Anspruch auf ungekürzte Asylbewerberleistungen
Erforderlichkeit der Rücknahme bzw. Aufhebung der Bewilligungsbescheide bei einer Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht (noch) die Gewährung höherer Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG) für die Zeit vom 1. August 2016 bis 31. Januar 2017 im Streit; der Kläger wendet sich gegen die in diesem Zeitraum nur eingeschränkt
nach §
1a AsylbLG gewährten Leistungen.
Der 1970 geborene Kläger reiste am 19. November 2003 nach eigenen Angaben auf dem Seeweg in das Bundesgebiet ein und beantragte
am 14. März 2006 seine Anerkennung als Asylberechtigter als angeblicher Staatsangehöriger der Republik S. Wegen erheblicher
Zweifel hinsichtlich der Herkunft bzw. der Staatsangehörigkeit wurde im Rahmen des Asylverfahrens ein sprachwissenschaftliches
Gutachten in Auftrag gegeben. Der Gutachter kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Kläger mit Sicherheit nicht aus S stamme.
Er sei vielmehr eindeutig der Nnischen Herkunftsregion zuzuordnen.
Mit Bescheid vom 19. September 2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag des Klägers als
offensichtlich unbegründet ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen. Der Kläger wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von einer Woche zu verlassen. Sollte er die Ausreisefrist
nicht einhalten, werde er in die Bundesrepublik N abgeschoben. Die hiergegen bei dem Verwaltungsgericht Freiburg eingelegte
Klage (Az. A 1 K 705/06) blieb ohne Erfolg (Urteil vom 31. Januar 2007, rechtskräftig seit 5. Februar 2007). Nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens
ist der Kläger im Besitz von jeweils befristet erteilten Duldungen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Er steht im laufenden Bezug von Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG), wobei er teilweise bereits Leistungskürzungen unterlag. Seit Juli 2012 ist der Kläger im Rahmen einer freiwilligen sozialen
Arbeit (100 Std./Monat) bei der Arbeiterwohlfahrt beschäftigt.
Mit Schreiben vom 4. Juni 2007 forderte das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger unter Bezugnahme auf §
15 Asylverfahrensgesetz (
AsylVfG) gegen Empfangsbekenntnis auf, der für ihn zuständigen Ausländerbehörde einen gültigen Pass oder Passersatz auszuhändigen.
Wenn er keinen Pass besitze, müsse er innerhalb der genannten Frist der Ausländerbehörde sämtliche Identitätsnachweise, die
sich in seinem Besitz befänden, übergeben, sich aus eigener Initiative persönlich bemühen, ein Identitätspapier zu erlangen
und diese Bemühungen gegenüber der Ausländerbehörde nachweisen. Zugleich wurde eine Anhörung bei Vertretern der Botschaft
der Republik S am 26. Juni 2007 in Begleitung eines Mitarbeiters der Bundespolizeidirektion angeordnet.
Bei der Vorsprache am 26. Juni 2007 kam der Botschaftsvertreter zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen
Staatsangehörigen Sischer Herkunft handele. Es werde davon ausgegangen, dass der Kläger aus L stamme.
Mit Schreiben vom 22. Oktober 2007 forderte das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger erneut zur Mitwirkung auf und ordnete
eine Vorsprache bei Vertretern der Botschaft der Republik L am 13. November 2007 in Begleitung eines Mitarbeiters der Bundespolizeidirektion
an.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2007 zeigte der ehemalige Prozessbevollmächtigte des Klägers dem Regierungspräsidium Freiburg
die anwaltliche Vertretung des Klägers an und teilte unter Vorlage verschiedener Schreiben mit, er bemühe sich schon seit
geraumer Zeit, die Identität des Klägers zu klären. Er habe daher Kontakt zur Botschaft der Republik S sowie zur Botschaft
des Staates L aufgenommen. Weiter habe er den Kläger zu einer Konsultation bei Facharzt K begleitet, der bestätige, dass die
Verletzung des Klägers an seiner rechten Hand tatsächlich auf Gewalteinwirkung zurückzuführen sei.
Bei der Vorsprache am 13. November 2007 bei Vertretern der Botschaft der Republik L kam der Botschaftsvertreter zu dem Ergebnis,
dass es sich bei dem Kläger nicht um einen Staatsangehörigen Lnischer Herkunft handele. Es werde davon ausgegangen, dass der
Kläger aus N stamme.
Mit Schreiben vom 18. Februar 2008 forderte das Regierungspräsidium Freiburg den Kläger erneut zur Mitwirkung auf und ordnete
eine Vorsprache bei Vertretern der Botschaft der Republik N am 12. März 2008 in Begleitung eines Mitarbeiters der Bundespolizeidirektion
an. Bei der Vorsprache am 12. März 2008 kam der Botschaftsvertreter zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Kläger um einen
Staatsangehörigen Nnischer Herkunft handeln könne. Zur Ausstellung eines Passersatzes würden jedoch weitere Sachbeweise benötigt,
zumal der Kläger weiterhin darauf beharre, aus S zu stammen.
Das Amtsgericht Villingen-Schwenningen verurteilte den Kläger mit Urteil vom 28. April 2009 wegen Vergehens gegen das Aufenthaltsgesetz zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätze zu je 5 EUR (Az. 9 Cs 34 Js 26130/2008 AK 166/2009, rechtskräftig nach Rücknahme der Berufung).
Mit Verfügung vom 10. Oktober 2014 ordnete das Regierungspräsidium Karlsruhe erneut die persönliche Vorsprache bei einem Vertreter
der Botschaft der Bundesrepublik N am 21. Oktober 2014 an. Bei der Vorsprache beharrte der Kläger erneut darauf, dass er Sischer
Staatsangehöriger sei. Die Botschaftsvertreter kamen wiederum zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Kläger um einen Nnischen
Staatsangehörigen handeln könne. Die Ausstellung eines Passersatzes käme jedoch nur bei weiteren Sachbeweisen in Betracht.
Mit weiterer Verfügung vom 18. September 2015 ordnete das Regierungspräsidium Karlsruhe erneut die persönliche Vorsprache
bei einem Vertreter der Botschaft der Bundesrepublik N am 7. Oktober 2015 an. Auch bei dieser Vorsprache behauptete der Kläger,
aus S zu stammen. Von den Botschaftsvertretern wurde mitgeteilt, dass das äußere Erscheinungsbild für einen Nner sprechen
könne, es bestünden jedoch erhebliche Restzweifel. Die Ausstellung eines Passersatzes wurde daher abgelehnt.
Mit Bescheid vom 7. April 2016 (Bl. 1261 d. Verwaltungsakte) bewilligte das Landratsamt dem Kläger für die Zeit ab April 2016
Grundleistungen nach §
3 AsylbLG in Höhe von 629 EUR (notwendiger Bedarf in Höhe von 219 EUR + notwendiger persönlicher Bedarf in Höhe von 135 EUR + Kosten
der Unterkunft in Höhe von 275 EUR). Mit Bescheid vom 3. Mai 2016 (Bl. 1271 d. Verwaltungsakte) bewilligte das Landratsamt
dem Kläger für den Monat Juni 2016 Grundleistungen nach §
3 AsylbLG in Höhe von 629 EUR (notwendiger Bedarf in Höhe von 219 EUR + notwendiger persönlicher Bedarf in Höhe von 135 EUR + Kosten
der Unterkunft in Höhe von 275 EUR) und teilte mit, dass aufgrund einer Nachzahlung der Stadtwerke ein Betrag von 34,44 EUR
einbehalten worden sei.
Mit Schreiben vom 8. Juni 2016 (Bl. 1323 d. Verwaltungsakte) hörte das Landratsamt den Kläger zu einer beabsichtigten Leistungskürzung
nach §
1a AsylbLG an. Der Kläger erhalte Gelegenheit zur Stellungnahme, ob er in Anbetracht der Leistungskürzung gewillt sei, einen Asylantrag
zu stellen. Es werde um Mitteilung bis zum 1. Juli 2016 gebeten, aus welchen Gründen er nicht an der Beschaffung eines Identitätspapieres
mitwirke. Am 13. Juni 2016 sprach der Kläger in Begleitung seiner Lebensgefährtin vor und gab an, er stamme aus S. Sein Elternhaus
sei von Rebellen abgebrannt worden, wobei sämtliche Papiere und Dokumente verbrannt seien. Seine Lebensgefährtin gab zudem
an, dass der Kläger abgeschoben würde, wenn er einen Pass vorlege.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2016 (Bl. 1329 d. Verwaltungsakte) stellte das Landratsamt eine Leistungseinschränkung nach §
1a AsylbLG ab August 2016 fest. Der Kläger habe zwar am 13. Juni 2016 vorgesprochen, aber keinen Nachweis dafür vorgelegt, dass er um
die Beschaffung von Identitätspapieren bemüht sei. Die Leistungen würden daher ab dem 1. August 2016 für sechs Monate gekürzt.
Es werde ab August 2016 zudem die gemeinnützige Tätigkeit während der Leistungseinschränkung untersagt. Ab dem Monat August
2016 werde auf das Konto des Klägers ein Betrag in Höhe von 7,30 EUR überwiesen. Er erhalte pro Monat vier Gutscheine in Höhe
von 40,50 EUR für Lebensmittel, Hygiene- und Körperpflegeartikel. Zudem werde die Miete in Höhe von 275 EUR übernommen. Wenn
der Kläger nachweise, dass er sich ernsthaft um einen Pass bemühe bzw. bei der Nnischen Botschaft vorgesprochen habe, könne
die Leistungseinschränkung zurückgenommen werden.
Mit Bescheid vom 27. Juli 2016 (Bl. 1343 d. Verwaltungsakte) bewilligte das Landratsamt dem Kläger ab August 2016 Leistungen
nach §
1a AsylbLG in Höhe von 315,30 EUR.
Am 5. August 2016 erhob der Kläger Widerspruch (Bl. 1353 d. Verwaltungsakte) gegen den Bescheid vom 4. Juli 2016 und führte
zur Begründung an, er habe alle ihm auferlegten Verpflichtungen zur Mitwirkung an der Passbeschaffung wahrgenommen. Er trage
seit seiner Asylantragstellung im März 2006 gleichbleibend vor, dass er aus S stamme. Allerdings besitze er keine Personalpapiere,
um dies zu beweisen. Wenn der Heimatstaat trotz seiner Angaben nicht bereit sei, Rückreisepapiere auszustellen, so möge dieses
am fehlenden Interesse des Staates liegen, eigene Staatsangehörige zurückzunehmen, soweit dies dem Land keinen wirtschaftlichen
Vorteil vermittele. Aufgrund der von den deutschen Behörden vertretenen Vermutung, er selbst habe bezüglich seiner Person
falsche Angaben gemacht und deshalb die Ausstellung von Rückreisepapieren verhindert, unterliege er seit nunmehr 10 Jahren
einem Arbeitsverbot und erhalte nur gekürzte Leistungen. Diese Dauer sei geeignet, ihn im Kernbereich seiner Menschenwürde
zu treffen.
Mit Schreiben vom 10. August 2016 und 1. Dezember 2016 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger unter Bezugnahme
auf § 3 AufenthG und § 48 AufenthG erneut auf seine Mitwirkungspflichten hin und forderte ihn auf, zur Identitätsklärung im Regierungspräsidium vorzusprechen.
Zu diesen Terminen erschien der Kläger jeweils nicht.
Weitere Vorführungen bei Vertretern der Nnischen Botschaft verliefen ebenfalls erfolglos.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2016 (Bl. 1491 ff. der Verwaltungsakte) wies das Landratsamt den Widerspruch zurück.
Die Voraussetzungen für eine Leistungskürzung gemäß §
1a Abs.
3 AsylbLG lägen bei dem Kläger vor. Er sei zur Ausreise verpflichtet, diese Verpflichtung könne jedoch wegen von ihm zu vertretender
Gründe nicht durchgeführt werden, weil sich der Kläger nicht um ein Ausweispapier bei der Botschaft seines Heimatlandes bemühe.
Am 23. November 2016 hat der Kläger hiergegen Klage bei dem Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und zur Begründung sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Es gebe keine Anweisung der Behörden,
die er nicht befolgt habe. Er sei immer bei der von ihm benannten Identität geblieben. Gegenbeweise gebe es nicht.
Mit Bescheid vom 14. Dezember 2016 (Bl. 1567 d. Verwaltungsakte) hat das Landratsamt Leistungen für den Monat Januar 2017
in Höhe von 335,10 EUR bewilligt. Es werde ab Januar ein monatlicher Stromabschlag in Höhe von 43 EUR an die Stadtwerke überwiesen.
Während des Klageverfahrens hat der Kläger, der unter einem Diabetes mellitus Typ 2 leidet, einen Antrag auf Übernahme der
Kosten für eine Untersuchung des Augenhintergrundes gestellt. Nach Einholung einer Stellungnahme des Gesundheitsamtes hat
das Landratsamt den Antrag mit Bescheid vom 22. Februar 2017 (Bl. 367 d. Verwaltungsakte) abgelehnt. Die Untersuchung sei
nicht unbedingt notwendig und unaufschiebbar, da es sich nur um eine präventive Diagnostik handele. Den hiergegen am 24. März
2017 erhobenen Widerspruch hat das Landratsamt mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2017 (Bl. 1775 d. Verwaltungsakte) zurückgewiesen.
Am 11. Mai 2017 hat der Kläger hiergegen ebenfalls Klage bei dem SG erhoben, welche zunächst unter dem AZ. S 5 AY 1122/17 geführt wurde.
Mit Beschluss vom 28. Juli 2017 hat das SG die Verfahren unter dem Az. S 5 AY 2921/16 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Mit Urteil vom 17. Oktober 2019 hat das SG die Klagen abgewiesen und zur Begründung auf die Widerspruchsbescheide des Landratsamtes Bezug genommen. Ergänzend sei auszuführen,
dass auch gerichtlicherseits nicht davon ausgegangen werde, dass der Kläger tatsächlich Staatsangehöriger von S sei. Seine
Angaben, weder den örtlichen Stammesdialekt oder K zu sprechen, seien insoweit unglaubwürdig, nachdem dies die Frage aufwerfe,
wie sich der Kläger in seiner Kindheit mit seinen Verwandten verständigt habe. Auch die fehlenden Kenntnisse von den örtlichen
Gegebenheiten und den in seinem Heimatland auftretenden Rebellengruppen sprächen ebenso gegen eine Staatsangehörigkeit wie
letztlich auch das Sprachgutachten. Dementsprechend sei es an dem Kläger durch Benennung seiner tatsächlichen Staatsangehörigkeit
eine realistische Chance auf Ausstellung eines Dokumentes zu erlangen. Soweit er dies nicht unternehme, lägen grundsätzlich
die Voraussetzungen einer Leistungseinschränkung vor.
Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 30. Oktober 2019 zugestellte Urteil richtet sich seine am 27. November 2019 bei
dem SG eingelegte Berufung. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem vorangegangenen Verfahren. Er sei
allen Aufforderungen des Regierungspräsidiums Karlsruhe zur Mitwirkung nachgekommen. Für die Frage der Leistungsminderung
könne dies allerdings für den vorliegenden Zeitraum dahingestellt bleiben. Allein der Zeitraum lasse die verhängten Einschränkungen
der Sozialleistungen als unverhältnismäßig und der Menschenwürde nicht entsprechend erscheinen. Entgegen der Entscheidung
des SG sei auch in Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nur darauf abzustellen, dass er - der Kläger - unmittelbar
vor dem streitgegenständlichen Zeitraum noch ungekürzte Leistungen erhalten habe. Es handele sich ersichtlich nicht um eine
isolierte Sanktion. Vielmehr erfolge seit nunmehr vier Jahren eine durchgehende Einschränkung nach §
1a AsylbLG, wobei den jeweiligen Bescheiden kein neuer Sachverhalt zugrunde liege.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger seine Berufung hinsichtlich des Bescheides vom 22. Februar 2017 in der Gestalt
des Widerspruchbescheides vom 19. April 2017 zurückgenommen.
Der Kläger beantragt noch,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. Oktober 2019 aufzuheben und den Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung
des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 7. Oktober 2016 in der Fassung des
Änderungsbescheides vom 14. Dezember 2016 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Es liege einzig und allein am Kläger selbst, durch entsprechende Mitwirkung ein Ausweisdokument zu erhalten. Aufgrund seiner
Verweigerungshaltung - weil ihm dann die umgehende Abschiebung gewiss sei - müsse er die entsprechenden Konsequenzen, hier
eine Leistungseinschränkung nach §
1a Abs.
1 AsylbLG, in eigener Verantwortung tragen. Es sei deshalb auch eine dauerhafte Einschränkung der Leistungen gerechtfertigt, weil anderenfalls
eine Kürzung von vorneherein nicht zielführend sei.
Zur weiteren Darstellung der Sach- und Rechtslage wird auf die beigezogene Akte des Regierungspräsidiums Karlsruhe, die Verwaltungsakten
des Beklagten, die Klageakte des SG und die Berufungsakte des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die gemäß §
143 SGG statthafte und gemäß §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes
750 EUR übersteigt (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG).
2. Die Berufung ist auch begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016
in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 7. Oktober 2016 (vgl. §
95 SGG) in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14. Dezember 2016 mit welchem das Landratsamt dem Kläger für die Zeit vom 1.
August 2016 bis 31. Januar 2017 nur noch eingeschränkte Leistungen nach §
1a Abs.
3 AsylbLG in der Fassung vom 31. Juli 2017 bewilligt hat, nachdem es ihm zuvor mit Bescheid vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides
vom 3. Mai 2016 Leistungen nach §
3 AsylbLG in Höhe von 629 EUR gewährt hatte. Dem Bescheid vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides vom 3. Mai 2016 entnimmt
der Senat dabei eine unbefristete Bewilligung der dort bezifferten Leistungen für die Zeit ab April 2016. Denn ausweislich
des Verfügungssatzes hat das Landratsamt aus Sicht eines objektiven Empfängers eine unbefristete Bewilligung der Leistungen
in festgesetzter Höhe ausgesprochen (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 9. Dezember 2008 - B 8/9b SO 11/07
R - juris Rdnr. 12; Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R - juris Rdnr. 11; Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9b AY 1/06
R - juris Rdnr. 12; Senatsbeschluss vom 1. Juli 2019 - L 7 AY 1783/19 ER-B - juris Rdnr. 2; Landessozialgericht [LSG] Mecklenburg-Vorpommern,
Beschluss vom 21. Juni 2018 - L 9 AY 1/18 B ER - juris Rdnrn. 32 ff.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 11. November 2016 - L
8 AY 28/16 B ER - juris Rdnr. 21). In dem Bescheid vom 7. April 2016 wurde die Leistungshöhe "ab 1. April 2016" und damit
zukunftsoffen neu festgesetzt (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9b AY 1/06 R - juris Rdnr. 12). Richtige Klageart ist daher die isolierte Anfechtungsklage
nach §
54 Abs.
1 Satz 1
SGG, weil der hier streitgegenständliche Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in
der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 7. Oktober 2016 den zuvor ergangenen Bescheid vom 7. April 2016 abgeändert hat.
In diesem Fall bedarf es keiner Leistungsklage, weil mit der Aufhebung des abändernden Bescheides der ursprüngliche Bescheid
seine Wirkung wieder entfalten würde, der Kläger sein Ziel also bereits mit der Anfechtungsklage verwirklichen kann. Streitgegenständlicher
Zeitraum ist dabei die Zeit vom 1. August 2016 bis 31. Januar 2017, nachdem das Landratsamt die Leistungseinschränkung nach
§
1a AsylbLG im Bescheid vom 4. Juli 2016 auf sechs Monate beschränkt hat.
3. Mit dem Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides
vom 7. Oktober 2016 hat das Landratsamt für die streitige Zeit vom 1. August 2016 bis zum 31. Januar 2017 seine insoweit entgegenstehende
Bewilligungsentscheidung vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides vom 3. Mai 2016 nicht nach Maßgabe der §§
9 Abs.
4 AsylbLG, 44 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) korrigiert und die erforderliche kassatorische Entscheidung (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 1. Juli 2019 - L 7 AY 1783/19
ER-B - juris Rdnr. 9 m.w.N.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 19. März 2019 - L 18 AY 12/19 B ER - juris Rdnr. 22; LSG Mecklenburg-Vorpommern,
Beschluss vom 21. Juni 2018 - L 9 AY 1/18 B ER - juris Rdnr. 45; Groth in jurisPK XII, 3. Auflage 2020 [Stand 15. April 2021],
§
11 AsylbLG Rdnr. 93; vgl. ferner BSG, Urteil vom 29. April 2015 - B 14 AS 19/14 R - juris Rdnrn. 15 f. zur Minderung des Arbeitslosengeldes II nach § 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II; Urteil vom 10. Juli 2012 - B 13 R 81/11 R - juris Rdnr. 24) nicht getroffen. Zwar steht die Anspruchseinschränkung nach §
1a AsylbLG nicht im Ermessen des Landratsamtes. Jedoch ist im Hinblick auf die erforderliche Festsetzung des Beginns und der Dauer der
Leistungseinschränkung (§
14 AsylbLG) sowie die gesetzliche Unterscheidung in §
11 Abs.
4 AsylbLG zwischen Aufhebung der Leistungsbewilligung (Nr.
1) und Feststellung der Anspruchseinschränkung i.S.d. §
1a AsylbLG (Nr. 2) eine gesonderte Feststellung der Leistungseinschränkung durch Verwaltungsakt erforderlich (Bayerisches LSG, Beschluss
vom 19. März 2019 - L 18 AY 12/19 B ER - juris Rdnr. 22; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21. Juni 2018 - L 9 AY
1/18 B ER - juris Rdnr. 45; Groth in jurisPK XII, 3. Auflage 2020 [Stand 15. April 2021], §
11 AsylbLG Rdnr. 93). Sind zuvor - wie vorliegend - durch einen Dauerverwaltungsakt ungekürzte Leistungen nach §
3 AsylbLG auch für den "Sanktionszeitraum" bewilligt worden, so muss neben der Feststellung der Anspruchseinschränkung nach §
1a AsylbLG auch die vorangegangene Bewilligungsentscheidung für die Dauer der festgestellten Leistungseinschränkung korrigiert werden.
Das Landratsamt hat mit dem Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt
des Widerspruchbescheides vom 7. Oktober 2016 eine Anspruchseinschränkung nach §
1a Abs.
3 AsylbLG für die Zeit vom 1. August 2016 bis zum 31. Januar 2017 festgestellt. Eine entsprechende Aufhebung der Bewilligung durch
Bescheid vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides vom 3. Mai 2016 hat er nicht verfügt (vgl. BSG, Urteil vom 28. Oktober 2008 - B 8 SO 33/07 R - juris Rdnr. 14). Auch den Begründungen des Bescheides vom 4. Juli 2016 in
der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 7. Oktober 2016 lässt sich
nicht entnehmen, dass das Landratsamt die erforderliche Korrekturentscheidung überhaupt getroffen hat. Es hat darin weder
auf den Bewilligungsbescheid vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides vom 3. Mai 2016 Bezug genommen bzw. diesen überhaupt
erwähnt noch die in Betracht zu ziehenden Korrekturvorschriften der §§ 45, 48 SGB X herangezogen oder gar geprüft. Allein darin, dass die angefochtene Entscheidung des Landratsamtes im Widerspruch zu der vorangegangenen
bestandskräftigen Bewilligung steht, kann auch keine konkludente Aufhebung der vorangegangenen Bewilligung gesehen werden
(Pattar in jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017 [Stand 1. Dezember 2017], § 33 SGB X Rdnr. 21 m.w.N.).
Zudem liegen auch die Voraussetzungen der §§ 45, 48 SGB X nicht vor.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. § 45 SGB X regelt demgegenüber, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt
hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen
der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise zurückgenommen werden darf. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach
§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen
unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig,
wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder
nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Dabei kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung,
Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig
in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte
oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt
in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X). Die Normen (§ 45 SGB X einerseits und § 48 SGB X andererseits) grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Verwaltungsakts
voneinander ab (z.B. BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R - juris Rdnr. 21 m.w.N. auch zum Folgenden). Dabei ist die Verwaltung grundsätzlich verpflichtet, vor Erlass eines Bescheides
die Sachlage vollständig aufzuklären, um die objektiven Verhältnisse festzustellen. Erlässt die Verwaltung einen endgültigen
Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts und stellt sich später heraus, dass der Bescheid bereits
im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben. Dies gilt unabhängig davon, zu welchen Ermittlungen sich die Verwaltung aufgrund der Angaben des Klägers vor Erlass
des Ausgangsverwaltungsakts gedrängt sehen musste.
Nach diesen Maßstäben kommt die Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht in Betracht, weil es an der erforderlichen wesentlichen Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen
fehlt. Wesentlich i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich - zugunsten oder zulasten des Betroffenen - auf den Grund oder die
Höhe der bewilligten Leistung auswirkt (z.B. BSG, Urteil vom 9. August 2001 - B 11 AL 17/01 R - juris Rdnr. 14 m.w.N.). Eine Änderung der Verhältnisse ist nicht eingetreten. Der Kläger hat sich insofern seit seiner
Einreise im Jahr 2003 durchgehend gleich verhalten. Er beharrt darauf, aus S zu stammen, kommt den Aufforderungen des Regierungspräsidiums
zur Identitätsfeststellung nach, entwickelt jedoch selbst keinerlei eigene Initiative bei der Beschaffung von Identitätspapieren.
Entsprechend hat das Landratsamt bereits zuvor über mehrere Jahre Leistungseinschränkungen verfügt. Das fortgesetzte rechtsmissbräuchliche
Verhalten eines Leistungsempfängers nach dem
AsylbLG stellt jedoch keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X dar. Eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse kann auch nicht in dem Erlass des die Anspruchseinschränkung für die Zeit
vom 1. August 2016 bis zum 31. Januar 2017 feststellenden Verwaltungsakts vom 4. Juli 2016 gesehen werden (zweifelnd bereits
Senatsbeschluss vom 1. Juli 2019 - L 7 AY 1783/19 ER-B - juris Rdnr. 11; so auch BSG, Urteil vom 25. Mai 2018 - B 13 R 33/15 R - juris Rdnr. 14; Urteil vom 7. April 2016 - B 5 R 26/15 R - juris Rdnr. 32; Urteil vom 3. Oktober 1989 - 10 RKg 7/89 - juris Rdnr. 12). Denn im Rahmen des § 48 Abs. 1 SGB X kommt es nach geklärter Rechtslage weder auf die im aufzuhebenden Bescheid genannten noch auf die damals von der Behörde
zugrunde gelegten Verhältnisse noch auf die Kenntnis der Behörde von der Änderung der Verhältnisse an, sondern allein auf
die in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse und deren objektive Änderung. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, der von der Änderung der Verhältnisse spricht, die beim Erlass des Verwaltungsakts "vorgelegen haben" (BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 - 9 RVs 2/93 - juris Rdnr. 15). Keinesfalls kann die Behörde durch Verwaltungshandeln selbst bestimmen, ob ein (bestandskräftiger) Verwaltungsakt
unter erschwerten (§ 45 SGB X) oder erleichterten Bedingungen (§ 48 SGB X) beseitigt werden darf.
Die Aufhebungsentscheidung lässt sich auch nicht auf § 45 Abs. 1 SGB X stützen, denn insoweit fehlt es bereits an der nach § 45 Abs. 1 SGB X erforderlichen Ausübung des Rücknahmeermessens (vgl. nur Steinwedel in Kasseler Kommentar, Stand März 2019, § 45 SGB X Rdnrn. 50 ff.).
Der Bescheid vom 4. Juli 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides
vom 7. Oktober 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14. Dezember 2016 ist daher aufzuheben. Der Kläger kann mithin
für die Monate August 2016 bis Januar 2017 aus dem Bewilligungsbescheid vom 7. April 2016 in der Fassung des Bescheides vom
3. Mai 2016 vom Beklagten die begehrte Zahlung von Grundleistungen nach §
3 AsylbLG - unter Anrechnung der bereits ausbezahlten Beträge - verlangen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG. Der Senat hat insoweit nach Streitgegenständen differenziert und berücksichtigt, dass der Kläger zwar hinsichtlich des noch
streitgegenständlichen Anspruchs voll obsiegt hat, die Erfolgsaussichten hinsichtlich des zurückgenommenen Teils jedoch offen
waren.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. §
160 Abs.
2 SGG) nicht vorliegen.