Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II in der sozialen Pflegeversicherung ab einem zurückliegenden
Zeitpunkt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Gründe
I.
Der Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf.) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen
nach der Pflegestufe II ab 1. August 2008.
Der Bf. bezieht seit 1. August 1997 von der Beklagten und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Bg.) Pflegeleistungen nach der
Pflegestufe I. Der Leistungsgewährung lag ein Gutachten der Dr. B. in dem Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht
(Az.: L 2 P 34/07) vom 28. Juli 2008 zugrunde, die den zeitlichen Hilfebedarf in der Grundpflege im Tagesdurchschnitt auf 93 Minuten, für die
hauswirtschaftliche Versorgung auf 60 Minuten einschätzte.
Am 13. März 2012 beantragte der Bf. bei der Bg. Leistungen nach der Pflegestufe II ab 1. August 2008. Aus dem Gutachten der
Dr. B. resultierten die Leistungen nach der Pflegestufe II weiterhin aktuell. Mit Bescheid vom 18. Mai 2012 lehnte die Bg.
die Höherstufung unter Bezugnahme auf das Gutachten der Dr. B. ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24.
Januar 2013 zurück, u.a. da der Bf. einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in der
Häuslichkeit nicht zugestimmt habe.
Hiergegen hat der Bf. am 18. Februar 2013 beim Sozialgericht Landshut Klage erhoben (Az.: ) und beantragt, die Bg. unter Aufhebung
ihres Bescheides vom 18. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2013 zu verurteilen, ihm Leistungen
nach der Pflegestufe II ab 1. Juli 2008 zu gewähren. Er hat u.a. ausgeführt, dass ein Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit
der Maßnahmen über Art und Ausmaß der Erkrankungen, der durchgeführten Untersuchungen, des Krankheitsbildes und der tatsächlichen
Pflegeaufwandes einzuholen sei. Die Klage ist weiterhin anhängig.
Zugleich hat er am 18. Februar 2013 beantragt,
der Bg. durch richterliche Anordnung aufzutragen, die Leistungen nach der Pflegestufe II ab 1. August 2008 zu zahlen. Der
jahrelange Verfahrensmissbrauch müsse beendet werden. Außerdem hat er beantragt, für das Verfahren einen besonderen Vertreter
zur Wahrnehmung der Rechte des Behinderten nach §
72 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zu bestellen.
Die Bg. hat beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Es sei weder ein Anordnungsanspruch noch ein -grund gegeben.
Sie hat zum einen auf das Gutachten der Dr. B. verwiesen; einer Begutachtung durch den MDK habe der Bf. nicht zugestimmt,
sondern nur die gerichtliche Sachverständige Dr. B. akzeptiert. Zum anderen liege es im Einflussbereich des Bf., die begehrte
Leistung zu erhalten. Voraussetzung sei eine Begutachtung durch den MDK. Auch sei es dem Bf. nicht unzumutbar, den Ausgang
des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 12. März 2013 abgelehnt. Der Bf.
habe keinen Anordnungsanspruch im Sinne des §
86 b Abs.
2 S. 4
SGG glaubhaft gemacht. Die Sachverständige Dr. B. habe einen täglichen Grundpflegebedarf von 93 Minuten festgestellt gehabt.
Der Bf. habe nichts glaubhaft dafür vorgetragen, dass sich sein Grundpflegebedarf mittlerweile auf 120 Minuten erhöht habe.
Im Übrigen hat das Sozialgericht auf die Ausführungen der Bg. im Widerspruchsbescheid zum Fehlen der erforderlichen Voraussetzungen
für eine Pflegestufe II sowie auf deren Schriftsatz vom 1. März 2013 zu den fehlenden Voraussetzungen für einen glaubhaft
gemachten Anordnungsgrund verwiesen.
Zur Begründung der hiergegen gerichteten Beschwerde hat der Bf. die Einholung eines Gutachtens durch die gerichtliche Sachverständige
Dr. B. sowie die Gewährung der Pflegestufe II bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren beantragt. Der Pflegebedarf sei
unstreitig. Eine Begutachtung durch den MDK werde durch den Hausarzt Dr. A. abgelehnt, weil dem MDK die gutachterliche Kompetenz
und Qualifikation fehle. Es bestehe unstreitig die Gefahr, dass der Pflegezustand erschwert werde, wenn die Leistung der Pflegestufe
II nicht vorläufig gewährt werde. Zeitlich sei eine Pflegevernachlässigung eingetreten.
Ferner hat er erneut wegen Partei- und Prozessunfähigkeit die Bestellung eines besonderen Vertreters nach §
72 Abs.
1 SGG sowie die Erteilung urkundlicher Ausfertigungen aus den Verwaltungsakten durch die Pflegeversicherung beantragt.
Der Senat hat mit Schreiben vom 26. März 2013 darauf hingewiesen, dass die Einholung von Gutachten grundsätzlich dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten ist. Akteneinsicht könne beim Gericht beantragt werden.
Der Bf. hat ergänzend auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass die Partei- und Prozessunfähigkeit gerichtskundig in der Betreuungssache
des Amtsgerichts B-Stadt (Az.: XVII 0573/06) durch ein Gutachten des Landgerichtsarztes Dr. K. vom 19. Juni 2008 sei. Das
B. hat mit Schreiben vom 24. April 2013 mitgeteilt, dass die Betreuung mit Beschluss vom 19. März 2009 aufgehoben worden sei.
Eine neue Betreuung sei nicht mehr errichtet worden.
Die Bg. hat mit Schriftsatz vom 26. März 2013 beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§
172 ff
SGG zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.
Ein besonderer Vertreter nach §
72 Abs.
1 SGG, wie vom Bf. beantragt, war für das Beschwerdeverfahren nicht zu bestellen. Für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne
gesetzlichen Vertreter kann der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen
besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Eine Bestellung ist auch möglich,
wenn sich die Prozessfähigkeit bei Zweifeln trotz Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten nicht klären lässt und ein Beteiligter
deshalb als prozessunfähig zu behandeln ist (siehe hierzu: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl., §
72 Rdnr. 2 m.w.N.).
Nach Aktenlage und aufgrund der tatsächlichen Führung des Rechtsstreits durch den Bf. hat der Senat keine Anhaltspunkte für
das Vorliegen von Prozessunfähigkeit. Der Senat schließt sich insoweit auch der Einschätzung (Az.: L 5 KR 174/10 B ER, Beschluss vom 27. Oktober 2010) an. Auch aus dem Gutachten der Dr. B. und der dortigen Diagnosen ergeben sich keine
Zweifel an der Prozessfähigkeit. Nach Auskunft des Amtsgerichts B-Stadt wurde ferner eine bestehende Betreuung mit Beschluss
vom 19. März 2009 aufgehoben. Eine neue Betreuung wurde seitdem nicht errichtet.
Gemäß §
86 b Abs.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers
abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer.
Landessozialgericht, Az.: L 2 B 354/01 U ER).
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht worden sind (§
86 b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §§
290 Abs.
2,
294 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen
Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs
ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr
zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich,
so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter-
und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).
Vorliegend fehlt es nach Ansicht des Senats an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs.
Pflegebedürftige können nach §
37 Abs.
1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§
19 S. 1
SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I
vorliegt.
Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des
Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die
in §
14 Abs.
4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie
den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der
Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen
und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).
Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen
Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach §
15 Abs.
3 S. 1 Nr.
2 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen, hierbei müssen auf die Grundpflege
mindestens zwei Stunden entfallen. Bislang ist nicht ersichtlich, dass der Grundpflegebedarf für die Bereiche Körperpflege,
Ernährung und Mobilität auf 120 Minuten gestiegen ist. Der Bf. bezieht Pflegeleistungen nach der Pflegestufe I. Dem lag das
Gutachten der Dr. B. vom 28. Juli 2008 zugrunde, die den Hilfebedarf auf 93 Minuten (gegenüber 80 Minuten im Jahre 1996) schätzte.
Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Bf. nicht glaubhaft vorgetragen und objektiviert hat, dass sich sein
Grundpflegebedarf mittlerweile auf 120 Minuten erhöht hat.
Der Antrag des Bf. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, insbesondere durch Dr. B., könnte aufgrund des Zwecks des
Verfahrens nach §
86 b SGG, eine zügige, vorläufige Regelung zu erzielen, nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Der Antrag des Bf. bezieht sich dabei
jedoch auf Leistungen rückwirkend ab 1. August 2008. Insoweit liegt jedoch, wie dargelegt, ein zeitnahes Gutachten der Dr.
B. vom Juli 2008 vor, nach dem mit den von dieser festgestelltem zeitlichen Hilfebedarf in der Grundpflege von 93 Minuten
die Voraussetzungen des Vorliegens der Pflegestufe II nach §
15 Abs.
3 S. 1 Nr.
2 SGB XI noch deutlich unterschritten war. Ob gegenwärtig die Voraussetzungen der Pflegestufe II gegeben sind, wird das Sozialgericht
im Hauptsacheverfahren zu prüfen haben. Allerdings war auch die Bg. hierfür offen, indem sie im Vorverfahren eine Begutachtung
durch den MDK nach Hausbesuch angeboten hat. Dies hat der Bf. abgelehnt. Dabei stellt der MDK eine rechtlich verselbstständige
Körperschaft des öffentlichen Rechts dar; die Ärzte des MDK sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem
ärztlichen Gewissen unterworfen (§
275 Abs.
5 S. 1 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch -
SGB V). Die als Gutachter eingesetzten Ärzte wie die Pflegefachkräfte des MDK werden umfassend geschult, so dass der Einwand des
Bf., diesen fehle die gutachterliche Kompetenz und Qualifikation, nicht haltbar ist. Die durch die Weigerung einer Begutachtung
durch den MDK entstandene Verzögerung ist somit dem Bf. anzulasten. Im Rahmen einer gebotenen umfassenden Abwägung ist daher
maßgeblich zu berücksichtigen, dass zwar zum einen ein weiterer Anstieg des zeitlichen Hilfebedarfs auf gegenwärtig mindestens
120 Minuten täglich in der Grundpflege denkbar ist, zum anderen aber keine medizinische Belege für einen relevanten Anstieg
der Pflegebedürftigkeit in den Bereichen der Grundpflege seit Juli 2008 vorliegen sowie der Bf. einer Begutachtung durch den
MDK im Verwaltungs- bzw. Vorverfahren nicht zustimmte.
Darüber hinaus liegt, jedenfalls soweit sich der Antrag auf die Vergangenheit bezieht, kein Anordnungsgrund vor. Der Bf. führt
hierzu eine Pflegevernachlässigung an. Diese könnte auch durch eine vorläufige Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe
II mit einem Beschluss des Senats nicht nachträglich behoben werden. Für die Zukunft kann der Senat das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
offen lassen, da es insoweit bereits an einem Anordnungsanspruch fehlt. Auf die obigen Ausführungen wird hierzu verwiesen.
Soweit der Bf. die Erteilung urkundlicher Ausfertigungen aus der Akte der Bg. begehrt, hat der Senat dem durch den Hinweis,
Akteneinsicht beim Gericht zu beantragen, Rechnung getragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.