. 29 ff., 34) schon zu dem früheren Recht entschieden, dass eine Änderung eines Steuerbescheids auf Grund eines
später erlassenen ressortfremden Grundlagenbescheids nur dann möglich ist, wenn dieser vor Ablauf der jeweiligen Festsetzungsfrist
erlassen, also dem Adressaten bekanntgegeben worden ist. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit den genannten Gesetzen
aufgenommen, wobei er allerdings den relevanten Zeitpunkt zu Gunsten der steuerpflichtigen Menschen anders geregelt hat als
nach dem Urteil des BFH: Nach §
171 Abs.
10 Satz 3
AO i.d.F. des BestVModG (noch Satz 2 i.d.F. des ZollkodexAnpG) löst ein nachträglich ergangener Grundlagenbescheid die zweijährigen
Festsetzungsfristen des §
171 Abs.
10 Satz 1 und 2
AO nur noch aus, wenn er vor Ablauf der für den Folgebescheid geltenden Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt
worden ist. Dabei bestimmt §
171 Abs.
10 Satz 2
AO (i.d.F. des BestVModG), dass Grundlagenbescheide ressortfremder Behörden die zweijährige Festsetzungsfrist erst mit ihrem
Bekanntwerden bei dem für den Folgebescheid zuständigen Finanzamt auslösen.
Ausgehend hiervon kam im Falle der Klägerin, die ihren Erstfeststellungsantrag auf Zuerkennung eines GdB ab Geburt am 17.
Oktober 2009 gestellt hat, eine Änderung der früheren Steuerbescheide allenfalls bis 2004 in Betracht. Dies gilt sogar nur
dann, wenn sie erklärungspflichtig war und ihre Steuererklärungen jeweils im Folgejahr eingereicht hat (dies hat das FA in
der Bescheinigung vom 3. September 2018 zumindest für die Kalenderjahre 2012/2013 bestätigt), also ein Fall des §
170 Abs.
2 Nr.
1 AO vorlag. In diesem Fall lief 2009 nur noch die Festsetzungsfrist für das Veranlagungsjahr 2004, ausgelöst durch Einreichung
der Steuererklärung 2005. Sofern die Klägerin nicht erklärungspflichtig war und daher §
170 Abs.
1 AO galt, sodass die Festsetzungsfrist für 2004 schon mit Ablauf dieses Jahres begonnen hat, wäre diese sogar schon Ende 2008
abgelaufen. In keinem Falle aber kann die Klägerin noch eine Änderung ihrer Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2003 und
früher erreichen. Und hinsichtlich der Jahre 2004 bis 2008 entfaltet, wie ausgeführt, der Bescheid vom 28. April 2004 Sperrwirkung,
da ihn der Beklagte nicht zurücknehmen muss.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht ersichtlich.