Berücksichtigung von Provisionen bei der Elterngeldberechnung
Beurteilung allein nach dem Lohnsteuerrecht
Kein elterngeldrechtlicher Abgleich
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft das Begehren der Klägerin, für Betreuung und Erziehung ihrer Tochter höheres Elterngeld nach dem
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) zu erhalten.
Die 1982 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie ist Mutter des am 20.09.2016 geborenen Kindes I. A ... Mit I.s
Vater lebte sie im Elterngeld-Bezugszeitraum unverheiratet in einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Neben I. gehörte dem Haushalt
der Eltern damals kein weiteres Kind an.
Vor I.s Geburt ging die Klägerin, die Steuerfachwirtin ist, mehreren beruflichen Tätigkeiten nach. Hauptsächlich arbeitete
sie in einer Vollzeitbeschäftigung bei der P. Steuerberatungsgesellschaft mbH, A-Stadt, (im Folgenden: P.). Zudem ging sie
zwei geringfügigen Beschäftigungen nach, zum einen als Bürokraft (Wochenarbeitszeit 8,5 Stunden) für den Arbeitgeber D. A.,
zum anderen bei der Firma G. GmbH. Zudem betrieb die Klägerin ein selbständiges Gewerbe in Form eines Buchhaltungsbüros.
Für die Tätigkeit bei der P. wurde nie ein schriftlicher Arbeitsvertrag geschlossen. Das Arbeitsverhältnis hatte seit dem
16.07.2001 bestanden. Von Beginn an erhielt die Klägerin eine monatliche Provision. Diese wurde in den letzten Jahren bis
zum Beginn des Mutterschutzes anteilig auf Abruf ausbezahlt. Trotz der sehr konstanten und stets gerundeten Auszahlungen handelte
es sich bei den Provisionen tatsächlich um variable Entgeltbestandteile. Diese bildeten die der Klägerin jeweils zuzuordnenden
Umsätze ab. Die Konstanz in der Entgelthöhe basierte einerseits darauf, dass die Klägerin einen gleichbleibenden Kundenstamm
hatte, weswegen relativ konstante Umsätze anfielen. Andererseits bestand bei der P. die Besonderheit, dass die Bediensteten
sich einen monatlichen Provisionsbetrag aussuchen durften. Diese Festlegung konnte jedoch nicht willkürlich erfolgen; vielmehr
bedurfte es einer Orientierung an den tatsächlichen Umsätzen des jeweiligen Mitarbeiters. Die monatlichen Zahlungen sollten
die über Monate und Jahre hinweg konkret entstehenden Provisionsansprüche authentisch als Durchschnittswert abbilden. Die
tatsächlichen Provisionsansprüche wurden zwar von der P. aufgezeichnet, eine vierteljährliche, jährliche oder überhaupt eine
Abrechnung der Provisionszahlungen im Hinblick auf die tatsächlichen Umsätze erfolgte aber nicht. Ein Plus oder Minus wurde
lediglich fortgeschrieben.
Am 06.03.2016 reichte die Klägerin ihre Einkommensteuererklärung 2015 bei der Finanzverwaltung ein. Der Einkommensteuerbescheid
2015 wurde ihr am 04.04.2016 bekanntgegeben.
Die Mutterschutzfrist der Klägerin begann am 05.08.2016 und endete am 15.11.2016. In dieser Zeit erhielt sie Mutterschaftsgeld
sowie den Arbeitgeberzuschuss nach §
14 des
Mutterschutzgesetzes.
Die Klägerin beantragte am 27.09.2016 Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat von I ... Im Zuge dessen legte sie
einen Einkommensteuerbescheid für 2015 vor, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 372 EUR und einen Bruttoarbeitslohn
(vor Abzug der Werbungskosten) von 35.366 EUR auswies. Zudem reichte sie folgende Gehaltsabrechnungen der P. mit folgenden
Angaben ein:
* Januar 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P),
* Februar 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P),
* März 2015: Gehalt 2.260,00 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25 EUR
(P),
* April 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25 EUR
(P),
* Mai 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25 EUR
(P),
* Juni 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 500,00; Urlaubsgeld 1.130,00 EUR; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten
Wohnung/Arbeit 11,25 EUR (P),
* Juli 2015: Gehalt 2.205,28 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25 EUR
(P),
* August 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P),
* September 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P),
* Oktober 2015: Gehalt 2.218,96 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P),
* November 2015: Gehalt 2.260,00 EUR; Provision (EBZ) 600,00; Weihnachtsgeld 1.130,00 EUR; AG-Direktversicherung 40,00 EUR;
Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25 EUR (P),
* Dezember 2015: Gehalt 2.260,00 EUR; Provision (EBZ) 600,00; AG-Direktversicherung 40,00 EUR; Fahrten Wohnung/Arbeit 11,25
EUR (P).In jedem der zwölf Monate hatte die P. bei der Ermittlung des Auszahlbetrags 130,00 EUR aufgrund einer Entgeltumwandlung
zugunsten einer Altersversorgung abgezogen. Sämtliche Gehaltsabrechnungen mit Ausnahme der für Juni und November 2015 wiesen
in einem gesonderten Feld die Höhe der sonstigen Bezüge ohne nähere Bezeichnung mit 600 EUR aus; in der Juniabrechnung waren
es 1.630 EUR, in der Novemberabrechnung 1.730 EUR.
Bezüglich der Nebenbeschäftigungen legte die Klägerin Entgeltabrechnungen der Firma G. GmbH vor. Es handelt sich um folgende
Belege:
* Juli 2015: Stundenlohn Netto 138,26 EUR,
* August 2015: Stundenlohn Netto 265,27 EUR,
* September 2015: 0,00 EUR,
* Oktober 2015: Stundenlohn Netto 155,61 EUR,
* November 2015: Stundenlohn Netto 167,15 EUR,
* Dezember 2015: Stundenlohn Netto 103,77 EUR.Weiter übersandte sie einen Ausdruck ihres beim Arbeitgeber D. A. für den Zeitraum
Januar bis Dezember 2015 geführten Lohnkontos. Darin wurde das monatliche Bruttogehalt der Klägerin durchgängig mit 450 EUR
angegeben.
Schließlich reichte die Klägerin eine Gewinnermittlung nach §
4 Abs.
3 des
Einkommensteuergesetzes (
EStG) für ihre gewerbliche Tätigkeit im Zeitraum 01.01.2015 bis 31.12.2015 ein. Bei Betriebseinnahmen von 701,22 EUR und Betriebsausgaben
von 329,12 EUR ergab sich ein Gewinn von 372,10 EUR. Sie meldete die gewerbliche Tätigkeit zum 30.06.2016 gewerberechtlich
ab.
Mit Bescheid vom 03.11.2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin Elterngeld für I.s Lebensmonate eins bis zwölf (20.09.2016
bis 19.09.2017); die Entscheidung erging unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Die monatlichen Leistungen betrugen im ersten
Lebensmonat null, im zweiten 155,84 EUR und in den übrigen jeweils 1.207,77 EUR. Als Bemessungszeitraum zog der Beklagte wegen
der selbständigen Tätigkeit das Kalenderjahr 2015 heran. Laut der Anlage zum Bewilligungsbescheid berücksichtigte er die Nebeneinkünfte
bei D. A. (monatlich 450 EUR) und bei der G. GmbH in vollem Umfang. Aus den Gehaltsabrechnungen der P. zog er jeweils die
Position "Gehalt" heran und subtrahierte davon durchweg 130,00 EUR, die auf die Entgeltumwandlung fielen. Auch berücksichtigte
er stets die pauschal versteuerten Einnahmen in Höhe von monatlich 11,25 EUR. Nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrags von
83,33 EUR pro Monat ergab sich für das Einkommen aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit eine Summe von 30.542,06 EUR. Nach
Einbeziehung von 372 EUR als Gewinn aus Gewerbebetrieb errechnete der Beklagte ein monatliches Elterngeld-Brutto von 2.576,17
EUR, woraus wiederum ein Elterngeld-Netto von monatlich 1.858,10 EUR resultierte. Der Beklagte wandte einen Leistungssatz
von 65% an.
Gegen die Bewilligung legte die Klägerin am 05.12.2016 Widerspruch ein. Sie verlangte, bei der Berechnung des Elterngelds
die monatlich gezahlten Provisionen in Höhe von 600 EUR zu berücksichtigen. Diese Zahlungen, so die Klägerin, seien bereits
von Beginn des Arbeitsverhältnisses an erfolgt. Die Tatsache, dass die Arbeitgeberin der Klägerin die seit Beginn des Beschäftigungsverhältnisses
gezahlten Provisionen als sonstigen Bezug behandelt habe, sei nicht einzig Ausschlag gebend dafür, ob es sich tatsächlich
um sonstige Bezüge im Sinn der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) handle. Die Richtigkeit der Angaben in den Lohn- und Gehaltsbescheinigungen würde lediglich widerleglich vermutet. Das Bundessozialgericht
(BSG) habe ausgeführt, der Umstand allein, dass der Arbeitgeber irrtümlich bestimmte Einnahmen (Provisionen) im Lohnsteuerabzugsverfahren
faktisch als sonstige Bezüge behandelt habe, rechtfertige es nicht, diese bei der Berechnung des Elterngelds unberücksichtigt
zu lassen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.12.2016 als unbegründet zurück.
Am 12.01.2017 hat die Klägerin beim Sozialgericht Landshut Klage erhoben. Dieses hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.07.2018
abgewiesen. In der Begründung hat es dargelegt, als Maßstab für die Bestimmung der Berechnungsgrundlage des Elterngelds sei
allein das Steuerrecht zugrunde zu legen, das im Elterngeldverfahren nicht mehr eigenständig anzuwenden sei, wenn die Lohnsteuer-Anmeldung
bestandskräftig geworden sei. Nach dem BSG-Urteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R müssten die Beteiligten des Elterngeldverfahrens den Inhalt einer bestandskräftigen Lohnsteuer-Anmeldung kraft der gesetzlichen
Rechtsfolgeverweisung des § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG als feststehend hinnehmen. Der Inhalt erwachse in Bestandskraft, wenn weder der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber noch das Finanzamt
die von der
Abgabenordnung (
AO) eröffneten Rechtsbehelfe oder andere Korrekturmöglichkeiten nutzten. Das BSG bringe dadurch zum Ausdruck, dass durch die Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung eine möglicherweise falsche Behandlung
durch den Arbeitgeber "geheilt" werde. Die Provisionen seien zwar im Hinblick auf ihre Frequenz und Häufigkeit im monatlichen
Lohnzahlungszeitraum ausgezahlt worden und möglicherweise materiell-steuerrechtlich als laufender Arbeitslohn einzuordnen.
Nach den vorliegenden Lohn- und Gehaltsabrechnungen aus dem Kalenderjahr 2015 seien sie jedoch steuerrechtlich als sonstige
Bezüge behandelt worden. Da keine Hinweise für eine Beanstandung der Lohnsteuer-Anmeldungen vorlägen, sei bezüglich dieser
Zuordnung Bindungswirkung anzunehmen.
Am 10.08.2018 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie trägt vor, nach der neuen BSG-Rechtsprechung seien nur solche Leistungen sonstige Bezüge, die abweichend vom monatlichen Lohnzahlungszeitraum abgerechnet
und bezahlt würden; darunter würden die Provisionen nicht fallen. Sie seien ebenso berechenbar wie das Bruttoeinkommen selbst.
Die Einkommensbezieher könnten sich darauf verlassen, dass die Provisionen monatlich als zusätzliche Leistungen gezahlt würden.
Das BSG habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es auf die zutreffende Einstufung als sonstige Bezüge ankomme. Weiter habe es
klargestellt, dass keine Benachteiligung beim Elterngeldbezug stattfinden dürfe. Sie, die Klägerin, habe nicht wissen können,
dass sie sich gegen die lohnsteuerrechtliche Praxis der P. hätte wehren müssen. Die Gesetzesänderung zum 01.01.2015 sei lange
nach Abschluss des Arbeitsvertrags der Klägerin erfolgt und die Rechtsprechungsänderung durch das BSG später als die Geburt des Kindes.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 06.07.2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids
vom 03.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2016 zu verurteilen, bei der Berechnung des Elterngelds
für das Kind I. ihre im Zeitraum Januar bis Dezember 2015 verdienten Provisionen bei der Festlegung des Ausgangswerts zur
Berechnung des Elterngeld-Netto zu berücksichtigen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den Gerichtsbescheid für zutreffend und beruft sich auf die Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung
gemäß den BSG-Urteilen vom 14.12.2017.
Der Senatsvorsitzende hat am 15.02.2018 mit dem Chef der Klägerin, Steuerberater K. O., wegen der Motive der P. für Einstufung
der Provisionen als sonstige Bezüge telefoniert. Dabei hat Herr O. mitgeteilt, er habe die Einstufung als sonstige Bezüge
von seinem Vorgänger übernommen. Wahrscheinlich sei dieser so vorgegangen, weil es sich seit jeher um variable Entgeltbestandteile
handle. Die lohnsteuerliche Behandlung sei ohnehin nicht wirklich von Bedeutung, weil jeder der Arbeitnehmer zeitnah zur Einkommensteuer
veranlagt werde. Bei einer sozialversicherungsrechtlichen Prüfung sei die Versteuerung einmal Thema gewesen, bei einer steuerrechtlichen
Außenprüfung dagegen nie. Das Finanzamt habe in Bezug auf seinen Betrieb nichts unternommen, um eine zutreffende lohnsteuerrechtliche
Behandlung sicherzustellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.
Die Akten haben vorgelegen, sind als Streitstoff in das Verfahren eingeführt worden und Gegenstand der Entscheidungsfindung
gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin hat vollen Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Gegenstand der Anfechtungsklage - insgesamt liegt eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage vor - ist der Bewilligungsbescheid
vom 03.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2016. Da die Bewilligung endgültig und nicht nur vorläufig
ausgesprochen worden war, kam es nicht zum Erlass eines Zweitbescheids. Von dem im Bewilligungsbescheid enthaltenen Vorbehalt
des Widerrufs hat der Beklagte keinen Gebrauch gemacht. Bei dem hier vorliegenden Höhenstreit ist der Streitgegenstand grundsätzlich
nicht auf ein einzelnes Berechnungselement beschränkt. Vielmehr prüft der Senat innerhalb der Grenzen des klägerischen Antrags
unter allen tatsächlichen und rechtlichen Facetten, ob der Klägerin höhere Leistungen zustehen. Andererseits berücksichtigt
er auch solche Aspekte, die das von der Klägerin begehrte Optimum auf anderem Weg wieder reduzieren. Dabei wird der Streitgegenstand
quantitativ durch die begehrten monetären Mehrleistungen definiert, nicht dagegen durch Sachverhaltselemente, welche höhere
Leistungen begründen könnten. Das Klagebegehren ist dahin auszulegen, dass die Klägerin Mehrleistungen in der Höhe zuerkannt
haben möchte, wie sie sich bei Berücksichtigung der besagten Provisionszahlungen ergeben. Damit dringt sie in vollem Umfang
durch.
Die Voraussetzungen für die Entstehung eines Anspruchs dem Grunde nach liegen unzweifelhaft vor (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BEEG in der ab 01.01.2015 geltenden Fassung). Die Klägerin hatte während des gesamten Bezugszeitraums ihren Wohnsitz und gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland, lebte mit I. in einem Haushalt, betreute und erzog sie selbst und übte während des Bezugszeitraums
keine Erwerbstätigkeit aus. Der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 8 BEEG ist nicht erfüllt, weil das zu versteuernde Einkommen beider Elternteile zusammen im letzten abgeschlossenen Veranlagungszeitraum
vor der Geburt unter 500.000 EUR blieb. Ein ordnungsgemäßer Antrag lag vor.
Die Höhe des Elterngelds hat der Beklagte zu niedrig festgesetzt. In der Tat hätte er, wie es die Klägerin wünscht, die im
Bemessungszeitraum erhaltenen Provisionen als Bemessungsentgelt für das Elterngeld berücksichtigen müssen.
Die Höhe des Elterngelds ist nach Maßgabe von § 2 Abs. 1 BEEG einkommensabhängig:
1 Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des Einkommens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes gewährt.
2 ...
3 Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit errechnet sich nach Maßgabe der §§ 2c bis 2f aus der um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben
verminderten Summe der positiven Einkünfte aus
2. Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit nach §
2 Absatz
1 Satz 1 Nummer
1 bis
3 des
Einkommensteuergesetzes,
die im Inland zu versteuern sind und die die berechtigte Person durchschnittlich monatlich im Bemessungszeitraum nach § 2b
... hat.
Dass es sich auch bei den monatlichen Provisionen um Arbeitslohn im Sinn von § 2 Abs. 1 Satz 1 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung und damit um Einkünfte nach §
19 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 EStG handelt (vgl. zur Abgrenzung Bundesfinanzhof (BFH), Urteil vom 15.05.1992 - VI R 106/88, Rn. 15 f. des juris-Dokuments), bedarf keiner Erörterung. Der Beklagte hat mit dem Kalenderjahr 2015 den zutreffenden Bemessungszeitraum
sowohl für das Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit (§ 2b Abs. 2 BEEG) als auch aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit (§ 2b Abs. 3 BEEG) herangezogen. Tatbestände nach § 2b Abs. 1 Satz 2 BEEG, die eine Verlagerung des Bemessungszeitraums gemäß § 2b Abs. 2 Satz 2 beziehungsweise § 2b Abs. 3 Satz 2 BEEG hätten bewirken können, lagen nicht vor; unabhängig davon fehlte dafür auch ein Antrag.
Trotzdem hat der Beklagte das Einkommen aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit nicht richtig errechnet. Er hätte die monatlichen
Provisionszahlungen nicht als sonstige Bezüge bei der Bemessung des Elterngelds außer Betracht lassen dürfen. Denn diese sind
nicht sonstige Bezüge im Sinn von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG. § 2c Abs. 1, 2 BEEG lautet wie folgt:(1) 1Der monatlich durchschnittlich zu berücksichtigende Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger
Arbeit in Geld oder Geldeswert über ein Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrags, vermindert um die Abzüge für Steuern und
Sozialabgaben nach den §§ 2e und 2f, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt
werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind.
3Maßgeblich ist der Arbeitnehmer-Pauschbetrag nach §
9a Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a des
Einkommensteuergesetzes in der am 1. Januar des Kalenderjahres vor der Geburt des Kindes für dieses Jahr geltenden Fassung.(2) 1Grundlage der Ermittlung
der Einnahmen sind die Angaben in den für die maßgeblichen Monate erstellten Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers.
2Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben in den maßgeblichen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen wird vermutet.
Zu der im Rahmen von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG vorzunehmenden Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen hat das BSG in den beiden Urteilen vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R und B 10 EG 7/17 R seine bisherige Rechtsprechung grundlegend geändert. Dies hat es damit gerechtfertigt, seit 01.01.2015 sei die Gesetzeslage
eine andere. Indes lassen sich nicht sämtliche Neuerungen, die das BSG in den beiden Urteilen eingeführt hat, auf die Änderung des Gesetzes stützen.
Jedenfalls schließt sich der Senat der neuen Rechtsprechung des BSG vollumfänglich darin an, dass für die Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn zu sonstigen Bezügen allein das Lohnsteuerrecht
maßgebend sein muss. Angesichts der Änderung des Gesetzes zum 01.01.2015 darf kein wie auch immer gearteter elterngeldrechtlicher
Abgleich im Hinblick auf die Angemessenheit des am Maßstab des Lohnsteuerrechts gewonnenen Ergebnisses erfolgen. Einen solchen
Abgleich sah die alte BSG-Rechtsprechung vor und genau das wollte der Gesetzgeber mit der neuen Fassung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG unterbinden. Die frühere BSG-Rechtsprechung, maßgeblich geprägt durch die Urteile vom 26.03.2014, zeichnete sich durch das Bemühen aus, in hohem Maß Einzelfallgerechtigkeit
herzustellen. Das war aber nicht nur verfassungsrechtlich nicht geboten - die gesetzliche Typisierung unter Rekurs auf lohnsteuerrechtliche
Kategorien ist keineswegs zu grob und erzeugt auch keine unbilligen Härten -, sondern hat dem Rechtsfindungsprozess auch ein
Stück weit die Objektivierbarkeit genommen. Nicht zuletzt wären die Elterngeldbehörden, müssten sie die Einzelfallgerechtigkeit
akzentuieren, nicht mehr in der Lage, die Massenverwaltung angemessen zu bewältigen.
Des Weiteren folgt der Senat der neuen BSG-Rechtsprechung im Hinblick auf die materiell-rechtliche Abgrenzung der sonstigen Bezüge zum laufenden Arbeitslohn. Das BSG hat in den Urteilen vom 14.12.2017 eine abstrakte, allgemeingültige Richtschnur zur Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn
und sonstigen Bezügen herausgearbeitet, die es so nicht einmal in der Finanzgerichtsbarkeit gibt. Vereinfacht hat das BSG darauf abgestellt, ob Arbeitsentgelt im regulären Lohnzahlungszeitraum gezahlt wird oder nicht. Im ersten Fall soll es sich
grundsätzlich um laufenden Arbeitslohn handeln, im zweiten Fall um sonstige Bezüge (vgl. dazu genauer Senatsurteile vom 08.03.2018
- L 9 EG 66/15, vom 31.07.2018 - L 9 EG 19/16, vom 11.09.2018 - L 9 EG 16/16, vom 23.10.2018 - L 9 EG 28/18 und vom 04.12.2018 - L 9 EG 36/17).
Das BSG hatte sich dabei augenscheinlich vorgenommen, das Lohnsteuerrecht authentisch auszulegen. Ob dies wirklich gelungen ist,
mag diskutabel sein. Denn das BSG hat sich bei seiner Abgrenzung auf eine einzige Kommentarstelle von Stache (in: Bordewin/Brandt,
EStG, §
38a Rn. 33 (Stand August 2017)) gestützt, welche zwar gut durchdacht wirkt, aber letztlich keine Nachweise für die vertretene
Meinung aufführt. Und wenn man unterstellt, dass gerade die LStR die herrschende Meinung zur Interpretation des formalgesetzlichen Lohnsteuerrechts abbilden, würde das BSG nicht voll diese herrschende Meinung treffen. Nach R 39b.2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 10 LStR 2018 gehören zu den sonstigen Bezügen nämlich unter anderem Zahlungen innerhalb eines Kalenderjahrs als viertel- oder halbjährliche
Teilbeträge. Sollte die herrschende Meinung im Lohnsteuerrecht im Gegenschluss davon ausgehen, häufigere als vierteljährliche
Teilbeträge gehörten sehr wohl zum laufenden Arbeitslohn, ließe sich die Lösung des BSG damit nicht vereinbaren. Trotzdem übernimmt der Senat die BSG-Rechtsprechung zur materiell-rechtlichen Abgrenzung ohne Abstriche. Diese erweist sich als sach- und praxisgerecht.
Die vom BSG herausgearbeiteten materiell-rechtlichen Kriterien für die Zuordnung zum laufenden Arbeitslohn erfüllte die Klägerin mit
ihren Provisionen zweifellos. Das hat auch das Sozialgericht eingeräumt. Die Provisionen wurden im Bemessungszeitraum allmonatlich
zusammen mit dem Fixgehalt ausgezahlt. Außerdem erfolgten die Zahlungen stets für der Klägerin zuzuordnende Vertriebsergebnisse
in bestimmten aufeinanderfolgenden Zeiträumen, nämlich den Kalendermonaten.
Als Zwischenergebnis stellt der Senat fest, dass die P. die Provisionen in den Verdienstbescheinigungen materiell-lohnsteuerrechtlich
zu Unrecht als sonstige Bezüge deklarierte. Es handelt sich vielmehr um laufenden Arbeitslohn. Das hat der Beklagte im Rahmen
von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG auch zu beachten. Er darf nicht unter Rekurs auf die Vollständigkeits- und Richtigkeitsvermutung der Verdienstbescheinigungen
(§ 2c Abs. 2 Satz 2 BEEG) gleichwohl von sonstigen Bezüge ausgehen. Die PGR hielt in zehn der für den Bemessungszeitraum ausgestellten Verdienstbescheinigungen
jeweils in einem abschließenden Feld fest, das Arbeitsentgelt umfasse sonstige Bezüge in Höhe von 600 EUR. Für den Monat Juni
2015 wies dieses Feld dagegen 1.630 EUR als sonstige Bezüge aus, für den Monat November 2015 1.730 EUR. Zwar wurde in keiner
der Verdienstbescheinigungen den Provisionen unmittelbar die Kennzeichnung als sonstige Bezüge beigegeben, es bestehen aber
keine Zweifel, dass es sich bei den genannten sonstigen Bezügen just um die Provisionen handelte beziehungsweise diese mitumfasst
waren. Der Beklagte darf diese falsche Deklaration nicht ohne materielle Prüfung übernehmen, weil die Vollständigkeits- und
Richtigkeitsvermutung in Bezug auf die Verdienstbescheinigungen jedenfalls widerlegt ist.
Der Senat hat wiederholt Zweifel geäußert, ob sich die Vollständigkeits- und Richtigkeitsvermutung überhaupt auf die lohnsteuerrechtliche
Einstufung durch den Arbeitgeber beziehen kann (vgl. Urteile vom 16.01.2018 - L 9 EG 68/15 (Revision beim BSG anhängig) sowie vom 04.12.2018 - L 9 EG 36/17). Denn es erscheint fraglich, ob rechtliche Bewertungen, wie hier die lohnsteuerrechtliche Klassifizierung, überhaupt von
der Vermutungswirkung erfasst werden. Das BSG hat in den Urteilen vom 14.12.2017 (Rn. 37 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 38 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) die Zweifel des Senats bestätigt. Es hat nämlich unterstrichen, die Verdienstbescheinigungen seien bloße Wissenserklärungen.
Lediglich ihre tatsächliche Richtigkeit und Vollständigkeit werde vermutet. Konsequent liest das BSG aus der Deklaration eines Entgeltbestandteils als sonstigen Bezug nur die Erklärung des Arbeitgebers heraus, dieser habe
bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge angemeldet. Daher verbietet es sich, dieser Deklaration eine das materielle
Recht verdrängende rechtliche Gestaltungs- oder Fiktionswirkung beizumessen.
Aber auch wenn man die Vollständigkeits- und Richtigkeitsvermutung des § 2c Abs. 2 Satz 2 BEEG auf die rechtliche Klassifizierung erstrecken würde, ergäbe sich nichts Anderes. Denn die Vermutung ist im vorliegenden Fall
widerlegt. Auch das BSG bestreitet nicht, dass den Verdienstbescheinigungen nur eine widerlegbare Vermutung ihrer Vollständigkeit und Richtigkeit
zukommt. An die Widerlegung der Vermutung dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (vgl. Senatsurteile vom 16.01.2018
- L 9 EG 68/15 (Revision beim BSG anhängig) und vom 23.10.2018 - L 9 EG 28/18). Bereits in der Vergangenheit hat der Senat verdeutlicht, dass der Beklagte dabei nicht in den Genuss eines Irrtumsprivilegs
kommen kann und für die Widerlegung nicht ein wie auch immer geartetes "qualifiziertes Falschsein" verlangt werden darf. Die
Verdienstbescheinigungen haben die Provisionen erwiesenermaßen zu Unrecht als sonstige Bezüge deklariert. Sofern man zusätzlich
noch ein substantiiertes Bestreiten der Klägerin verlangen wollte, hätte der Senat keine Probleme, ein solches festzustellen.
Von Anfang an hat die Klägerin behauptet, bei den Provisionen handle es sich um laufenden Arbeitslohn.
Anders als das Sozialgericht schließt sich der Senat nicht der mit den Urteilen vom 14.12.2017 neu eingeführten BSG-Rechtsprechung an, wonach die Nichtanfechtung der Lohnsteuer-Anmeldung durch die Klägerin dieser zum Nachteil gereichen soll.
Eine Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung kann es für die Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn
und sonstigem Bezug für das Elterngeldrecht nicht geben. Es darf in § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG keine formelle Präklusion hineininterpretiert werden, geschweige denn eine gestaltende Wirkung dergestalt, bei nicht angefochtener
Lohnsteuer-Anmeldung sei die Deklarierung in den Verdienstbescheinigungen diejenige, die im Sinn von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG der richtigen Behandlung "im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerrechtlichen Vorgaben" entspreche.
Folgende Aspekte sprechen gegen die neue BSG-Judikatur:
* Entgegen der Meinung des BSG fehlt es an einer hinreichenden gesetzlichen Anordnung des Konstrukts (dazu unten 1.).
* Es erscheint höchst zweifelhaft, dass die Lohnsteuer-Anmeldungen so rechtzeitig materiell bestandskräftig werden, dass sie
die vom BSG proklamierte Bindungswirkung überhaupt entfalten können (dazu unten 2.).
* Die Einspruchsbehörden und Finanzgerichte hätten einem Rechtsbehelf der Klägerin gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen eine Beschwer
abgesprochen und diesen als unzulässig verworfen (dazu unten 3.).
* Mit dem Konstrukt des BSG wird zumindest für Altfälle wie hier faktisch erreicht, dass die Angaben des Arbeitgebers in den Verdienstbescheinigungen
verbindlich sind. Das begegnet im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender demokratischer Legitimation erheblichen
Bedenken (dazu unten 4.).
* Es besteht keine praktische Notwendigkeit für das rechtliche Konstrukt des BSG (dazu unten 5.).
* Der mit der Einführung der Bindungswirkung durch das BSG verbundene Schwenk in der höchstrichterlichen Rechtsprechung mutet im Licht des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes
bedenklich an (dazu unten 6.).
1. Keine hinreichende gesetzliche Anordnung der vom BSG proklamierten Bindungswirkung
Das BSG hat seine neue Rechtsprechung auch in Bezug auf die Bindungswirkung untrennbar mit der zum 01.01.2015 in Kraft getretenen
Änderung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG verknüpft, die der Norm folgenden Wortlaut verliehen hat: Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren
nach lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind. Der Senat sieht dagegen in § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG keine hinreichende Rechtsgrundlage und vermag auch sonst keine zu finden. Die vom BSG vertretene Bindungswirkung weist Besonderheiten auf, die eine explizite, eindeutige und bestimmte Grundlage im formellen
Gesetzesrecht erfordern (dazu unten a). Eine gesetzliche Grundlage, die dem gerecht wird, existiert nicht (dazu unten b).
a) Die gesetzliche Grundlage für die Bindungswirkung muss explizite und spezifische Regelungen aufweisen und höchsten Bestimmtheitsanforderungen
genügen. Eine wie auch immer geartete diffuse, im Allgemeinen haftende Herleitung aus Sinn und Zweck der Rechtsmaterie genügt
nicht. Denn die Bindungswirkung, die das BSG vertritt, gehört zur Kategorie der so genannten Feststellungswirkung von Verwaltungsakten. Die Feststellungswirkung ist dem
betreffenden Verwaltungsakt nicht "von selbst" immanent, sondern bedarf eines unzweideutigen Normbefehls.
Allgemein bildet die Bindungswirkung von Verwaltungsakten ein sehr weit gefächertes Problemfeld innerhalb des allgemeinen
Verwaltungsrechts. Diskutiert werden Bindungswirkungen der verschiedensten Art. Die aktuell vom BSG vertretene zeichnet sich dadurch aus, dass ein in einem ersten Verwaltungsverfahren (im Folgenden: Erstverfahren) ergangener
Verwaltungsakt (im Folgenden: Erstverwaltungsakt) Bindungswirkung für ein späteres, zweites Verwaltungsverfahren (im Folgenden:
Folgeverfahren) entfalten soll. Damit unterscheidet sich die hier in Frage stehende Bindungswirkung von der bloßen, eindimensionalen
Drittwirkung eines Verwaltungsakts gravierend. Jene Drittwirkung ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur der eigentliche
Adressat des Verwaltungsakts, sondern auch ein Dritter unmittelbar rechtlich betroffen wird. Weitere Personen werden auf diese
Weise in das Rechtsverhältnis einbezogen, wobei sich dies jedoch - das ist das Charakteristikum - auf das nämliche Verfahren
beschränkt. Als typische Beispiele gelten baurechtliche Nachbarkonstellationen oder die beamtenrechtliche oder gewerberechtliche
Betroffenheit von Konkurrenten. Dazu zählt aber auch die (vom BSG als Argument herangezogene) unmittelbare rechtliche Betroffenheit des Arbeitnehmers als Schuldner der Lohnsteuer im Lohnsteueranmeldeverfahren.
Wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des BFH ergibt, kann der Arbeitnehmer in der Tat durch eine Lohnsteuer-Anmeldung
unmittelbar in eigenen Rechten betroffen sein (vgl. Krüger in: Drüen, Besteuerung von Arbeitnehmern, DStJG Band 40 2017, S.
145 (167)). Das gilt auch für die Klägerin hinsichtlich der Lohnsteuer-Anmeldungen, welche die P. für den Zeitraum Januar bis
Dezember 2015 allmonatlich vorgenommen hat. Allerdings vermag diese Drittbetroffenheit nicht, eine Bindung der Klägerin an
die Lohnsteuer-Anmeldung im elterngeldrechtlichen Folgeverfahren zu begründen. Die subjektiv-rechtliche Betroffenheit der
Klägerin im Anmeldeverfahren ist zwar notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingung, um eine derartige Bindungswirkung
für das Folgeverfahren zu generieren. Vielmehr bedürfte es einer besonderen rechtlichen Grundlage, welche diese rechtliche
Bindung erst erzeugt. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat mittels einer Differenzierung nach der Wirkung inter partes von Verwaltungsakten
einerseits (dazu unten aa) und der Wirkung inter omnes andererseits (dazu unten bb).
aa) Es ließe sich daran denken, der hier im Fokus stehende rechtliche Effekt, dass die Entscheidung eines Erstverfahrens Bindungswirkung
für ein Folgeverfahren erzeugt, könnte als Folge materieller Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldungen erzielt werden. Diese
Lösung erscheint deswegen besonders "attraktiv", weil die Wirkungen der materiellen Bestandskraft entstehen, ohne dass dies
gesondert gesetzlich angeordnet werden müsste; sie sind dem materiell bestandskräftigen Verwaltungsakt immanent. Allerdings
lässt sich die vom BSG proklamierte Bindungswirkung nicht unmittelbar aus der materiellen Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldungen ableiten.
Kennzeichnend für die materielle Bestandskraft eines Verwaltungsakts ist deren Wirkung inter partes (vgl. Kirchhof, NJW 1985,
S. 2977 (2983)). Materielle Bestandskraft bedeutet, dass die Behörde und die Beteiligten an die getroffene Entscheidung gebunden
sind und dass eine Aufhebung oder Änderung dieser Entscheidung nur noch nach Maßgabe besonderer gesetzlicher Bestimmungen
möglich ist; sie begründet ein Abweichungsverbot (vgl. Dolde, NJW 1988, S. 2329 (2333 f.); Merten, NJW 1983 S. 1193 (1996); Randak, JuS 1992, S. 33 (34)). Der Senat unterstellt im Folgenden mit der herrschenden Meinung im Verwaltungsrecht, dass die materielle Bestandskraft
genauso wie die materielle Rechtskraft von Urteilen nicht nur Wirkungen hinsichtlich des gleichen Verfahrensgegenstands entfaltet,
sondern auch eine präjudizielle Wirkung für andere Verfahrensgegenstände zwischen den Beteiligten des Erstverfahrens (vgl.
Randak, JuS 1992, S. 33 (34)). Die präjudizielle Wirkung tritt dann in Erscheinung, wenn es im Folgeverfahren auf ein Tatbestandsmerkmal ankommt,
über das im Erstverfahren bereits bestandskräftig entschieden worden ist. Trotz ihrer verfahrensübergreifenden Effekte bedarf
die präjudizielle Wirkung eines Verwaltungsakts keiner gesonderten gesetzlichen Anordnung.
Die präjudizielle Wirkung trägt die vom BSG vertretene Bindungswirkung jedoch nicht. Denn dafür fehlt es schon an der unabdingbaren Identität der Beteiligten. Zwar war
die Klägerin sowohl im Erst- wie auch im Folgeverfahren (zumindest materiell) Beteiligte; dass sie im Erstverfahren lediglich
als Dritte betroffen war, stellt kein rechtliches Hindernis dar. Allerdings liegt auf behördlicher Seite keine Identität des
Betroffenen vor. Denn die Steuerverwaltung und die Elterngeldverwaltung verkörpern trotz der Gemeinsamkeit als Bundesauftragsverwaltung
(vgl. Art.
104a Abs.
3 Satz 2 des
Grundgesetzes (
GG) in Verbindung mit § 12 Abs. 2 BEEG einerseits und Art.
108 Abs.
3 Satz 1
GG andererseits) grundlegend unterschiedliche Behördenstränge.
Aber auch wenn man für Erst- und Folgeverfahren eine Identität der Beteiligten auf behördlicher Seite vor dem Hintergrund
bejahen wollte, dass im einen wie im anderen Fall der Freistaat Bayern zuständiger Rechtsträger ist, könnte man die vom BSG proklamierte Bindungswirkung nicht aus der materiellen Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung in Form einer präjudiziellen
Wirkung ableiten. Denn die materielle Bestandskraft erfasst nur den Regelungsausspruch der Lohnsteuer-Anmeldung (vgl. Erichsen/Knoke,
NVwZ 1983, S. 185 (190)), nicht aber einzelne Berechnungs- oder Begründungselemente. Die Einstufung von Arbeitsentgelten als laufender Arbeitslohn
oder als sonstige Bezüge gehört nicht zum Regelungsausspruch der Lohnsteuer-Anmeldung.
Bei der Lohnsteuer-Anmeldung handelt es sich um eine besondere Form der Steuererklärung (vgl. allgemein zur Lohnsteuer-Anmeldung
BFH, Urteil vom 15.05.1992 - VI R 106/88, Rn. 22 des juris-Dokuments; Heuermann, FR 2013, S. 354 (355)). §
150 Abs.
1 Satz 3
AO definiert die Steueranmeldung als Steuererklärung, in der der Steuerpflichtige die Steuer selbst zu berechnen hat. Die Lohnsteuer-Anmeldung
hat nach §
41a Abs.1 Satz 1 Nr.
1 EStG alle Sachverhalte zu erfassen, die im jeweiligen Anmeldungszeitraum (§
41a Abs.
2 EStG) zu einem Lohnzufluss (§
38 Abs.
2 Satz 2
EStG) beim Arbeitnehmer geführt haben (BFH, Urteil vom 15.05.1992 - VI R 106/88, Rn. 24 des juris-Dokuments). Bei der Lohnsteuer-Anmeldung ist der Steuerpflichtige, dem diese Aufgabe gesetzlich übertragen
ist, der Arbeitgeber (§
41a Abs.
1 Satz 1
EStG), der zwar nicht Steuerschuldner (vgl. §
38 Abs.
2 Satz 1
EStG), wohl aber Entrichtungspflichtiger (vgl. §
43 Satz 2
AO) ist.
Nach §
168 Satz 1
AO steht die Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gegenüber dem abführungspflichtigen
Arbeitgeber gleich. Über sie wird der die Steuer festsetzende Verwaltungsakt fingiert (Seer in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
168 AO Rn. 1 (Stand: Mai 2014)). Da Steuern von der Finanzbehörde, soweit nichts Anderes vorgeschrieben ist, nach §
155 Abs.1 Satz 1
AO durch Steuerbescheide festgesetzt werden, wirkt die Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldung in diesen Fällen kraft Gesetzes wie der
Erlass eines Steuerbescheids (BFH, Urteil vom 15.05.1992 - VI R 106/88, Rn. 22 des juris-Dokuments; vgl. auch BFH, Urteil vom 24.08.2004 - VII R 50/03), der an den Arbeitgeber adressiert ist (vgl. Krüger in: Drüen, Besteuerung von Arbeitnehmern, DStJG Band 40 2017, S. 145 (165)). Eine Steuerfestsetzung durch das Finanzamt findet grundsätzlich nicht statt (vgl. §
167 Abs.
1 Satz 1
AO). Im Fall der Klägerin wirkten die Lohnsteuer-Anmeldungen der P. also als monatliche Festsetzungen der von der Arbeitgeberin
abzuführenden Lohnsteuer. Damit wurde aber jeweils nur der monatlich für die Betriebsstätte abzuführende Steuerbetrag als
Summe geregelt (vgl. Krüger a.a.O., S. 145 (165)). Die auf einen einzelnen Arbeitnehmer entfallende Lohnsteuer wurde und wird
in der Lohnsteuer-Anmeldung nicht geoffenbart, nicht einmal als Teil der Begründung, geschweige denn als Regelung.
Ohnehin ist der Regelungsgehalt einer Steuerfestsetzung begrenzt. Das folgt schon aus §
157 Abs.
1 Satz 2
AO, wonach im Steuerbescheid die festzusetzende Steuer nach Art und Betrag bezeichnet und angegeben werden muss, wer die Steuer
schuldet. Eine Steuerfestsetzung regelt somit nur den Steuerschuldner, die genannte Steuer nach Steuerart und Steuerbetrag
sowie bei periodischen Steuern den Bemessungs- oder Veranlagungszeitraum (vgl. Seer in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
155 AO Rn. 18 ff. (Stand: April 2017)). Bemessungs- oder Berechnungsgrundlagen werden nicht von der Regelung umfasst (vgl. §
157 Abs.
2 AO). Dies bedeutet für die Lohnsteuer-Anmeldung, dass dadurch lediglich geregelt wird, in welcher Höhe für welchen Kalendermonat
der Arbeitgeber Lohnsteuer für die Betriebsstätte (nicht für einzelne Arbeitnehmer) abzuführen hat.
Dieses Resultat wird durch die konkrete Inaugenscheinnahme des Formblatts für die Lohnsteuer-Anmeldung bestätigt. Das Gesetz
gibt in §
41a Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 EStG vor, dass in der Lohnsteuer-Anmeldung die Summen der im Lohnsteuer-Anmeldungszeitraum einzubehaltenden und zu übernehmenden
Lohnsteuer angegeben werden. Die Sätze 2 und 3 von §
41a Abs.
1 EStG verweisen auf ein bestimmtes, vorgeschriebenes Design der Lohnsteuer-Anmeldung. Diese hat entweder nach amtlich vorgeschriebenem
Datensatz oder nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck zu erfolgen. Der Senat hat entsprechende Formblätter für die Lohnsteuer-Anmeldung,
auch das für das Jahr 2015, eingesehen und stellt auf dieser Basis fest, dass darin tatsächlich nur die Summen der vom Betrieb
in einem bestimmten Monat abzuführenden Steuerbeträge genannt sind. Es fehlen jegliche Differenzierung nach einzelnen Arbeitnehmern
und jegliche Berechnungsgrundlagen. Die Lohnsteuer-Anmeldung unterscheidet sich damit grundlegend von einem Einkommensteuerbescheid.
Sie umfasst nur das "nackte Ergebnis".
Wenn aber die Frage, ob angefallene Arbeitsentgelte als laufender Arbeitslohn oder als sonstige Bezüge einzustufen sind, nicht
zum Regelungsausspruch der Lohnsteuer-Anmeldung gehört, kann sich im elterngeldrechtlichen Folgeverfahren keine der materiellen
Bestandskraft zuzuordnende Bindungswirkung des lohnsteuerrechtlichen Erstverfahrens entfalten. Die Handhabung des Arbeitgebers
hinsichtlich der Behandlung als laufenden Arbeitslohn oder als sonstige Bezüge hat sich zwar auf den in der Lohnsteuer-Anmeldung
angegebenen Gesamt-Steuerbetrag ausgewirkt, stellt aber nur einen Teil des Rechenwegs dar, der nicht einmal in der Lohnsteuer-Anmeldung
transparent gemacht wird. Sie kann nicht Gegenstand einer präjudiziellen Wirkung sein.
bb) Die vom BSG vertretene Bindungswirkung kann also nicht auf der Wirkung inter partes des Erstverwaltungsakts beruhen. Vielmehr muss sie
sich an den Kriterien für eine "Drittwirkung" im Folgeverfahren (vgl. Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 (188 f.)) messen lassen. Konkret vertritt das BSG eine so genannte Feststellungswirkung. In diesem Zusammenhang ist es falsch, wenn es in den beiden Urteilen vom 14.12.2017
(Rn. 49 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 50 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) von der "Bindung an bestandskräftige Ergebnisse des Lohnsteuerabzugsverfahrens" spricht. Bestandskräftig werden kann nur
ein Verwaltungsakt, der einzig in der Lohnsteuer-Anmeldung liegen kann, nicht aber die tatsächliche Handhabung des Lohnsteuerabzugs
sowie der Lohnsteuerabführung und auch nicht die Verdienstbescheinigungen.
Die vom BSG vertretene Bindungswirkung darf nicht als Ausfluss einer so genannten Tatbestandswirkung der Lohnsteuer-Anmeldung verstanden
werden (vgl. zum Begriff "Tatbestandswirkung" Knöpfle, BayVBl 1982, S. 225 (226); Merten, NJW 1983, S. 1993 (1997); Ipsen, Verw 1984, S. 169 (177 f.); Rühl, JuS 1999, S. 521 (522 f.); Sachs in: Stelkens/Bonk/ ders., VwVfG, 9. Auflage 2018, § 43 Rn. 154 m.w.N.). Unter der funktionellen Kategorie "Tatbestandswirkung" werden heterogene Erscheinungsformen von Bindungswirkungen
zusammengefasst (vgl. nur Rühl, JuS 1999, S. 521 (523)). Aus dem Facettenreichtum der Tatbestandswirkung erklären sich die uneinheitlichen Anforderungen im Hinblick auf eine
gesetzliche Grundlage derselben. Hinsichtlich der Tatbestandswirkung im weiteren Sinn scheint die Meinung vorzuherrschen,
an den die Bindungswirkung anordnenden Normbefehl dürften keine hohen Anforderungen gestellt werden (vgl. beispielsweise Kirchhof,
NJW 1985, S. 2977 (2983); Kopp/Ramsauer, VwVfG, 19. Auflage 2018, § 43 Rn. 28).
Zwar mag dieser Umstand die Tatbestandswirkung als "verlockend" erscheinen lassen, um das vom BSG erfundene Modell zu rechtfertigen, jedoch beruft sich das BSG in seinen Urteilen vom 14.12.2017 gerade nicht auf eine Tatbestandswirkung der Lohnsteuer-Anmeldung. Denn essentiell und
wesensbestimmend für den Phänotyp Tatbestandswirkung - und damit für eine mögliche Absenkung der Anforderungen an die gesetzliche
Grundlage - ist, dass die Bindungswirkung für ein Folgeverfahren an den Regelungsausspruch des Erstverwaltungsakts anknüpft
(vgl. Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 (189); Merten, NJW 1983, S. 1993 (1997); Ipsen, Verw 1984, S. 169 (176); Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, 1984, S. 83; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 19. Auflage 2018, § 43 Rn. 27, 34). Der intrinsische (so Rühl, JuS 1999, S. 521 (523)) beziehungsweise immanente (so Knöpfle, BayVBl 1982, S. 225 (230)) Geltungsanspruch des Erstverwaltungsakts auch über das Verhältnis inter partes hinaus, der ja gerade eine besondere
gesetzliche Anordnung der Bindungswirkung zu erübrigen im Stande ist, beschränkt sich zwangsläufig auf dessen Regelungsgehalt.
Aus sich heraus vermag der Erstverwaltungsakt nur hinsichtlich seiner Regelung rechtliche Wirkung zu entfalten; rechtliche
Wirkungen in Bezug auf Begründungselemente übersteigen seine ihm eigene rechtliche Potenz. Unter aa) ist herausgearbeitet
worden, dass die Lohnsteuer-Anmeldungen nur jeweils den monatlich für die Betriebsstätte abzuführenden Steuerbetrag als Summe
regeln. Die Einstufung der Arbeitsentgelte für einen einzelnen Arbeitnehmer als laufenden Arbeitslohn oder als sonstigen Bezug
nimmt dagegen nicht an der Regelungswirkung teil; sie verkörpert ein isoliertes Element des Rechenwegs.
Die Zitierungen der BSG-Urteile vom 03.12.1996 - 10 RKg 8/96 und vom 06.02.1992 - 12 RK 15/90 (Rn. 36 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 37 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) lassen befürchten, dass der 10. Senat sich dessen nicht bewusst gewesen ist. Denn beide in Bezug genommenen BSG-Entscheidungen betreffen die Bindung an den Regelungsausspruch der Erstentscheidung, und damit in der Tat eine Tatbestandswirkung.
Dass diese Judikate die neue Rechtsprechung des 10. Senats nicht zu tragen vermögen, liegt auf der Hand.
Die Bindung an Berechnungs- oder allgemein Begründungselemente eines Erstverwaltungsakts im Folgeverfahren wird gemeinhin
als Feststellungswirkung bezeichnet (vgl. Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 (189); Randak, JuS 1992, S. 33 (35)). Soweit ersichtlich, besteht in der der Literatur Einigkeit darin, dass dafür eine spezielle gesetzliche Grundlage
notwendig ist (vgl. Knöpfle, BayVBl 1982, S. 225 (230); Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, 1984, S. 101; Seibert, Die Bindungswirkung von
Verwaltungsakten, 1989, S. 129; Sachs in: Stelkens/Bonk/ders., VwVfG, 9. Auflage 2018, § 43 Rn. 160 m.w.N.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 19. Auflage 2018, § 43 Rn. 34). Der Senat schließt sich dem voll und ganz an. Im Rahmen einer funktionsteiligen Verwaltung erscheint es angesichts
der Gebote der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit von Verwaltungshandeln angebracht, dass Behörden in Folgeverfahren
auf verbindliche Vorentscheidungen zurückgreifen, sofern es im Folgeverfahren gerade darauf ankommt. Als "Vorleistung" aus
dem Erstverfahren ist aber nur der Regelungsausspruch als solcher hinreichend gesichert und objektivierbar. Für Begründungselemente
aus dem Erstverwaltungsakt gilt dies nicht; sie erlangen nicht einmal zwischen den Beteiligten des Erstverfahrens Bindungswirkung.
Wenn also solche Elemente in das Folgeverfahren bindend einfließen sollen, muss dies in der Tat eindeutig und ausdrücklich
gesetzlich geregelt sein.
Das gilt für die vom BSG vertretene Bindungswirkung im Besonderen, weil das Element des Erstverwaltungsakts, dem Bindungswirkung beigemessen wird,
im Erstverwaltungsakt überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Denn die Lohnsteuer-Anmeldung weist keinerlei begründenden Teil
auf. An keiner Stelle - weder als Regelung noch als Begründungselement - wurde geoffenbart, welche Anteile am monatlichen
Arbeitsentgelt der Klägerin als sonstige Bezüge behandelt worden sind. Das Objekt, dem Bindungswirkung beikommen soll, verkörpert
ein Internum des Arbeitgebers - etwas, das sich allein "in dessen Kopf" abgespielt hat. Der in der Lohnsteuer-Anmeldung ausgewiesene
Gesamtbetrag der Lohnsteuer lässt keine Rückschlüsse zu, welche Entgeltbestandteile bei einem ganz bestimmten Arbeitnehmer
als sonstige Bezüge eingestuft worden sind. An dieser Stelle wäre das Gegenargument verfehlt, Nämliches ergebe sich doch aus
den jeweiligen Verdienstbescheinigungen. Die Verdienstbescheinigungen dürfen keinesfalls mit den Lohnsteuer-Anmeldungen vermengt
werden. Ihnen geht jegliche hoheitliche Funktion ab. Sie als "Begründungen" der Lohnsteuer-Anmeldungen zu behandeln, würde
an den Grundfesten der Lehre vom Verwaltungsakt rütteln. Wie unten noch genauer ausgeführt werden wird, handelt es sich bei
den Verdienstbescheinigungen um zivilrechtliche Erklärungen. Zudem muss die Begründung Teil des Verwaltungsakts sein; so spricht
§
121 Abs.
1 AO davon, dass ein schriftlicher oder elektronischer Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen ist. Daran fehlt es bei
den Verdienstbescheinigungen. Der Senat wehrt sich dagegen, im Weg einer diffusen "Zusammenschau" unter Zuhilfenahme von Dokumenten,
die außerhalb des Verwaltungsakts liegen und mit ihm rechtlich nichts zu tun haben, eine Begründung der Lohnsteuer-Anmeldung
zu "modellieren". Das wäre ein Novum im öffentlichen Recht.
Wenn aber das Element des Erstverwaltungsakts, dem Bindungswirkung beigemessen wird, im Erstverwaltungsakt überhaupt nicht
als Segment der Begründung erscheint, liegt eine Feststellungswirkung an sich fern. Der Senat stellt ausdrücklich in Frage,
dass solcherlei bloße Gedanken einer Privatperson überhaupt mit einer Bindungswirkung für ein Folgeverfahren versehen werden
können. Auf jeden Fall aber bedürfte es einer absolut klaren und eindeutigen gesetzlichen Grundlage, von der man hier denkbar
weit entfernt ist.
Das veranschaulicht eine vergleichbare rechtliche Konstellation im Bereich der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Diese hängen seit jeher vom Einkommen verschiedener Personen ab. So stellte und stellt sich noch immer das Problem, wie
das Einkommen zu ermitteln ist. In den 1980er Jahren hatte § 21 Abs. 1 BAföG folgenden Wortlaut: 1 Als Einkommen gilt - vorbehaltlich der Absätze 3 und 4 sowie einer Regelung auf Grund des Absatzes
1a - die Summe der positiven Einkünfte im Sinne des §
2 Abs.
1 und
2 des
Einkommensteuergesetzes ...
Und zur Technik der Einkommensermittlung regelte § 24 Abs. 1, 2 BAföG:
(1) Für die Anrechnung des Einkommens der Eltern und des Ehegatten des Auszubildenden sind die Einkommensverhältnisse im vorletzten
Kalenderjahr vor Beginn des Bewilligungszeitraums maßgebend.
(2) 1Ist der Einkommensbezieher für diesen Zeitraum zur Einkommensteuer zu veranlagen, liegt jedoch der Steuerbescheid noch
nicht vor, so wird unter Berücksichtigung der glaubhaft gemachten Einkommensverhältnisse über den Antrag entschieden. 2Ausbildungsförderung
wird insoweit unter dem Vorbehalt der Rückforderung geleistet. 3Sobald der Steuerbescheid vorliegt, wird über den Antrag abschließend
entschieden.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte bei der Ermittlung der Summe der positiven Einkünfte dem Einkommensteuerbescheid
für das vorletzte Kalenderjahr vor Beginn des Bewilligungszeitraums Bindungswirkung für das BAföG-Verfahren beigemessen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.06.1985 - 5 B 17/84 sowie Beschluss vom 18.02.1986 - 5 B 84/85). Der BFH hat sich dem im Urteil vom 20.12.1994 - IX R 124/92 angeschlossen und klargestellt, dass die rechtliche Betroffenheit nach dem BAföG genügt, um eine Beschwer für die Anfechtung eines Einkommensteuerbescheids zu begründen. Der Vergleich mit diesem Beispiel
einer Feststellungswirkung offenbart in mehrfacher Weise, dass die neue BSG-Rechtsprechung zur Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung bedenklich aus der Reihe fällt; darauf wird
noch an verschiedener Stelle zurückzukommen sein. Hier und jetzt stellt der Senat fest, dass der Einkommensteuerbescheid sich
ungleich stärker dafür eignet, Feststellungswirkung bezüglich der Summe der positiven Einkünfte zu entfalten als die Lohnsteuer-Anmeldung
bezüglich der Einstufung des Arbeitsentgelts eines bestimmten Arbeitnehmers als laufenden Arbeitslohn oder als sonstige Bezüge.
Zwar gehört auch die Summe der positiven Einkünfte nicht zum Regelungsgehalt eines Einkommensteuerbescheids. Sie wird aber
stets und explizit im Einkommensteuerbescheid ausgewiesen. Darin liegt ein immenser Unterschied zum hier gegebenen Fall, wo
die Lohnsteuer-Anmeldung keinerlei einschlägiges Material liefert, an das eine Bindungswirkung geknüpft werden könnte.
Der Senat wiederholt seine Einschätzung, dass die Konstruktion, für ein Folgeverfahren an "Gedankenspiele" einer Privatperson
in einem Erstverfahren zu binden, generell rechtlich zum Scheitern verurteilt sein muss. Zumindest zieht er aus dem geschilderten
BAföG-Fall den Schluss, dass angesichts dessen eine im Vergleich zu § 24 Abs. 2 BAföG noch weitaus klarere Rechtsgrundlage erforderlich ist, damit noch halbwegs guten Gewissens eine Feststellungswirkung der
Lohnsteuer-Anmeldung in Bezug auf die Kategorisierung als laufenden Arbeitslohn oder sonstigen Bezug vertreten werden kann.
Mithin sind an die Ausgestaltung der notwendigen gesetzlichen Grundlage höchste Bestimmtheitsanforderungen zu stellen.
b) Eine gesetzliche Grundlage, die dem gerecht wird, fehlt. Weder § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG (dazu unten aa) noch andere Vorschriften (dazu unten bb) rechtfertigen die Annahme einer Bindungswirkung der nicht angefochtenen
Lohnsteuer-Anmeldung.
aa) Der Senat teilt nicht die Ansicht des BSG, § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG beinhalte den erforderlichen Normbefehl. Schon der Wortlaut der Vorschrift spricht dagegen. Denn es wird darauf abgestellt,
ob Einnahmen im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den Vorgaben des Lohnsteuerrechts als sonstige Bezüge behandelt werden müssen.
Der Senat vermag dies nur als Rekurs auf das materielle Steuerrecht zu interpretieren. Er sieht keinerlei Ansatzpunkte in
der Norm, daraus eine Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung abzuleiten.
Dieses Ergebnis drängt sich umso mehr auf, wenn man die historische Entwicklung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG betrachtet:
* In der ursprünglichen (ab 01.01.2007 geltenden) Fassung des BEEG war folgende Regelung des § 2 Abs. 7 Satz 2 BEEG einschlägig: Sonstige Bezüge im Sinn von §
38a Absatz
1 Satz 3 des
Einkommensteuergesetzes werden nicht als Einnahmen berücksichtigt. Dazu ist (auszugsweise) folgende Gesetzesbegründung gegeben worden (BT-Drs. 16/2785,
S. 37): "Die steuerrechtliche Regelung zur Berechnung des Überschusses wird in zweierlei Hinsicht modifiziert ... Und zweitens
werden - vergleichbar mit der Regelung zu den einmaligen Einnahmen im bisherigen Entwurf - sonstige Bezüge im Sinn von §
38a Absatz
1 Satz 3 des
Einkommensteuergesetzes, also etwa dreizehnte und vierzehnte Monatsgehälter, Gratifikationen und Weihnachtszuwendungen nicht als Einkommen berücksichtigt.
Dies entspricht der Regelung beim Mutterschaftsgeld. Würde für das Elterngeld anders verfahren, hinge es insbesondere bei
Bezugszeiträumen von unter einem Jahr vom Zufall ab, ob eine einmalige Einnahme mit der Folge zu berücksichtigen wäre, dass
das ansonsten zustehende Elterngeld sich reduziert oder sogar entfällt".
* Zum 01.01.2011 trat eine geänderte Fassung von § 2 Abs. 7 Satz 2 BEEG in Kraft ("Haushaltsbegleitgesetz 2011"): Im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelte Einnahmen werden nicht
berücksichtigt. Diese zweite Fassung war im Gesetzentwurf mit folgender Begründung versehen (BT-Drs. 17/3030, S. 48): "Die
Neufassung des Satzes 2 dient zum einen der Sicherstellung einer verwaltungspraktikablen Feststellbarkeit von sonstigen Bezügen
im Sinne des
Einkommensteuergesetzes. Im Lohnsteuerabzugsverfahren nach §
38a Absatz
1 Satz 3 und §
39b des
Einkommensteuergesetzes als sonstige Bezüge behandelte Einnahmen sind bei der Elterngeldberechnung nicht zu berücksichtigen (anders zur bisherigen
Rechtslage: BSG, Urteil vom 3. Dezember 2009, B 10 EG 3/09 R, betreffend Voraus- und Nachzahlungen im Sinne von R § 39b.2 Absatz 2 Satz 2 Nummer 8 LStR 2008, die für Zeitabschnitte in einem anderen Veranlagungszeitraum erfolgen und deswegen als sonstige Bezüge versteuert werden).
"* Die dritte Fassung, welche für den vorliegenden Fall einschlägig ist, trat zum 18.09.2012 in Kraft ("Vereinfachungsgesetz");
erstmals wurde der Regelungsgegenstand in § 2c BEEG platziert. Dessen Absatz 1 Satz 2 lautete: Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelt werden.
Der Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Fassung ist nur ein formaler; die dritte Fassung lautete nur semantisch
etwas anders. Das brachte auch die Begründung (BT-Drs. 17/9841, S. 22) zum Ausdruck: "Satz 2 übernimmt den Regelungsgehalt
des bisherigen § 2 Absatz 7 Satz 2. Die Änderungen sind redaktionell bedingt.
"* Die aktuell sich noch in Kraft befindende vierte Fassung, die dem hier vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegt, bildet
der seit dem 01.01.2015 ("Elterngeld-Plus-Gesetz") geltende § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG: Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als sonstige
Bezüge zu behandeln sind. Die dazu ergangene Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/2583, S. 24/25) lautet: "Die Regelung stellt klar,
dass die Einordnung von Lohn- und Gehaltsbestandteilen als sonstige Bezüge allein nach lohnsteuerrechtlichen Vorgaben ...
erfolgt. Nur dann ist es möglich, die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen entsprechend der gesetzgeberischen Zielsetzung nach
§ 2c Absatz 2 als aussagekräftige Grundlage der elterngeldrechtlichen Einkommensermittlung zu nutzen (Richtigkeits- und Vollständigkeitsvermutung
der Lohn- und Gehaltsbescheinigungen). Ein Auseinanderfallen des lohnsteuerrechtlichen und elterngeldrechtlichen Einkommensbegriffs
würde dazu führen, dass die Festlegungen in den Lohn- und Gehaltsbescheinigungen schon dem Grundsatz nach nicht mehr unmittelbar
für die Elterngeldberechnung genutzt werden könnten. Das würde den Verwaltungsaufwand erheblich steigern. Nach dieser Regelung
sind demnach alle Lohn- und Gehaltsbestandteile, die richtigerweise nach den lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als sonstige Bezüge
zu behandeln sind ..., auch elterngeldrechtlich als sonstige Bezüge zu behandeln."
Die Gesetzesentwicklung zeigt, dass der Gesetzgeber mit der vierten Fassung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG einen Schwenk zu einer strengen Anbindung an die Soll-Verhältnisse, also an das materielle Lohnsteuerrecht, vollzogen hat.
Dem Senat gelingt es nicht, den Wortlaut des ab 01.01.2015 geltenden § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebungshistorie mit folgender Passage aus den BSG-Urteilen vom 14.12.2017 (Rn. 34 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 35 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) in Einklang zu bringen: "Die Verbindlichkeit der beschriebenen materiell-rechtlichen Zuordnungsregelungen des Steuerrechts
für die Elterngeldbemessung wird durch den Verweis in § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren noch verstärkt".
Zum einen wird das materielle Lohnsteuerrecht durch die Konstruktion einer Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung
nicht ver- oder gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt; denn das materielle Recht weicht einem Formalismus. Vor allem aber
verweist § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG gerade nicht auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren im Sinn der tatsächlichen Vorgehensweise, sondern darauf, wie
der Arbeitgeber nach dem materiellen Lohnsteuerrecht hätte vorgehen müssen. Das gleiche Defizit weist folgende Aussage des
BSG auf: "Diese Bindung erstreckt § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG auf das Elterngeldverfahren, weil die Vorschrift uneingeschränkt auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren verweist."
Die dritte Fassung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG hat im Unterschied zur vierten Fassung offenkundig auf die tatsächliche Handhabung durch den Arbeitgeber abgestellt, egal
ob diese nun richtig oder falsch war. Gerade dieser Kontrast zwischen dritter und vierter Fassung lässt es für den Senat nicht
nachvollziehbar erscheinen, aus welchem Grund das BSG ausgerechnet der vierten Fassung eine Akzentuierung der tatsächlichen Handhabung durch den Arbeitnehmer entnehmen will. Denn
die Konstruktion einer Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung rückt wie gesagt das materielle Recht
in den Hintergrund und erhebt die tatsächliche Vorgehensweise des Arbeitgebers zum Maß der Dinge. Die neue BSG-Rechtsprechung hätte also eher zur dritten denn zur vierten Fassung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG gepasst.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Gesetzgeber mit der vierten Fassung wohl nicht primär und unmittelbar im Blick hatte,
gerade das materielle Lohnsteuerrecht allein zur maßgebenden Größe zu machen. Vielmehr ging es ihm hauptsächlich darum, die
durch die BSG-Rechtsprechung vom 26.03.2014 installierte Prüfung der elterngeldrechtlichen Rechtfertigung des auf der Basis des Steuerrechts
gewonnen Ergebnisses auszuschließen. Trotzdem stellt nach hiesigem Empfinden die Konstruktion einer Bindungswirkung der nicht
angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung ausgerechnet unter dem Reglement der vierten Fassung die legislative Entwicklung auf den
Kopf.
Die Auslegung von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG durch das BSG erfährt auch nicht dadurch Legitimierung, dass die Gesetzesmaterialien zum Elterngeld-Plus-Gesetz das fortwährende Bemühen
des Gesetzgebers dokumentieren, den Vollzug des Elterngeldrechts so gut wie möglich zu vereinfachen. Dabei handelt es sich
um nicht mehr als ein allgemeines Motiv. Es berechtigt die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht dazu, unter dem Deckmantel
der Teleologie neue konkrete Techniken zur Vereinfachung des Verwaltungsvollzugs "zu erfinden", für die im Gesetz keine Andeutung
vorliegt. Bereits an dieser Stelle sei auf Punkt 5 verwiesen, wo dargelegt wird, dass die Bindungswirkung im Hinblick auf
Verwaltungsvereinfachung keine zwingende Notwendigkeit darstellt.
Das oben erwähnte, modellhafte Zusammenspiel der Rechtsprechung von BVerwG und BFH zur Feststellungswirkung des Einkommensteuerbescheids
auf der Grundlage von § 24 Abs. 2 BAföG spricht ebenfalls für dieses Ergebnis. Dort ist die Feststellungswirkung durch beide oberste Gerichte zwar bestätigt worden.
Allerdings wies die zugrundeliegende Rechtsnorm des § 24 Abs. 2 BAföG einen wesentlich deutlicheren und aussagekräftigeren Wortlaut auf, als dies bei § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG der Fall ist: Satz 1 zeigte explizit an, dass der BAföG-Antrag grundsätzlich auf der Basis des Einkommensteuerbescheids beurteilt werden musste. Denn nur ausnahmsweise ließ die
Vorschrift die davon unabhängige Leistungsermittlung zu. Satz 2 verdeutlichte, dass der Gesetzgeber das Vorliegen des Steuerbescheids
für so essentiell erachtete, dass er eine Leistungsbewilligung nur unter dem Vorbehalt der Rückforderung zuließ. Unter Einbeziehung
von Satz 3 ließ das Gesetz keinerlei Zweifel offen, dass eine endgültige Bewilligung nur auf der Grundlage des Einkommensteuerbescheids
zustande kommen konnte. Dieser Deutlichkeit, Bestimmtheit und Stringenz entbehrt § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG gänzlich.
Auch das BSG-Urteil vom 23.05.2017 - B 12 KR 6/16 R, das der 10. Senat beim BSG gerade als Argument für seine Auffassung angeführt hat, widerlegt ihn. In dieser beitragsrechtlichen Entscheidung ging es
um die Verbeitragung von steuerfreien Zuwendungen an Pensionskassen, Pensionsfonds oder Direktversicherungen. Der 12. Senat
des BSG hat darin zu folgender, alter Fassung von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) unzweifelhaft zu erkennen gegeben, dass es allein auf die materiell-steuerrechtliche Beurteilung ankommt, und nicht auf
formale Vehikel, wie die tatsächliche Handhabung durch den Arbeitgeber oder die Nichtanfechtung einer Lohnsteuer-Anmeldung,
abgestellt werden darf: "Dem Arbeitsentgelt sind nicht zuzurechnen: ... 9. steuerfreie Zuwendungen an Pensionskassen, Pensionsfonds
oder Direktversicherungen nach ..."
Dem Umstand, ob der Arbeitgeber tatsächlich Lohnsteuer bezüglich der fraglichen Arbeitsentgelte abgeführt hat, hat der 12.
Senat erst dominierende Bedeutung beigemessen, als in § 1 Abs. 1 SvEV folgender neuer Satz 2 integriert worden war: "Dem Arbeitsentgelt sind die in Satz 1 Nummer ..., 9 bis 11, ... genannten
Einnahmen, Zuwendungen und Leistungen nur dann nicht zuzurechnen, soweit diese vom Arbeitgeber oder ... mit der Entgeltabrechnung
für den jeweiligen Abrechnungszeitraum lohnsteuerfrei belassen oder pauschal besteuert werden."
Der 12. Senat hat sich entschieden dagegen ausgesprochen, die tatsächliche Handhabung des Arbeitgebers auch zu einer Zeit
maßgebend sein zu lassen, in der die klare gesetzliche Grundlage noch fehlte; insoweit hat das BSG den Rekurs auf das materielle Einkommensteuerrecht gefordert. Darin liegt ein diametraler Gegensatz zur Rechtsprechung des
10. Senats, der formalen Aspekten Vorrang einräumen will, obwohl die Rechtsgrundlage das materielle Steuerrecht in Bezug nimmt.
Vor diesem Hintergrund mutet es kontraproduktiv an, dass der 10. Senat das Urteil des 12. Senats überhaupt zitiert hat. Das
gilt umso mehr, als der 12. Senat den "Umweg" über eine Anfechtung der Lohnsteuer-Anmeldung nicht ein einziges Mal in seiner
Entscheidung erwähnt hat. Das Urteil des 12. Senats zeigt auch auf, dass den Verdienstbescheinigungen gerade nicht vorschnell
irgendwelche Wirkungen über das Arbeitsrecht hinaus beigemessen werden dürfen; denn der neue § 1 Abs. 1 Satz 2 SvEV hat die Maßgeblichkeit der Entgeltabrechnung für das öffentliche Recht ausdrücklich statuiert. Das verbietet es, in § 2c Abs. 1 Satz 2 oder auch § 2 Abs. 2 BEEG Derartiges ohne klare gesetzliche Grundlage hineinzuinterpretieren.
In Widerspruch zu den Urteilen vom 14.12.2017 steht auch die vom 10. Senat zitierte BSG-Entscheidung vom 30.09.1997 - 4 RA 122/95 (vgl. Rn. 36 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 37 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R). Das hat auch der 10. Senat erkannt. Allerdings hat er die komplett andere Richtung seiner Rechtsprechung damit gerechtfertigt,
hier liege mit § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG eine hinreichende Rechtsgrundlage vor, bei der BSG-Entscheidung aus dem Jahr 1997 sei das dagegen nicht der Fall gewesen. Das trifft schlichtweg nicht zu. Die damalige Rechtsgrundlage,
§
15 Abs.
1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Viertes Buch (
SGB IV), hat genauso wenig auf Formalien rekurriert und eine Präklusion ermöglicht, wie es § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG tut. Sein Wortlaut ähnelte vielmehr "verdächtig" dem von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG: "Arbeitseinkommen ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn
aus einer selbständigen Tätigkeit." Zur Erinnerung nochmals § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG: "Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige
Bezüge zu behandeln sind". Der Senat sieht hier keine signifikante Wesensverschiedenheit; beide Rechtsgrundlagen erheben das
materielle Steuerrecht zum Maßstab. Hinzu kommt, dass die Umstände, denen das BSG im Jahr 1997 mangels Rechtsgrundlage keine Bindungswirkung beimessen wollte, wenigstens im Einkommensteuerbescheid (als Begründungselement)
ausdrücklich genannt waren; das ist hier wiederum nicht der Fall.
bb) Auch sonst existiert keine Rechtsnorm, aus der man - eventuell über eine analoge Anwendung - eine Rechtfertigung für die
Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung ableiten könnte. Insbesondere taugt hierfür nicht §
166 AO. Die mit "Drittwirkung der Steuerfestsetzung" überschriebene Norm lautet: Ist die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber
unanfechtbar festgesetzt, so hat dies neben einem Gesamtrechtsnachfolger auch gegen sich gelten zu lassen, wer in der Lage
gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen
Rechts anzufechten.
Das BSG hat in den Urteilen vom 14.12.2017 §
166 AO in seine Begründung aufgenommen; es hat Folgendes geschrieben (Rn. 35 des Urteils B 10 EG 7/17 R, Rn. 36 des Urteils B 10 EG 4/17 R - jeweils juris-Dokument): "Eine Lohnsteuer-Anmeldung des Arbeitgebers wirkt damit so, als hätte die Finanzverwaltung einen
entsprechenden Steuerbescheid erlassen. Der Inhalt erwächst in Bestandskraft, wenn weder der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber
noch das Finanzamt die von der
AO eröffneten Rechtsbehelfe oder andere Korrekturmöglichkeiten nutzen (vgl §
41c EStG; BFH Urteil vom 2.9.2009 - I R 111/08 - BFHE 226, 276 = BStBl II 2010, 387, stRspr; im Einzelnen, Krüger, DStJG 40 (2017) 166 f). Diese Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung erstreckt sich auf den
Arbeitnehmer, dessen Einkünfte zur Lohnsteuer angemeldet sind (§
166 AO; vgl BFH Urteil vom 16.5.2017 - VII R 25/16 - BFHE 257, 515 = BStBl II 2017, 934 mwN). Ihr gegenüber kann sich der Arbeitnehmer nicht mehr darauf berufen, die Lohnsteuer hätte rechtmäßig anders, beispielsweise
nicht unter Einrechnung sonstiger Bezüge, berechnet werden müssen (vgl BFH Urteil vom 24.8.2004 - VII R 50/03 - BFHE 207, 5; BAG Urteil vom 21.12.2016 - 5 AZR 266/16 - BAGE 157, 336; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, §
166 AO RdNr 15, Stand der Einzelkommentierung September 2017). Nicht das tatsächliche Verhalten des Arbeitgebers im Lohnsteuerabzugsverfahren
bindet dessen Beteiligte (vgl BSG Urteil vom 23.5.2017 - B 12 KR 6/16 R - SozR 4-5376 § 1 Nr 1 RdNr 23; BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 §
2 Nr 25, RdNr 26 f), wohl aber die Rechtsfolgen, die
AO und
EStG daran knüpfen. Diese Bindung erstreckt § 2c Abs 1 S 2 BEEG auf das Elterngeldverfahren, weil die Vorschrift uneingeschränkt auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren verweist."
Die Begründungen zu den Entscheidungen vom 14.12.2017 lassen nicht mit der erforderlichen Klarheit erkennen, inwieweit und
auf welche Weise das BSG §
166 AO für sein Modell fruchtbar machen will. Jedenfalls trifft die in den Urteilen enthaltene Zitierung der Vorschrift in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Bindungswirkung einer Lohnsteuer-Anmeldung für den Arbeitnehmer die Funktion des §
166 AO nicht. Richtig ist allerdings, dass der Arbeitnehmer in Bezug auf die Lohnsteuer-Anmeldung Drittbetroffener ist (vgl. dazu
BFH, Urteil vom 20.07.2005 - VI R 165/01; Heuermann, DStR 1998, S. 959 (960)). In seiner Funktion als Schuldner der Lohnsteuer (§
38 Abs.
2 Satz 1
EStG) steht ihm gegen die Lohnsteuer-Anmeldung ein Anfechtungsrecht zu, auch wenn nicht er, sondern der Arbeitgeber Adressat der
Steuerfestsetzung ist, welche die Lohnsteuer-Anmeldung fingiert (vgl. Krüger in: Drüen, Besteuerung von Arbeitnehmern, DStJG
Band 40 2017, S. 145 (165)). Wenn es der Arbeitnehmer versäumt, die Lohnsteuer-Anmeldung rechtzeitig anzufechten, erwächst diese auch ihm gegenüber
in formeller Bestandskraft. Diese durch Unanfechtbarkeit bewirkte Bindung des Drittbetroffenen - die sich darin äußert, dass
der Arbeitnehmer den Lohnsteuerabzug dulden muss und keinen Lohnsteuer-Erstattungsanspruch nach §
37 Abs.
2 AO haben kann (vgl. BFH, Urteil vom 12.10.1995 - I R 39/95) - erstreckt sich allerdings nicht auf ein Folgeverfahren. Sie existiert ausschließlich innerhalb des Erstverfahrens. Deshalb
ist §
166 AO hier nicht von Belang. Bezeichnender Weise geht es in dem an dieser Stelle vom BSG zitierten BFH-Urteil vom 16.05.2017 - VII R 25/16 auch gar nicht um die Bindung eines Arbeitnehmers in einem Folgeverfahren, sondern um die des Geschäftsführers des Arbeitgebers
in einem Haftungsverfahren, welches allgemein das typische Folgeverfahren im Sinn von §
166 AO verkörpert.
Die Funktion von §
166 AO besteht allein darin, eine Präklusion, und damit eine Bindungswirkung, für ein Folgeverfahren zu schaffen. In der oben genannten
Passage hat das BSG aber nicht die Bindung in einem Folgeverfahren angesprochen, sondern die rechtliche Betroffenheit des Arbeitnehmers im Rahmen
des Erstverfahrens. Zwar wird in der Kommentarliteratur angenommen, dass §
166 AO auch in Steuerabzugsverfahren wie dem Lohnsteuerabzugsverfahren Wirkung entfalten kann (vgl. Krumm in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
166 AO Rn. 24 (Stand: Februar 2018)). Denkbar ist dies zum Beispiel bei einer Inanspruchnahme des Arbeitnehmers für die Lohnsteuer
gemäß §
41c Abs.
4 Satz 2
EStG. Die Anfechtungsbefugnis aufgrund rechtlicher Betroffenheit des Arbeitnehmers hinsichtlich der Lohnsteuer-Anmeldung wird
aber nicht durch §
166 AO erzeugt, sondern vielmehr von dieser Vorschrift vorausgesetzt (vgl. Krumm, StuW 2012, S. 329 (341)). Der Effekt des §
166 AO äußerst sich gerade darin, dass die im Erstverfahren bestandskräftig erzielte Rechtsgestaltung in einem Folgeverfahren zu
Ungunsten des Drittbetroffenen übernommen wird. Von daher spielt §
166 AO für die Bindung des Arbeitnehmers an die Lohnsteuer-Anmeldung keine nennenswerte Rolle.
Dass §
166 AO unmittelbar nur für steuerrechtliche Folgeverfahren gilt, dürfte nicht ernsthaft bestritten werden. Das BSG scheint jedoch der Ansicht zu sein, über § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG sei §
166 AO quasi in das Elterngeldrecht transponiert worden. Das ist nicht richtig. Denn in § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG wird nur Bezug genommen auf die "lohnsteuerrechtlichen Vorgaben", welche das Verhältnis von laufendem Arbeitslohn zu sonstigem
Bezug regeln. §
166 AO gehört dazu nicht.
Aber selbst wenn das BSG §
166 AO analog für elterngeldrechtliche Folgeverfahren anwenden wollte, wäre dieses Unterfangen von vornherein nicht geeignet, eine
Bindung an die nicht angefochtene Lohnsteuer-Anmeldung zu tragen. Denn wiederum kann über §
166 AO nur die Bindung an den Regelungsausspruch des Erstverwaltungsakts transponiert werden (vgl. Krumm, a.a.O., S. 329 (333)),
nicht aber an Berechnungs- oder Begründungselemente. Der Regelungsausspruch der Lohnsteuer-Anmeldung umfasst - der Senat wiederholt
sich - lediglich die Höhe der Lohnsteuer, keinesfalls aber irgendwelche Berechnungsgrundlagen. Da also in der Lohnsteuer-Anmeldung
nicht entschieden wird, in welchem Umfang sonstige Bezüge oder laufender Arbeitslohn vorliegen, könnte man diese auch nicht
im Rahmen von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG fruchtbar machen, selbst wenn man §
166 AO analog heranzöge.
Eine analoge Anwendung von §
166 AO oder auch nur die Annahme einer Bezugnahme auf diese Vorschrift in § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG wäre mit verfassungsrechtlichen Problemen verbunden. So ist unter a) ausgeführt worden, dass an die Bestimmtheit eines Normbefehls
für eine Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung höchste Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit
zu stellen wären. Unabhängig von eventuellen rechtlichen Wirkungen im Elterngeldrecht wird für das Steuerrecht vertreten,
in Ansehung der Drittwirkung trage §
166 AO dem Vorbehalt des Gesetzes Rechnung. Einer formell-gesetzlichen Grundlage bedürfe es deshalb, weil die Drittwirkung einen
eigenständigen Eingriffswert habe (Krumm, a.a.O., S. 329 (330)). Umso mehr muss es einer besonderen, eindeutigen gesetzlichen
Regelung bedürfen, wenn in einem außersteuerlichen Rechtsgebiet eine §
166 AO vergleichbare Bindungswirkung erzeugt werden soll. Eine analoge Anwendung von §
166 AO könnte dem nicht genügen.
Hinzu kommt, dass sogar innerhalb des Steuerrechts der BFH (vgl. nur Urteil vom 16.12.1997 - VII R 30/97, Rn. 14 des juris-Dokuments) und die steuerrechtliche Literatur (vgl. Krumm, a.a.O., S. 329 (342, 344)) mit der durch §
166 AO bewirkten Präklusion eher vorsichtig und restriktiv umgehen, weil ansonsten Probleme im Hinblick auf Art.
19 Abs.
4 GG gesehen werden. So meint der BFH, ein Einwendungsausschluss für den Haftungsschuldner, der auf eine rechtlich zweifelhafte
und in ihrer Erfolgsaussicht höchst unsichere Anfechtungsbefugnis gegenüber dem Steuerbescheid gestützt werden müsste, sei
mit dem verfassungsrechtlich garantierten Rechtsschutz (Art.
19 Abs.
4 GG) des Haftungsschuldners nicht zu vereinbaren (vgl. BFH, a.a.O.). Gefordert wird, die Anfechtungsbefugnis im Erstverfahren
müsse tatsächlich einen effektiven Rechtsschutz vermitteln (vgl. Krumm, a.a.O., S. 329 (344)). Das alles gilt umso mehr für
die Annahme einer Bindungswirkung im elterngeldrechtlichen Verfahren, die ja nicht einmal explizit gesetzlich angeordnet ist.
Die Zurückhaltung der BFH-Rechtsprechung gegenüber einer ausdehnenden Anwendung von §
166 AO kommt auch darin zum Ausdruck, dass der BFH die Präklusion bei einem unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Steuerbescheid
nur dann bejaht, wenn der von dem Ausschluss Betroffene nicht nur die formelle Bestandskraft hat eintreten lassen, sondern
es zudem versäumt hat, nach §
164 Abs.
2 Satz 2
AO vorzugehen. Damit sucht der BFH einen vorschnellen Eintritt der Präklusion zu verhindern (vgl. dazu grundlegend BFH, Beschluss
vom 28.03.2001 - VII B 213/00, Rn. 18 des juris-Dokuments). Das wirkt sich gerade bei einer Steueranmeldung aus, die ja nach §
168 Satz 1
AO als Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gilt (vgl. Krumm, a.a.O., S. 329 (345 f.)).
2. Kein rechtzeitiger Eintritt der materiellen Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldungen
Die Nichtanfechtung der Lohnsteuer-Anmeldungen darf den Betroffenen auch deshalb nicht zum Nachteil gereichen, weil deren
materielle Bestandskraft in den meisten Fällen nicht bis zum Erlass des entsprechenden Einkommensteuerbescheids, welcher die
Erledigung der Lohnsteuer-Anmeldungen zur Folge hat, eingetreten sein wird. In vielen Fällen wird bis dahin nicht einmal die
Unanfechtbarkeit (formelle Bestandskraft) vorliegen. Von daher eignet sich der Eintritt der materiellen Bestandskraft der
Lohnsteuer-Anmeldungen nicht als Präklusionskriterium.
Die vom BSG erdachte Obliegenheit der Betroffenen erweist sich als nicht so unkompliziert, wie es nach der Lektüre der BSG-Urteile den Anschein hat. Dass das BSG von der Lohnsteuer-Anmeldung immer nur im Singular spricht, darf nicht den Blick darauf verstellen, dass hier die Klägerin
nach seiner Lesart zur Wahrung ihrer Rechte nicht eine, sondern nicht weniger als zwölf Lohnsteuer-Anmeldungen hätte anfechten
müssen. Denn für jeden Kalendermonat fällt eine Lohnsteuer-Anmeldung an (vgl. Wagner in: Heuermann/ders., LohnSt, Abschnitt
G Lohnsteuerabzugsverfahren (§§
38 ff.
EStG), Rn. 164 (Stand: Juli 2015)). Nach §
41a Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 EStG muss die Lohnsteuer-Anmeldung spätestens am zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums erfolgen,
der - in Übereinstimmung mit §
41a Abs.
2 Satz 1
EStG - bei der Klägerin der Kalendermonat war. Die Lohnsteuer-Anmeldung darf nicht mit der Lohnsteuerbescheinigung nach §
41b Abs.
1 EStG verwechselt werden, die in der Tat nur einmal jährlich an das Betriebsstätten-Finanzamt zu erstatten ist (bis 28. Februar
des Folgejahres, vgl. §
41b Abs.
1 Satz 2
EStG) und die das abgeschlossene Lohnkonto eines jeden Arbeitnehmers widerspiegelt. Es ist also nicht damit getan, gegen eine
einzige Lohnsteuer-Anmeldung vorzugehen. Vielmehr erfordert jeder Kalendermonat, der mit "falschen" sonstigen Bezügen besetzt
ist, eine gesonderte Anfechtung. Unabhängig von rechtlichen Erwägungen darf man sich fragen, ob es der Klägerin überhaupt
zugemutet werden konnte, sage und schreibe zwölf Rechtsstreite - zumindest Einspruchsverfahren - gegen die Finanzverwaltung
einzuleiten, nur um im Elterngeldrecht das, was eigentlich Recht ist, durchsetzen zu können.
Das BSG hat in den Urteilen vom 14.12.2017 ausgeführt, eine nach Durchführung des Lohnsteuerabzugsverfahrens bestandskräftig gewordene
Lohnsteuer-Anmeldung binde auch die Beteiligten des Elterngeldverfahrens (Rn. 35 des Urteils B 10 EG 7/17 R, Rn. 36 des Urteils B 10 EG 4/17 R - jeweils juris-Dokument). Und die seiner Ansicht nach erforderliche Bestandskraft hat es dahin definiert, der Inhalt der
Lohnsteuer-Anmeldung erwachse in Bestandskraft, wenn weder der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber noch das Finanzamt die von der
AO eröffneten Rechtsbehelfe oder andere Korrekturmöglichkeiten nutzten (a.a.O.). Das zeigt, dass das BSG die Präklusion an den Eintritt der materiellen Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung knüpfen möchte; denn es will diese
nicht nur von der Nutzung der von der
AO eröffneten Rechtsbehelfe, sondern auch von "anderen Korrekturmöglichkeiten" abhängig machen. Der Rekurs auf "andere Korrekturmöglichkeiten"
offenbart über jeden Zweifel erhaben, dass es mit der bloßen formalen Unanfechtbarkeit nicht sein Bewenden haben soll. Die
Haltung des BSG, materielle Bestandskraft erst dann anzunehmen, wenn auch sonstige Korrekturmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind, entspricht,
soweit ersichtlich, der herrschenden Meinung in der steuerrechtlichen Literatur (vgl. Seer in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
164 AO Rn. 2 (Stand: Februar 2019); Specker in: Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK
AO, §
164 AO Rn. 110 (Stand: Januar 2019); Oellerich in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, §
164 AO Rn. 1 (Stand: Juli 2015); vgl. auch BFH, Beschluss vom 12.07.2012 - I R 32/11, Rn. 18 des juris-Dokuments). Das BSG muss sich an seinen eigenen Vorgaben messen lassen. Nimmt man es beim Wort, kann die Präklusionswirkung für das elterngeldrechtliche
Verfahren nur eintreten, wenn die betreffenden Lohnsteuer-Anmeldungen auch tatsächlich materielle Bestandskraft erlangt haben.
In der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle verlieren die Lohnsteuer-Anmeldungen jedoch ihre Wirksamkeit, längst bevor materielle
Bestandskraft eingetreten ist.
§
124 Abs.
2 AO regelt für Verwaltungsakte, die dem Geltungsbereich der
AO unterfallen, wortgleich mit § 39 Abs. 2 SGB X, dass diese wirksam bleiben, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf
oder auf andere Weise erledigt sind. Die Wirksamkeit der Lohnsteuer-Anmeldungen entfällt aufgrund einer Erledigung auf andere
Weise, wenn der entsprechende Einkommensteuerbescheid erlassen ist. Lohnsteuer ist nach der Legaldefinition des §
38 Abs.
1 Satz 1
EStG Einkommensteuer, die durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben wird (vgl. Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten
im Lohnsteuerabzugsverfahren, 1998, S. 13). Es handelt sich um eine spezielle Art von Vorauszahlungen auf die Jahreseinkommensteuer
(vgl. Heuermann, a.a.O., S. 14; Krüger in: Drüen, Besteuerung von Arbeitnehmern, DStJG Band 40 2017, S. 145 (145)). Heuermann zufolge (a.a.O., S. 18) verkörpert die Lohnsteuer einen auflösend bedingten Anspruch. Sie erledige sich
und die auflösende Bedingung trete ein, wenn das Finanzamt die Jahreseinkommensteuer geltend machen könne. Dies sei einhellige
Auffassung.
Entsprechend einer Entscheidung des Großen Senats beim BFH vom 03.07.1995 - GrS 3/93 (Rn. 21 des juris-Dokuments) ist davon auszugehen, dass der BFH das Erlöschen der Lohnsteuer - ebenso wie das eines Vorauszahlungsbescheids
nach §
37 Abs.
3 Satz 1
EStG - im Zeitpunkt des Erlasses des Einkommensteuerbescheids annimmt. Folgende weitere Ausführungen des Großen Senats (Rn. 22
des juris-Dokuments) beanspruchen auch für das Verhältnis zwischen Lohnsteuer-Anmeldung und Einkommensteuerbescheid volle
Geltung: "Der den Vorauszahlungsbescheid ablösende Einkommensteuerbescheid ist nunmehr alleinige Grundlage für die Verwirklichung
des Anspruchs auf die mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstandene Einkommensteuer (§
36 Abs.1
EStG, §
218 Abs.1 Satz 1
AO 1977). Dieser und nicht mehr der Vorauszahlungsbescheid ist Grundlage für die Einbehaltung der als Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum
entrichteten Beträge."
Ist die materielle Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldungen bis zur Ablösung derselben durch den Einkommensteuerbescheid noch
nicht eingetreten, muss nach der Logik des BSG eine Präklusionswirkung ausscheiden. Denn zu der Präklusion soll es nur kommen, wenn die Lohnsteuer-Anmeldungen den Status
der Unabänderbarkeit und damit eben Bestandsfestigkeit erreichen. Dies kann von vornherein kaum jemals gelingen.
a) Vor der Erledigung der Lohnsteuer-Anmeldungen durch Erlass des Einkommensteuerbescheids wird häufig nicht einmal deren
Unanfechtbarkeit eingetreten sein. Der für die Arbeitnehmer gegen eine Lohnsteuer-Anmeldung statthafte Rechtsbehelf ist der
Einspruch (vgl. §
347 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 AO). Nach §
355 Abs.
1 Satz 1
AO beträgt die Einspruchsfrist einen Monat nach der Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Die ausnahmsweise Geltung der Jahresfrist
bei fehlender oder unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung gemäß §
356 Abs.
2 AO spielt hier keine Rolle. Daher kann der Senat es sich ersparen, sich mit dem Problem zu befassen, ob die Lohnsteuer-Anmeldung
einen schriftlichen Verwaltungsakt verkörpert, der gemäß §
356 Abs.
1 AO überhaupt einer Rechtsbehelfsbelehrung bedarf (verneinend BFH, Beschluss vom 25.06.1998 - V B 104/97, Rn. 8 ff. des juris-Dokuments).
Denn hier hat die Klägerin keinen Verwaltungsakt erhalten, der lediglich mit unzureichender Rechtsbehelfsbelehrung versehen
war, vielmehr ist ihr keinerlei Regelung zugegangen. Dieses Defizit lässt die Klägerin noch schutzwürdiger erscheinen, als
es in den von §
356 Abs.
2 AO erfassten Konstellationen der Fall ist. Voraussetzung für den Fristanlauf nach §
355 Abs.
1 Satz 1
AO ist die Bekanntgabe des jeweiligen Verwaltungsakts; daran fehlt es hier. Ist ein Verwaltungsakt einem einspruchsberechtigten
Drittbetroffenen nicht bekanntgegeben worden, beginnt für ihn eine Einspruchsfrist nicht zu laufen (Seer in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
355 AO Rn. 3 (Stand: Mai 2015)). Die Lohnsteuer-Anmeldungen werden den Arbeitnehmern gerade nicht im Sinn von §
122 AO bekanntgegeben. Bekanntgabe im Sinn von §§
122 und
351 AO kann nicht jegliches In-Erfahrung-Bringen sein, sondern bedarf einer Formalisierung. Sie bedeutet die behördlich gewollte
Mitteilung des Inhalts des Verwaltungsakts an die Beteiligten. Die Fiktion des §
168 Satz 1
AO führt wohl dazu, dass eine wirksame Bekanntgabe der Lohnsteuer-Anmeldung an den Arbeitnehmer auch durch den Arbeitgeber anstatt
ausschließlich durch die Behörde erfolgen könnte; eine Zwischenschaltung des Finanzamts dürfte nicht notwendig sein. Bekanntgegeben
werden muss allerdings gerade der betreffende Verwaltungsakt, also die in der Lohnsteuer-Anmeldung enthaltene Regelung.
Davon kann keine Rede sein, wenn Arbeitnehmer lediglich Verdienstbescheinigungen des Arbeitgebers erhalten. § 108 der Gewerbeordnung (GewO) die Rechtsgrundlage der Verdienstbescheinigungen, gehört zum Arbeitsrecht und damit zum Zivilrecht. Die Vorschrift ist in
der GewO in "Titel VII Arbeitnehmer", und da im Abschnitt "Allgemeine arbeitsrechtliche Grundsätze" verortet. In der einschlägigen
Literatur (Lembke in: Henssler/Willemsen/ Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 108 GewO Rn. 4, 6) werden Sinn und Zweck von § 108 GewO sowie Rechtsnatur des Abrechnungsanspruchs folgendermaßen beschrieben: "Die Regelung soll die ArbN in die Lage versetzen,
mittels der ordnungsgemäßen Abrechnung des Arbeitsentgelts die Berechnung ihres Entgeltanspruchs nachvollziehen und überprüfen
zu können. Der Abrechnungsanspruch dient der Transparenz. Die Transparenz erfordert dabei nicht, dass dem ArbN eine Abrechnung
darüber erteilt wird, wie sein Arbeitsentgelt richtigerweise zu berechnen wäre. Es kommt vielmehr darauf an, wie es der ArbGeb
tatsächlich berechnet hat und insb., welche Abzüge er aus welchen Gründen tatsächlich vorgenommen und welche Beträge er abgeführt
hat. Die Abrechnung bezweckt die Information über die erfolgte Zahlung. Der Sache nach ist der Abrechnungsanspruch des ArbN
ein Auskunftsanspruch hinsichtlich des vom ArbGeb im Abrechnungszeitraum an den ArbN gezahlten Arbeitsentgelts und der jeweiligen
Abzüge. Die Abrechnung dient aber nicht dazu, den ArbN davon zu entlasten, die Höhe seines Gehalts selbst zu ermitteln, falls
er eine Leistungsklage auf Entgeltzahlung erheben möchte. Der Gegenstandswert für eine eingeklagte Lohnabrechnung ist mit
5 % der Vergütung für den geltend gemachten Abrechnungszeitraum anzusetzen."
Es mag sein, dass die Entgeltbescheinigungen mittelbar auch die Beweisführung in eventuellen behördlichen Verfahren erleichtern
sollen. Das demonstriert ja auch § 2c Abs. 2 Satz 2 BEEG. Unmittelbar aber haftet den Entgeltbescheinigungen nicht andeutungsweise etwas von einem hoheitlichen Akt an. Soll den Bescheinigungen
im öffentlichen Recht eine besondere Rechtswirkung beigegeben werden, so muss das dieser Sektor des öffentlichen Rechts ausdrücklich
und gesondert regeln; wiederum dient § 2c Abs. 2 Satz 2 BEEG als Beispiel. Auch der oben erwähnte neue § 1 Abs. 1 Satz 2 SvEV bestätigt dies. Sowohl im Steuerrecht als auch im Elterngeldrecht fehlt allerdings jegliche rechtliche Grundlage, in die
Entgeltbescheinigungen eine Bekanntgabe der korrespondierenden Lohnsteuer-Anmeldungen hineinzukonstruieren.
Es bleibt dabei, dass die Lohnsteuer-Anmeldungen den Arbeitnehmern in aller Regel nicht bekanntgegeben werden. Für den betroffenen
Arbeitnehmer kann dies nur bedeuten, dass für ihn keine Anfechtungsfrist zu laufen beginnt. Ihn kann keine Verfristung, sondern
allenfalls eine Verwirkung des Einspruchsrechts treffen.
Allerdings könnte §
355 Abs.
1 Satz 2
AO zu dem Missverständnis verleiten, für den Arbeitnehmer sei hier eine ganz spezielle Regelung zur Widerspruchsfrist getroffen
worden. Satz 2 lautet: Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung
bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Zustimmung, einzulegen.
Diese Sonderregelung gilt aber nur für den Einspruch des Anmeldenden selbst. Dem wird zwar der fingierte Verwaltungsakt genauso
wenig bekanntgegeben. Jedoch weiß er zwangsläufig davon, weil er selbst ja die Anmeldung vorgenommen und so die Regelung erzeugt
hat. Daher bemisst das Gesetz folgerichtig die Einspruchsfrist auf einen Monat ab dem Eingang der Steueranmeldung beim Finanzamt.
Für einen Dritten, der allenfalls eine diffuse Ahnung haben kann, darf diese Regelung nicht gelten. Dies wird auch in der
Kommentarliteratur zur
Abgabenordnung so vertreten (vgl. Werth in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, §
355 AO Rn. 20 (Stand: Mai 2018); Seer in: Tipke/Kruse,
AO FGO, §
355 AO Rn. 17 (Stand: Februar 2019); vgl. auch Birnbaum in: Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK
AO, §
355 AO Rn. 29 (Stand: Januar 2019), wobei dort nicht auf den speziellen Fall eingegangen wird, dass wie hier Steuerpflichtiger und
Steuerschuldner auseinanderfallen). Würde man §
355 Abs.
1 Satz 2
AO auch auf den Arbeitnehmer als Dritten im Rahmen der Lohnsteuer-Anmeldung anwenden, wäre das Gebot effektiven Rechtsschutzes
gemäß Art.
19 Abs.
4 GG verletzt.
Das Problem, wie mit Rechtsbehelfsfristen umzugehen ist, wenn der Verwaltungsakt - zum Beispiel eine dem Nachbarn erteilte
Baugenehmigung oder eine dem Konkurrenten erteilte Lizenz - einem Drittbetroffenen nicht bekanntgegeben worden ist, stellt
sich auch im allgemeinen Verwaltungsrecht. Die herrschende Meinung geht davon aus, dass eine Rechtsbehelfsfrist in solchen
Fällen nicht zu laufen beginnt, dass aber eine Verwirkung möglich ist (vgl. statt aller Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 (186 f.)). So kann im Baurecht derjenige, dem die an seinen Nachbarn adressierte Baugenehmigung nicht zugeleitet worden ist,
mit einem Widerspruch nicht beliebig zuwarten. Er muss bald, nachdem er sichere Kenntnis von der Baugenehmigung für seinen
Nachbarn erlangt hat, handeln.
Grundsätzlich wird man eine solche Verwirkung auch im Fall des Arbeitnehmers in Bezug auf die Lohnsteuer-Anmeldung bejahen
müssen. Insoweit aber kurzerhand eine Monatsfrist ab Zugang der Verdienstbescheinigung heranzuziehen, wäre nach hiesiger Ansicht
grob falsch. Vieles - vor allem die Parallelen zu anderen Rechtsgebieten - spricht vielmehr dafür, hierbei zumindest die Jahresfrist
analog §
356 Abs.
2 AO zur Anwendung zu bringen. Wenn man bedenkt, dass §
356 Abs.
2 AO für die bloße Unvollständigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung, die im Vergleich zur fehlenden Bekanntgabe überhaupt geradezu
banal anmutet, die Rechtsfolge der Jahresfrist vorsieht, dann darf die Verwirkung des Einspruchsrechts im vorliegenden Fall
nicht auf eine nur kurze Frist beschränkt werden. An dieser Stelle gilt es, jeglichen Versuchen entgegenzuwirken, aufgrund
der zugegangenen Verdienstbescheinigungen die Schutzwürdigkeit der betroffenen Arbeitnehmer zu negieren. Wie unten gezeigt
werden wird, darf ein Arbeitnehmer angesichts der Verdienstbescheinigung allenfalls in die Zukunft gerichtet annehmen, der
Arbeitgeber werde seine Bezüge so versteuern, wie er es in der Verdienstbescheinigung angegeben habe. Das ist alles; von sicherer
Kenntnis kann keine Rede sein. Dem Arbeitnehmer wird durch die Verdienstbescheinigung nicht einmal die Erkenntnis vermittelt,
es werde über die für die Betriebsstätte monatlich abzuführende Lohnsteuer eine fingierte Regelung ergehen. Geschweige denn
erfährt er Anhaltspunkte dafür, er müsse unter Umständen gegen diese fingierte Regelung rechtlich vorgehen. Von einer ordentlichen
Rechtsbehelfsbelehrung - an deren Vorhandensein die Monatsfrist geknüpft ist - soll erst gar nicht gesprochen werden.
Der Fall der Klägerin bestätigt diese Überlegungen eindrucksvoll. Bei dieser fiel das Ereignis, das sämtliche Lohnsteuer-Anmeldungen
erledigte und damit ihrer rechtlichen Wirkung beraubte, auf den 04.04.2016, dem Tag der Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids.
Wer wollte der Klägerin vorhalten, das Einspruchsrecht gegen die letzte Lohnsteuer-Anmeldung, die für den Monat Dezember 2015
bis spätestens 10.01.2016 abzugeben war (vgl. §
41a Abs.
1 Satz 1
EStG), sei bereits am 04.04.2016 verwirkt gewesen? Gleiches gilt aber auch für die Lohnsteuer-Anmeldungen der Monate November
2015, Oktober 2015 usw. Nicht einmal im Hinblick auf die Lohnsteuer-Anmeldung für Januar 2015 lässt sich mit voller Überzeugung
und ohne viel zu überlegen proklamieren, das Einspruchsrecht sei verwirkt. Der Senat will nicht insinuieren, es sei rechtlich
ausgeschlossen, dass bezüglicher einzelner, weiter zurückliegender Lohnsteuer-Anmeldungen bereits eine Verwirkung eingetreten
sein könnte. Aber all das zeigt, dass die Annahme einer Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung im Elterngeldrecht
für die vollziehenden Behörden keinen Entlastungseffekt bringt, sondern sie im Gegenteil in unübersehbare Verstrickungen zieht.
Wenn die Arbeitnehmer ihre Einkommensteuererklärungen auch nur halbwegs zeitnah abgeben, dürfte es nach oben Gesagtem gerade
nicht die Ausnahme sein, dass die Einspruchsfrist im Zeitpunkt der Erledigung noch nicht abgelaufen war. An dieser Stelle
sei nochmals unterstrichen, dass man es nicht nur mit einer, sondern mit zwölf Lohnsteuer-Anmeldungen zu tun hat. Für jede
einzelne muss die Unanfechtbarkeit geprüft werden, was zugleich bedeutet, für jede einzelne Lohnsteuer-Anmeldung Überlegungen
zur Verwirkung anzustellen. Und - der Senat wiederholt sich - es ist nicht damit getan, ohne viel Federlesens eine Frist von
einem Monat ab Zugang der jeweiligen Verdienstbescheinigung anzuwenden. Allein diese mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit
verbundene Prüfungslast hätte das Potenzial, den Vollzug des Elterngeldrechts massiv zu beeinträchtigen. In Relation dazu
erscheint es ungleich einfacher, das materielle Lohnsteuerrecht anzuwenden, wie es das BSG in den Urteilen vom 14.12.2017 vorgegeben hat.
Unverständlich wirkt folgende Passage in den BSG-Urteilen vom 14.12.2017 (Rn. 37 des Urteils B 10 EG 7/17 R, Rn. 38 des Urteils B 10 EG 4/17 R - jeweils juris-Dokument): "Indes wird die Erklärung des Arbeitgebers, er habe bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige
Bezüge zur Lohnsteuer angemeldet, regelmäßig den Schluss erlauben, dass diese Anmeldung bestandskräftig geworden ist und deshalb
die Beteiligten des Elterngeldverfahrens bindet, wenn nicht konkrete tatsächliche Anhaltspunkte entgegenstehen."
Die "Erklärung des Arbeitgebers", von der das BSG spricht, will es den Lohn- und Gehaltsbescheinigungen entnehmen. Daran ist falsch, dass die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen
nicht die konkludente Erklärung des Arbeitgebers enthalten, er habe bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge zur
Lohnsteuer angemeldet. Das BSG übersieht, dass die Lohn- und Gehaltsbescheinigung regelmäßig früher zugeht, als die Lohnsteuer angemeldet wird. Die Lohnsteuer-Anmeldung
hat gemäß §
41a Abs.
1 Satz 1
EStG spätestens am zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnzahlungszeitraums zu erfolgen. Verdienstbescheinigungen gehen dagegen
regelmäßig bereits vor der Zahlung des Arbeitsentgelts zu. Somit darf man der Entgeltbescheinigung allenfalls eine in die
Zukunft gerichtete Aussage entnehmen, nämlich, der Arbeitgeber werde bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge zur
Lohnsteuer anmelden. Das bedeutet einen großen Unterschied: Denn bei der falschen Interpretation durch das BSG, dass ein in der Vergangenheit liegender Umstand bestätigt wird, mag man sich ungleich schneller die fatale Meinung bilden,
damit wisse der betroffene Arbeitnehmer nun genug, um schleunigst etwas gegen die Lohnsteuer-Anmeldung zu unternehmen. Bei
einer bloßen Ankündigung, wie es tatsächlich der Fall ist, fehlt dieses Gewissheitsmoment.
Vor allem aber widersetzt sich der Senat der vom BSG gezogene Folgerung - man kann auch von einer Vermutung sprechen -, allein die Ausstellung einer Verdienstbescheinigung lasse
den regelmäßigen Schluss auf die materielle Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung zu. Gern wüsste der Senat, welche Überlegungen
das BSG zu diesem Schluss haben kommen lassen. Das BSG hat allerdings keine Begründung dazu gegeben. Nach hiesiger Einschätzung wird es sich auch schwertun, eine schlüssige zu
finden. Der Senat jedenfalls vermag keinen rechtlichen Ansatzpunkt zu erkennen, der es ihm ermöglichen würde, dem BSG insoweit zu folgen.
b) Unabhängig von der dargestellten Problematik in Bezug auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit muss die Präklusion auch daran
scheitern, dass jedenfalls kaum einmal die materielle Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldungen eintreten wird. Als fingierter
Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung kann die Festsetzung der Lohnsteuer jederzeit geändert werden (§
164 Abs.
2 AO). Daraus zieht ein Teil der Kommentarliteratur den Schluss, eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung könne,
solange der Vorbehalt bestehe, keine materielle Bestandskraft erlangen (vgl. die Nachweise oben vor a). Auch das BSG scheint dieser Meinung zu folgen. Denn in den Urteilen vom 14.12.2017 hat es für den Eintritt der erforderlichen Bestandskraft
- auch das ist vor a) bereits ausgeführt worden - nicht nur deren Unanfechtbarkeit, sondern auch verlangt, dass von anderen
Korrekturmöglichkeiten kein Gebrauch gemacht worden ist. Dann aber muss man hinnehmen, dass die materielle Bestandskraft solange
nicht eintreten kann, als der Vorbehalt der Nachprüfung noch existiert. Dies erfährt dadurch Bestätigung, dass der BFH sogar
die Drittbindungswirkung des §
166 AO für eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung ablehnt, solange der Vorbehalt besteht (vgl. BFH, Urteil vom 16.05.2017
- VII R 25/16, Rn. 11, und vor allem BFH, Beschluss vom 28.03.2001 - VII B 213/00, Rn. 18 f.). Eine andere Korrekturmöglichkeit im Sinn der Urteile vom 14.12.2017 ist im Antrag nach §
164 Abs.
2 Satz 2
AO zu sehen; dieser steht nicht nur dem Arbeitgeber als "Adressaten" der fiktiven Lohnsteuerfestsetzung zu, sondern auch dem
unmittelbar in eigenen Rechten betroffenen Arbeitnehmer. Der Vorbehalt der Nachprüfung endet durch seine Aufhebung (vgl. §
164 Abs.
3 AO) oder durch den Ablauf der Festsetzungsfrist (vgl. §
164 Abs.
4 AO). Fast immer werden beide Beendigungstatbestände noch nicht eingetreten sein, wenn sich die jeweilige Lohnsteuer-Anmeldung
durch den Erlass des Einkommensteuerbescheids erledigt.
Zusammenfassend dürfen die Elterngeldbehörden keineswegs bedenkenlos davon ausgehen, eine Lohnsteuer-Anmeldung sei materiell
bestandskräftig geworden. Dies wird vielmehr nur im Ausnahmefall festgestellt werden können und bedarf auf jeden Fall einer
genauen Prüfung aller zwölf Lohnsteuer-Anmeldungen.
Unzulässig wäre es, die dargestellten Probleme dadurch zu umgehen, dass die Erledigung der Lohnsteuer-Anmeldungen durch Erlass
des Einkommensteuerbescheids mit deren materieller Bestandskraft gleichgesetzt wird. Es kann nicht genug betont werden, dass
materielle Bestandskraft die Zementierung einer Regelung im Sinn ihrer prinzipiellen Unaufhebbarkeit bedeutet. Nur dazu darf
es der Betroffene bei einer an die materielle Bestandskraft anknüpfenden Präklusion nicht kommen lassen. Bleibt die Verfestigung
dagegen aus anderen Gründen als durch Einlegung eines Einspruchs oder durch einen Antrag nach §
164 Abs.
2 Satz 2
AO aus, muss der Betroffene von dem daran anknüpfenden Nachteil verschont bleiben. Die Präklusion darf deshalb nicht lapidar
damit begründet werden, die betroffenen Arbeitnehmer hätten nichts unternommen, solange die Lohnsteuer-Anmeldungen noch wirksam
gewesen seien - diese Betrachtungsweise ließe die essentielle Bedeutung der materiellen Bestandskraft unberücksichtigt. Außerdem
würden die Betroffenen dazu animiert, ihre Einkommensteuererklärung möglichst lange hinauszuzögern, um die Erledigung zu verhindern.
Das BSG wird seinem eigenen Modell, dass nämlich die materiell bestandskräftige Lohnsteuer-Anmeldung im elterngeldrechtlichen Verfahren
Bindungswirkung entfalten und eine Präklusion nach sich ziehen soll, untreu, wenn es in beiden Urteilen vom 14.12.2017 (Rn.
49 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 50 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) ins Feld führt, der Arbeitnehmer könne ja den Arbeitgeber dazu anhalten, auf der Grundlage von §
41c Abs.
1 EStG die falsche lohnsteuerrechtliche Behandlung im Folgemonat zu korrigieren. Zwar wollte das BSG damit lediglich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung gegen eine unverhältnismäßige Belastung der betroffenen Arbeitnehmer
argumentieren. Gleichwohl hält es der Senat für erforderlich zu unterstreichen, dass das Unterlassen eines solchen Vorgehens
nach dem Modell des BSG keine Präklusion auszulösen vermag, weil es selbstverständlich keine materielle Bestandskraft der Lohnsteuer-Anmeldung herbeiführt.
Dagegen, diesen Weg als effiziente Abhilfemöglichkeit anzusehen, spricht erstens, dass der Arbeitgeber keineswegs auf die
Bitte des Arbeitnehmers eingehen muss, und zweitens, dass die für den Arbeitnehmer bestehende Frist, die Korrektur zu initiieren,
viel zu kurz erscheint. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass eine Korrektur durch den Arbeitgeber im Folgemonat
nicht die Lohnsteuer-Anmeldung für den Vormonat abändert; vielmehr fällt der im Folgemonat angemeldete Steuergesamtbetrag
nur entsprechend niedriger aus.
3. Fehlende Beschwer in Bezug auf einen Einspruch gegen eine Lohnsteuer-Anmeldung
Den Betroffenen zum Nachteil gereichen zu lassen, dass sie die Lohnsteuer-Anmeldung nicht angefochten haben, erscheint auch
vor dem Hintergrund problematisch, dass die Einspruchsbehörden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Beschwer des jeweiligen
Arbeitnehmers ablehnen würden. Mit Sicherheit aber hätten sie gerade im vorliegenden Fall so gehandelt.
Grundsätzlich kann eine für einen Einspruch hinreichende Beschwer nur durch einen Nachteil in steuerrechtlich geschützten
Interessen begründet werden. Ein solcher Nachteil liegt hier nicht vor. Denn im Lohnsteuerrecht stellt sich die Behandlung
als sonstiger Bezug günstiger dar als die als laufender Arbeitslohn (davon geht offenbar auch das BSG aus, vgl. Urteile vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R, Rn. 49 des juris-Dokuments, und B 10 EG 4/17 R, Rn. 50 des juris-Dokuments: es spricht von "Steuervorteilen"). Das liegt an der spezifischen Berechnungsweise der monatlich
abzuführenden Lohnsteuer. Nach §
38a Abs.
1 Satz 1
EStG bemisst sich die Jahreslohnsteuer nach dem Arbeitslohn, den der Arbeitnehmer im Kalenderjahr bezieht, dem Jahresarbeitslohn.
Ziel dabei ist, die auf den Jahresarbeitslohn geschuldete Einkommensteuer möglichst genau zu erfassen (vgl. §
38a Abs.
2 EStG). Allerdings wird die Lohnsteuer nicht erst nach Ablauf des Kalenderjahrs erhoben, auch wenn es sich bei ihr um eine Jahressteuer
handelt. Vielmehr erfolgt die Erhebung bereits laufend während des Jahres. Das führt dazu, dass zum Zeitpunkt der jeweiligen
Abführung außer bei der letzten Lohnzahlung innerhalb eines Kalenderjahrs nicht unbedingt sicher absehbar ist, wie hoch der
Arbeitslohn denn am Ende des Jahres sein wird. Daher bedarf es für die monatliche Abführung einer näherungsweisen Berechnung.
Die legt §
38a Abs.
3 EStG fest: 1Vom laufenden Arbeitslohn wird die Lohnsteuer jeweils mit dem auf den Lohnzahlungszeitraum fallenden Teilbetrag der
Jahreslohnsteuer erhoben, die sich bei Umrechnung des laufenden Arbeitslohns auf einen Jahresarbeitslohn ergibt.2Von sonstigen
Bezügen wird die Lohnsteuer mit dem Betrag erhoben, der zusammen mit der Lohnsteuer für den laufenden Arbeitslohn des Kalenderjahres
und für etwa im Kalenderjahr bereits gezahlte sonstige Bezüge die voraussichtliche Jahreslohnsteuer ergibt.
Die Einzelheiten der Berechnung regelt §
39b EStG, wobei Absatz
2 die Höhe der Lohnsteuer vom laufenden Arbeitslohn und Absatz 3 von sonstigen Bezügen zum Gegenstand haben. Stets muss im
ersten Schritt der Lohnzahlungszeitraum realisiert werden, im Fall der Klägerin der Kalendermonat. Hinsichtlich des im jeweiligen
Lohnzahlungszeitraum gezahlten laufenden Arbeitslohns muss so getan werden, als ob just dieser Betrag in jedem der zwölf Kalendermonate
anfällt. Es wird also durch Multiplikation mit zwölf und nach einer in §
39b Abs.
2 EStG geregelten Bereinigung ein fiktiver Jahresarbeitslohn errechnet (§
39b Abs.
2 EStG spricht vom "hochgerechneten" Jahresarbeitslohn), der nur aus laufendem Arbeitslohn besteht. Von diesem fiktiven Jahresarbeitslohn
wird dann eine Jahreslohnsteuer berechnet. Den Monatsbetrag erhält man, indem man diese Jahreslohnsteuer durch zwölf teilt.
Treten in einem bestimmten Kalendermonat sonstige Bezüge hinzu, so erfolgt die Berechnung der im jeweiligen Monat abzuführenden
Lohnsteuer nach Maßgabe von §
39b Abs.
3 EStG: Zunächst wird für den laufenden Arbeitslohn dieses Monats genau nach dem eben geschilderten Prinzip die Lohnsteuer ermittelt
(vgl. §
39b Abs.
3 Satz 4
EStG). Es wird also zuerst ein voraussichtlicher Jahresarbeitslohn ohne den sonstigen Bezug, der als fiktiver Jahresarbeitslohn
bezeichnet wird, gebildet (vgl. §
39b Abs.
3 Satz 1
EStG) und daraus die Jahreslohnsteuer errechnet - allerdings bleibt das "Herabbrechen" der Jahreslohnsteuer auf den einzelnen
Monat hier aus. §
39b Abs.
3 Satz 5
EStG schreibt vor, dass außerdem die Jahreslohnsteuer für den maßgebenden Jahresarbeitslohn im Sinn von §
39b Abs.
3 Satz 4
EStG unter Einbeziehung des sonstigen Bezugs zu ermitteln ist. Das bedeutet, dass zu dem fiktiven Jahresarbeitslohn der jeweilige
sonstige Bezug hinzuaddiert werden muss. Man hat es also mit zwei verschiedenen auf das Jahr bezogenen Entgeltbeträgen zu
tun: einerseits ohne den sonstigen Bezug, andererseits mit dem sonstigen Bezug. Auch für den Jahresarbeitslohn unter Einbeziehung
des sonstigen Bezugs wird die Jahreslohnsteuer ermittelt. Der Unterschiedsbetrag zwischen beiden Jahreslohnsteuerbeträgen
entspricht der auf den sonstigen Bezug entfallenden Lohnsteuer (vgl. §
39b Abs.
3 Satz 8
EStG). Anders als es §
38a Abs.
3 Satz 2
EStG und auch R 39b.6 LStR vermuten lassen, werden in dieser Berechnung gerade nicht weitere sonstige Bezüge berücksichtigt.
Als Konsequenz entsteht, wenn häufiger als in einem einzigen Kalendermonat ein sonstiger Bezug gezahlt wird, ein Progressionsvorteil,
der bei einer Einstufung als laufender Arbeitslohn nicht gegeben wäre. Denn der sonstige Bezug wird hinsichtlich der Wirkungsweise
der Steuerprogression so behandelt, als ob er der einzige im gesamten Kalenderjahr wäre. Nach Maßgabe von §
39b Abs.
3 EStG ist daher die Lohnversteuerung als sonstiger Bezug grundsätzlich etwas günstiger als diejenige als laufender Arbeitslohn.
Selbst wenn man, wie es §
38a Abs.
3 Satz 2
EStG verlangt, die im Kalenderjahr bereits vorher gezahlten sonstigen Bezüge mitberücksichtigen würde, käme man allenfalls zum
Ergebnis, dass die Behandlung als sonstiger Bezug nicht ungünstiger wäre im Vergleich zu der als laufender Arbeitslohn.
Wollte ein Arbeitnehmer im Wege des Einspruchs geltend machen, bei ihm lägen laufender Arbeitslohn und keine sonstigen Bezüge
vor, würde er also einen größeren steuerrechtlichen Nachteil verlangen. Denn ein solches Begehren würde, wenn "sonstige Bezüge"
wie bei der Klägerin allmonatlich gezahlt werden, in eine höhere Lohnsteuer münden. Nur so ist zu erklären, dass alle einschlägigen
Entscheidungen des BFH zur Anfechtung einer Steueranmeldung durch den vom Anmeldenden personenverschiedenen Steuerschuldner
Entgeltbestandteile betrafen, bei denen streitig war, ob sie überhaupt einkommensteuerrechtlichen Zufluss darstellten, und
damit, ob überhaupt Lohnsteuer abzuführen war. Eine finanzgerichtliche Entscheidung, bei der ein Bürger die Behandlung als
laufenden Arbeitslohn statt als sonstigen Bezug erreichen wollte, hat der Senat bis heute nicht zu entdecken vermocht.
Allerdings ist anerkannt, dass eine hinreichende Beschwer auch durch außersteuerrechtliche benachteiligende Rechtswirkungen
begründet werden kann. Hoher Aussagekraft kommt insoweit dem bereits unter 1. thematisierten BFH-Urteil vom 20.12.1994 - IX R 124/92 zu, welches eine Feststellungswirkung des Einkommensteuerbescheids für das BAföG-Verfahren betraf. Der BFH hat den Leitsatz formuliert, der Adressat eines Einkommensteuerbescheids sei trotz einer auf null
lautenden Steuerfestsetzung beschwert, wenn in dem Bescheid positive Einkünfte im Sinn des §
2 Abs.1 und 2
EStG angesetzt seien und deshalb der Antrag eines Angehörigen auf Gewährung von Leistungen nach dem BAföG abgelehnt würde. Die Haltung des BFH lässt sich der folgenden Passage aus dem Urteil vom 29.05.1996 - III R 49/93 entnehmen: "Nur ausnahmsweise kann eine Beschwer im unzutreffenden Ansatz einzelner Besteuerungsgrundlagen liegen, und zwar
dann, wenn diese für andere Verfahren bindend sind (Urteile des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 20. Dezember 1994 IX R 124/92, BFHE 176, 409, BStBl II 1995, 628, sowie IX R 80/92, BFHE 177, 44, BStBl II 1995, 537). Eine derartige Bindung besteht nach dem BFH-Urteil in BFHE 176, 409, BStBl II 1995, 628 sowie nach der dort zitierten Rechtsprechung des BVerwG im Verfahren zur Gewährung von Leistungen nach dem BAföG hinsichtlich der in einem Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen positiven Einkünfte i.S. des §
2 Abs.1 und 2 des
Einkommensteuergesetzes (
EStG). Denn der Einkommensbegriff des BAföG richtet sich -von Modifizierungen abgesehen- nach der Summe der positiven Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts (§
21 Abs.1 Satz 1 BAföG). Aus der Regelung in § 24 Abs.2 Satz 3 BAföG, wonach in bestimmten Fällen über einen Antrag auf Ausbildungsförderung erst nach Vorliegen des Einkommensteuerbescheids
zu entscheiden ist, ist zu folgern, daß die Ämter für Ausbildungsförderung die in einem solchen Bescheid aufgeführten positiven
Einkünfte bei der Ermittlung der Ausbildungsförderung zu übernehmen haben."
Zu dieser Handhabung hatte sich der BFH entschlossen, weil acht Jahre vorher das BVerwG im Ausbildungsförderungsrecht diese
Bindungswirkung proklamiert hatte (Beschluss vom 18.02.1986 - 5 B 84/85 sowie Beschluss vom 28.06.1985 - 5 B 17/84). Allerdings hat der BFH das Ergebnis des BVerwG nicht unbesehen akzeptiert, sondern er hat für sich in Anspruch genommen,
selbst zu prüfen, ob das BAföG tatsächlich eine entsprechende Bindungswirkung normiert. Daher ist nicht damit zu rechnen, dass die Einspruchsbehörden und
die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit ohne weiteres und sofort die neue BSG-Rechtsprechung zur Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung im Rahmen der Prüfung einer Beschwer übernehmen
werden.
Immerhin bezog sich auch die seinerzeit fragliche Bindungswirkung nicht auf den Regelungsausspruch des Steuerbescheids, sondern
auf ein Begründungselement, nämlich auf die positiven Einkünfte im Sinn des Einkommensteuerrechts. Allerdings wurde in § 24 Abs. 2 BAföG das die Bindungswirkung vermittelnde Medium, nämlich der Steuerbescheid, ausdrücklich als solches genannt. Es war mit den
Händen zu greifen, dass der Gesetzgeber die verbindliche Orientierung am Einkommensteuerbescheid voraussetzte. Zudem eignete
sich der Einkommensteuerbescheid in idealer Weise, weil darin die positiven Einkünfte im Sinn des Einkommensteuerrechts stets
explizit genannt werden. Die Annahme einer Bindungswirkung lag daher nicht fern. Bei der vom BSG proklamierten Bindungswirkung ist das anders. § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG deutet nicht einmal entfernt eine Indienstnahme der Lohnsteuer-Anmeldung an. Und zudem sucht man bei der Lohnsteuer-Anmeldung
in all ihren Bestandteilen die Differenzierung nach laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen vergebens; denn diese weist
keinen begründenden Teil auf. Vor diesem Hintergrund erscheint die Gefahr sehr hoch, dass die Finanzgerichtsbarkeit und die
Einspruchsbehörden anders als das BSG eine Bindungswirkung verneinen und daher keine Beschwer für einen Einspruch gegen die Lohnsteuer-Anmeldung sehen würden.
Während es allgemein angemessen erscheint, von einer lediglich "hohen Gefahr" zu sprechen, kann man die Verneinung einer Beschwer
für Lohnzahlungszeiträume vor Dezember 2017 - der Monat der grundlegenden Änderung in der BSG-Rechtsprechung - als sicher einstufen. Hätte die Klägerin im Jahr 2015 oder 2016 eine Lohnsteuer-Anmeldung angefochten, hätte
die Einspruchsbehörde mit Sicherheit den Einspruch als unzulässig verworfen, weil keine Beschwer gesehen worden wäre. Seinerzeit
hätte die Einspruchsbehörde der Klägerin vorgehalten, es gebe nichts, was zu deren Gunsten korrigiert werden könnte. Damals
war die Linie in der BSG-Rechtsprechung, die ab dem 14.12.2017 eingeschlagen worden ist, nicht ansatzweise zu erahnen. Die damals aktuelle BSG-Rechtsprechung (basierend auf den Urteilen vom 26.03.2014) ließ in keiner Weise erwarten, dass irgendwann einmal eine Bindungswirkung
der Lohnsteuer-Anmeldung behauptet würde. Angesichts dessen hätte die Einspruchsbehörde auch einen außersteuerrechtlichen
Nachteil verneinen müssen.
Unabhängig davon wird auf einen weiteren Aspekt zur Beschwer hingewiesen, der die Unzuträglichkeiten des vom BSG gewählten Modells verdeutlicht. Wendet man den Blick hin zu den spezifischen Verhältnissen der betroffenen Person, drängt
sich die Folgefrage auf, welche Sachverhalte vorliegen müssen, damit eine Beschwer überhaupt hinreichend konkret erscheinen
könnte. Der frühestmögliche Zeitpunkt insoweit ist das Schwangerwerden. Nun umfasst der Bemessungszeitraum für das Elterngeld
nicht selten Monate, in denen eine Schwangerschaft noch überhaupt nicht absehbar war - so auch bei der Klägerin. Würde eine
Person gegen solche Monate betreffende Lohnsteuer-Anmeldungen vorgehen, wäre die von ihr geltend gemachte Beschwer - ein Nachteil
im Elterngeldrecht - abstrakt, ja geradezu spekulativ. Schon von daher hätte sie mit einem Einspruch keine Erfolgsaussichten.
Unter diesem Blickwinkel werden geburtsfernere Bemessungsmonate "benachteiligt". Dies würde bei der Bemessung des Elterngelds
zu fast schon willkürlichen Verwerfungen führen, die vor dem allgemeinen Gleichheitssatz kaum standhalten könnten.
4. Fremdbestimmung durch die Arbeitgeber
Bedenken bestehen auch insoweit, als die determinierende Handhabung durch die Arbeitgeber das Maß dessen überschreiten könnte,
das nach dem verfassungsrechtlichen Gebot demokratischer Legitimation noch zulässig wäre. Der Senat legt sich hier nicht fest,
sieht jedoch eine erhebliche Gefahr.
Die BSG-Rechtsprechung vom 14.12.2017 hat der Vorgehensweise der Arbeitgeber eindeutig eine Prärogative eingeräumt. Zwar konzediert
auch das BSG, dass den Entgeltbescheinigungen keine Verbindlichkeit, sondern - wie es § 2c Abs. 2 Satz 2 BEEG ausdrücklich regelt - nur eine widerlegbare Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit zukommt. De facto hat es aber für
Fälle, bei denen der Bemessungszeitraum vor dem 14.12.2017 liegt (im Folgenden: Altfälle), dafür gesorgt, dass die Elterngeldbehörden
die Verdienstbescheinigung ohne großes Nachdenken "abschreiben" können. Es hat nämlich unterstellt, der Inhalt der Verdienstbescheinigungen
würde sich in den Lohnsteuer-Anmeldungen eins zu eins wiederfinden und eine Verdienstbescheinigung würde eine Art Vermutung
dafür erzeugen, dass die Lohnsteuer-Anmeldung bestandskräftig sei. Dass Letzteres falsch ist, hat der Senat unter 2. begründet.
Auch Ersteres scheint nicht zu stimmen; immerhin hat der Senat bereits über einen Fall entscheiden müssen (L 9 EG 28/18), wo es augenscheinlich zu einem Auseinanderfallen der Angaben in den Verdienstbescheinigungen und der tatsächlich erfolgten
Versteuerung gekommen war. Vor allem aber wird kaum ein Betroffener in einem Altfall von der vom BSG eingeräumten Abhilfemöglichkeit Gebrauch gemacht haben; denn niemand konnte während des Bemessungszeitraums erahnen, dass
er, um im Elterngeldrecht keine Rechte zu verlieren, die Lohnsteuer-Anmeldungen würde anfechten müssen. Für Altfälle läuft
damit die Möglichkeit zur Vermeidung der Präklusion leer; bei jenen wird vielmehr die Deklarierung in den Verdienstbescheinigungen
ohne Abstriche im Rahmen der Elterngeldbewilligung umgesetzt.
Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass es dadurch zu einer Unterschreitung des verfassungsrechtlich gebotenen Legitimationsniveaus
kommen könnte. Legitimationsbedürftig ist jegliche Ausübung von Staatsgewalt (vgl. Art.
20 Abs.
2 Satz 1
GG). Das zu prüfende Legitimationsobjekt ist die Zuerkennung von Elterngeld. Man hat zu fragen, ob die Bewilligung von Elterngeld
in Fällen wie dem vorliegenden - wo der Arbeitgeber zu Unrecht sonstige Bezüge deklariert - noch hinreichend vom Staat kontrolliert
wird. Denn es muss ein ausreichender Zurechnungszusammenhang zwischen dem Staatsvolk als Legitimationssubjekt und der jeweiligen
Ausübung der Staatsgewalt bestehen.
Die Funktionsträger des Beklagten verfügen ohne Zweifel über eine hinreichende demokratische Legitimation - auf der Grundlage
einer so genannten Legitimationskette -, was wiederum ihren Akten Legitimität verleiht. Allerdings genügt es nicht, dass zwar
formal eine Behörde der unmittelbaren Staatsverwaltung die Entscheidung trifft, diese aber inhaltlich durch eine nicht legitimierte
Stelle faktisch verbindlich vorgegeben ist. Denn das Gebot demokratischer Legitimation bezieht sich nicht nur auf den letzten
Akt der Ausübung staatlicher Gewalt (hier den Erlass des Bewilligungsbescheids), sondern auch auf den Prozess der Entscheidungsfindung.
So gelten als Ausübung von Staatsgewalt gleichermaßen Entscheidungen, die nach außen wirken, wie auch solche, die nur behördenintern
die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schaffen (vgl. BVerfGE 47, 253 (272 f.); 77, 1 (40); 83, 60 (73); 93, 37 (68); 107, 59 (87)). Beispielsweise dürfen auch Verwaltungsvorschriften - die Binnenrecht
verkörpern - nur von demokratisch legitimierten Staatsorganen erlassen werden. Zusammenfassend darf der Staat bei der Ausübung
von Staatsgewalt den Entscheidungsprozess nicht signifikant "aus der Hand geben".
Dagegen kann nicht eingewandt werden, im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahren nehme der Arbeitgeber ganz ähnliche Funktionen
wahr, ohne dass Bedenken hinsichtlich der demokratischen Legitimation bestünden. Dabei würde verkannt, dass der im Lohnsteuerverfahren
betroffene Arbeitnehmer stets über ein "Zugriffsrecht" auf die Lohnsteuer-Anmeldung verfügt. Er kann diese nicht nur anfechten,
sondern nach §
164 Abs.
2 Satz 2
AO eine Änderung verlangen, auf die er, sollte die Lohnsteuer-Anmeldung tatsächlich falsch sein, auch einen Rechtsanspruch hätte
(vgl. Specker in: Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK
AO, §
164 AO Rn. 116 (Stand: Januar 2019)). Schließlich liegt es in seiner Hand, durch Abgabe der Einkommensteuererklärung die Generalbereinigung
mittels Veranlagung zur Einkommensteuer zu bewirken. Vor diesem Hintergrund kann nicht wirklich von einer Fremdbestimmung
durch den Arbeitgeber gesprochen werden. Im Elterngeldverfahren wird die Relevanz des Lohnsteuerverfahrens dagegen perpetuiert
und zementiert; die Lohnsteuer-Anmeldungen stellen nicht wie innerhalb des Steuerrechts eine lediglich temporäre Erscheinung
bis zum Erlass des Einkommensteuerbescheids dar. Sie legen nicht bloße Vorauszahlungen oder Abschläge fest, sondern determinieren
die endgültige Leistung. Die Korrekturmöglichkeiten im Lohnsteuerverfahren wirken sich mittelbar zwar auch auf die rechtlichen
Verhältnisse im Elterngeldrecht aus. Während aber für die Lohnsteuer der Erlass des Einkommensteuerbescheids eine vom Lohnsteuerverfahren
- und damit von der Handhabung des Arbeitgebers - völlig unabhängige Neujustierung schafft, bewirkt er für das Elterngeldverfahren
nach dem Modell des BSG gerade eine Zementierung der lohnsteuerrechtlichen Behandlung. Und während der Betroffene die Notwendigkeit eigenen Aktivwerdens
bei zu hoher Lohnsteuer evident vor Augen hat, weil ein zu geringer Betrag auf das Gehaltskonto überwiesen worden ist, zeigt
sich diese im Hinblick auf die Auswirkungen im Elterngeldrecht deutlich subtiler und schwerer zu erkennen. Die Korrekturmöglichkeiten
haben für das Elterngeldrecht mithin eine viel geringere Effizienz als für das Lohnsteuerrecht und damit eine deutlich geringere
legitimationsspendende Wirkung.
Das BSG hat in den Urteilen vom 14.12.2017 (Rn. 35 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 36 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R) darauf hingewiesen, nicht das tatsächliche Verhalten des Arbeitgebers im Lohnsteuerabzugsverfahren binde dessen Beteiligte,
wohl aber die Rechtsfolgen, die
AO und
EStG daran knüpften. Sollte damit angedeutet werden, der Beitrag des Arbeitgebers falle angesichts der gesetzlichen Anordnung
von Rechtsfolgen nicht ins Gewicht, würde sich dies auf das Steuerrecht beschränken; hier aber geht es um die Ausübung hoheitlicher
Gewalt in Form der Bewilligung von Elterngeld. Und in diesem Verfahren besitzt die Mitwirkung des Arbeitgebers, wie eben dargestellt,
eine andere rechtliche Dynamik als im Lohnsteuerverfahren. Überdies trifft die Ansicht nicht zu, solange nur eine gesetzliche
Ermächtigung bestehe, begegne deren Ausfüllung und Vollzug durch Private keinen Bedenken. Denn die demokratische Legitimation
geht weiter als der Vorbehalt des Gesetzes; sie stellt verfassungsrechtliche Anforderungen auch daran, wer Staatsgewalt ausübt.
Mit der eben zitierten Passage aus den Urteilen vom 14.12.2017 scheint das BSG auch zum Ausdruck bringen zu wollen, die Einschaltung der Arbeitgeber biete ein hohes Maß an Richtigkeitsgewähr und sei schon
von daher unbedenklich. Demokratische Legitimation liegt jedoch nicht schon dann vor, wenn Richtigkeitsgewähr angenommen werden
kann. Vielmehr erfordert sie den Ausschluss von Fremdbestimmung. Der verfassungswidrige Weg zur Entscheidung wird nicht durch
das richtige Ergebnis geheilt. Von daher erscheint der Hinweis auf die hohe Kompetenz der Arbeitgeber ohnehin nicht schlüssig.
Vor allem aber entspricht diese positive Einschätzung des BSG schlichtweg nicht der Realität. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind mit zahlreichen Fällen befasst, in denen dem
Arbeitgeber bei der Einstufung grobe und gröbste Fehler unterlaufen sind. Im Parallelverfahren L 9 EG 40/18 hat der dortige Arbeitgeber sogar bewusst sachfremde Kriterien für die Einstufung angewandt, indem er glaubte, mit der Einstufung
als sonstige Bezüge einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf Weitergewährung von Provisionen auszuschließen. Die Erfahrungen
aus der Praxis desillusionieren. Die Wahrheit ist: Die meisten Arbeitgeber sind in der Materie erschreckend unbedarft. Das
trifft mitunter auch für scheinbare "Experten" unter den Arbeitgebern zu. Die Klägerin arbeitete während des Bemessungszeitraums
immerhin für einen Steuerberater. Aber auch der war anscheinend nicht willens oder nicht in der Lage, die richtige Einstufung
vorzunehmen. Herr O. hat im Telefonat mit dem Vorsitzenden auch eingeräumt, sich darüber keine großen Gedanken gemacht zu
haben. Er habe einfach die Praxis seines Vorgängers übernommen. Außerdem störe sich niemand daran, weil mit der Veranlagung
zur Einkommensteuer ohnehin alles bereinigt werde. Von einer hohen Richtigkeitsgewähr kann somit keine Rede sein.
Schließlich fällt ins Gewicht, dass die Finanzbehörden - so die Aussage des Herrn O. - sich aus dem nämlichen Grund nicht
um die Einstufung als laufenden Arbeitslohn oder als sonstige Bezüge kümmern würden. Das sei nicht einmal bei einer Außenprüfung
der Fall. In seinem Betrieb habe es schon mehrere Außenprüfungen gegeben, nie sei aber das Thema angesprochen worden; lediglich
im Rahmen einer Prüfung der Sozialversicherungsträger sei die zweifelhafte Einstufung aufgefallen. Daraus schließt der Senat,
dass es sich um einen ausgesprochen "schlecht überwachten" Bereich des Einkommensteuerrechts handelt. Das wiederum trägt nicht
dazu bei, Richtigkeitsgewähr zu bieten und legitimationsstärkend zu wirken.
5. Fehlende Notwendigkeit und Eignung der Bindungswirkung im Hinblick auf die Entlastung der Elterngeldbehörden
Der Senat kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass mit der Einführung einer Bindungswirkung der nicht angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung
den Elterngeldbehörden de facto das "Abschreiben" der Verdienstbescheinigungen ermöglicht werden soll. Damit wird einer Forderung
der Elterngeldbehörden entsprochen. So bringt der Beklagte sinngemäß vor, er sei darauf angewiesen, die Angaben aus den Gehaltsbescheinigungen
eins zu eins übernehmen zu können, weil alles andere verwaltungstechnisch unzumutbar und nicht zu bewältigen sei. Das Zentrum
Bayern Familie und Soziales, so wird vom Beklagten vorgebracht, sei keine Steuerbehörde.
Die Bearbeitung der Elterngeldanträge allein überfordert die zuständigen Mitarbeiter des Beklagten sicherlich nicht in dem
Ausmaß, wie es der Beklagte darstellt, wobei er eine Substantiierung ohnehin bis heute schuldig geblieben ist. Das gesetzliche
Prüfprogramm bei der Leistungsberechnung zeigt sich in einer Weise beschränkt, dass das Elterngeldrecht im Vergleich zu anderen
Rechtsgebieten, in denen es um die Gewährung einkommensabhängiger Leistungen geht, als sehr einfach zu bewältigen bezeichnet
werden muss. Die Berechnungen, die zum Beispiel ein Leistungssachbearbeiter bei einem Jobcenter nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch durchzuführen hat, aber auch ein BAföG-Sachbearbeiter, bewegen sich vom Schwierigkeitsgrad her in einer komplett anderen Größenordnung. Aber auch die Berechnung
von Krankengeld oder Arbeitslosengeld erscheint ungleich schwieriger. Wegen der Einzelheiten dazu verweist der Senat vollumfänglich
auf seine Urteile vom 23.11.2017 - L 9 EG 10/16 und L 9 EG 27/16 (beide in der Revision beim BSG anhängig).
Die Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen nach steuerrechtlichen Maßstäben erscheint im Vergleich dazu
geradezu banal. Die lohnsteuerrechtliche Einstufung als sonstiger Bezug verkörpert alles andere als eine "Geheimwissenschaft".
Das gilt umso mehr, als das BSG in seinen Urteilen vom 14.12.2017 Maßstäbe zur materiell-rechtlichen Abgrenzung vorgegeben hat, die leicht zu verstehen sind
und praktikabel anmuten. Wollte der Beklagte gleichwohl weiterhin darauf beharren, gerade die im Rahmen von § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG vorzunehmende Abgrenzung stelle ihn vor unlösbare Probleme, würde er seine eigenen Mitarbeiter in einer Weise disqualifizieren,
die diesen sicher nicht gerecht würde. Dabei sollte er auch zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Sektoren des Sozialrechts
die nämliche Abgrenzung keine nennenswerten Schwierigkeiten bereitet. So kommen die zuständigen Behörden mit der in §
23a Abs.
1 Satz 1
SGB IV vorgegebenen Differenzierung allem Anschein nach ungleich besser zurecht als die Elterngeldbehörden mit dem Reglement des
BEEG; denn diesbezüglich scheinen weitaus weniger Streitigkeiten zu entstehen. Das liegt aber keinesfalls daran, dass die für
das BEEG relevante lohnsteuerrechtliche Abgrenzung über die Maßen schwierig und problembehaftet wäre.
Das wird auch nicht durch den eben geschilderten Befund in Frage gestellt, dass die Arbeitgeber bei der lohnsteuerrechtlichen
Behandlung teils eklatant falsch vorgehen. Die Ursache hierfür ist nicht in der Schwierigkeit der Materie zu suchen, sondern
eher im Desinteresse daran und in deren aus Sicht der Arbeitgeber geringer praktischer Bedeutung. Schon von daher darf sich
der Beklagte nicht hinter den Problemen der Arbeitgeber "verschanzen". Als an Recht und Gesetz gebundener Verwaltungsträger
(vgl. Art.
20 Abs.
3 GG) hat er sich für die Materie zu interessieren. Und es wird ihm ohne weiteres gelingen, den Vollzug auf der Basis der materiell-rechtlichen
Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigem Bezug effektiv zu gestalten.
Nach wie vor ist der Senat der Überzeugung, dass die Überforderung der Behörden im Wesentlichen aus deren umfangreichen Beratungsaufgaben
resultiert, die mit der Einführung des Elterngeld Plus sicherlich noch dramatisch zugenommen haben. Die materiell-rechtliche
Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen trägt dazu allenfalls unerheblich bei.
An dieser Stelle sei auf einen Aufsatz von Drenseck (StuW 2000, S. 452 ff.) hingewiesen. Der Autor, immerhin Vorsitzender Richter am BFH, hat dargestellt, dass der BFH mehr als einmal den seitens
der Finanzverwaltung betonten Aspekt des Verwaltungsaufwands als Scheinargument "entlarvt" hat.
Der Senat hat keine Zweifel, dass beim Beklagten Entlastung Not tut; dass diese aber gerade eine Bindungswirkung der nicht
angefochtenen Lohnsteuer-Anmeldung erfordert und ausgerechnet dadurch auch signifikant erreicht werden kann, vermag er nicht
zu glauben.
6. Verfassungsrechtliche Bedenken in Bezug auf die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Schließlich hegt der Senat Bedenken, ob der mit den Urteilen vom 14.12.2017 vollzogene Schwenk in der Rechtsprechung als solcher
den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird.
Eine Änderung der Rechtsprechung, insbesondere der höchstrichterlichen Rechtsprechung, muss sich verfassungsrechtlich primär
am allgemeinen Gleichheitssatz und vor allem am rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes (vgl. BGHZ 132, 6 (11)) messen lassen. Der Senat erspart sich eine Prüfung am Maßstab von Art.
3 Abs.
1 GG (vgl. dazu eingehend Nußberger in Sachs,
Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art.
3 Rn. 123 ff.). Er kommt jedoch zum Ergebnis, dass der Wandel, wie ihn das BSG mit den Urteilen vom 14.12.2017 vollzogen hat, im Licht des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes Anlass zu Zweifeln
gibt. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet Vertrauensschutz nicht nur hinsichtlich des Inkrafttretens von Gesetzen. Vielmehr sind
alle Akte öffentlicher Gewalt, also auch Entscheidungen von Gerichten, daran zu messen. Allerdings steht die Verfassung prinzipiell
nicht entgegen, dass Gerichte ihre Rechtsprechung - auch grundlegend - ändern, was im Einzelfall aus der Sicht des jeweils
Betroffenen zwangsläufig mit einer Rückwirkung einhergeht (vgl. dazu BGHZ 132, 6 (11)). Gerichtliche Entscheidungen verkörpern Rechtserkenntnisakte. Die Verfassung darf nicht vereiteln, dass Gerichte ihre
Rechtsansicht hinterfragen, überprüfen und gegebenenfalls korrigieren, so dass sie zu einer neuen, "geläuterten" Judikatur
gelangen (vgl. grundlegend BVerfGE 59, 128 (165); 84, 212 (227); Rühl, JuS 1999, S. 521 (526)).
Das Bundesverfassungsgericht hat dies in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Es hat betont, die Rechtsprechung verkörpere
einen im Fluss befindlichen Prozess. Höchstrichterliche Urteile seien kein Gesetzesrecht und erzeugten keine damit vergleichbare
Rechtsbindung. Es bedürfe nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen,
damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art.
20 Abs.
3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen könne (BVerfGE 84, 212 (227)). Verfassungsrechtliche Verstöße können danach im Wesentlichen nur bei willkürlicher Abweichung von der bisherigen
höchstrichterlichen Rechtsprechung auftreten (vgl. BVerfGE 18, 224 (240)). Die Grundsätze zur Rückwirkung von Gesetzen dürfen nicht ohne weiteres auf vergleichbare Änderungen der Rechtsprechung
übertragen werden (vgl. BVerfGE 59, 128 (165)).
Auch der Senat sieht die Flexibilität der obersten Gerichte im Wesentlichen nur im Hinblick auf willkürliches Verlassen der
bisherigen Bahnen beschränkt. Er teilt im Wesentlichen die Meinung, die der BGH in der Entscheidung BGHZ 132, 120 ff. vertreten hat: Eine Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung sei nur dann geboten, wenn die von
der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung habe vertrauen dürfen und die Anwendung
der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbar gelagerte Rechtsbeziehungen
auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde.
Gemessen daran bewegt sich das BSG mit der Aufgabe der durch die Urteile vom 26.03.2014 geprägten Rechtsprechung, mit der jetzt ausschließlichen Relevanz der
steuerrechtlichen Verhältnisse und mit der von ihm herausgearbeiteten abstrakten Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn und
sonstigem Bezug ohne Zweifel auf sicherem Terrain. Das wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die durch die Urteile
vom 26.03.2014 geprägten Rechtsprechung sich sehr deutlich von der aktuellen unterschieden hat. Denn auch ein radikaler Richtungswandel
muss grundsätzlich erlaubt sein. Die betroffenen Kläger mögen darüber enttäuscht sein, "Besitzstände" in Richtung einer Weiterführung
der alten, klägerfreundlichen BSG-Rechtsprechung hat jedoch niemand erworben.
Ein gravierendes Problem besteht indes darin, dass das BSG rückwirkend eine Präklusion eingeführt hat. Denn der Klägerin im vorliegenden Fall vorhalten zu wollen, sie hätte die Lohnsteuer-Anmeldungen
Januar bis Dezember 2015 ja anfechten können, wäre im Licht des Vertrauensschutzes fragwürdig (in diesem Sinn eindringlich
Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, S. 185 (191 f.); Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, 1984, S. 93). Denn die Klägerin hatte - es
kommt auf die damaligen Verhältnisse an - nicht den geringsten Grund, gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen vorzugehen. Hier gilt
es erneut zu realisieren, dass die Behandlung von Vergütungen als sonstige Bezüge sich im Hinblick auf die Lohnsteuerbelastung
für die Arbeitnehmer günstig auswirkt. Aus Sicht der Klägerin wäre es geradezu töricht gewesen, um die Behandlung als laufenden
Arbeitslohn "zu betteln". Zudem war sich die Klägerin dessen bewusst, dass eine Korrektur ohnehin bald - und zwar viel früher
als durch Einsprüche gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen samt eventueller Beschreitung des Klagewegs - mit der Festsetzung der
Einkommensteuer erfolgen würde. Für sie zeichnete sich in keiner Weise ab, sie könnte irgendeine Obliegenheit verletzen, wenn
sie die lohnsteuerrechtliche Einstufung durch die P. so hinnähme. Warum sollte sie also einen Rechtsbehelf einlegen und auf
diese Weise riskieren, das gute Verhältnis zur Arbeitgeberin einzutrüben, statt noch kurze Zeit abzuwarten, um die steuerrechtlichen
Verhältnisse im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung gerade zu rücken? Und in der Tat reichte die Klägerin schon im März
2016 ihre Steuererklärung ein und erhielt im April 2016 den Einkommensteuerbescheid 2015.
Der einzige Grund, warum die Klägerin - bei Expost-Betrachtung nach dem 14.12.2017 - hätte intervenieren sollen, ist die für
sie ungünstige Behandlung der sonstigen Bezüge im Elterngeldrecht. Diese Komponente hat sich aber, wenn überhaupt, erst am
14.12.2017 aufgetan. Vorher musste die Klägerin davon ausgehen, auf die (falsche) Praxis durch P. komme es im Verfahren der
Elterngeldgewährung in keiner Weise an. Am 26.03.2014 hat das BSG mehrere Urteile erlassen, die ein solches Ansinnen als vollkommen unrealistisch erscheinen ließen. Und noch mit Urteil vom
29.06.2017 - B 10 EG 5/16 R hat es diese Linie im Wesentlichen bestätigt. Wenn jemandem vorgehalten werden soll, er habe eine Abhilfemöglichkeit nicht
ergriffen und deswegen sei er von Rechten präkludiert, dann muss der Betroffene wenigstens die Möglichkeit gehabt haben zu
erkennen, welches Risiko er eingeht, wenn er untätig bleibt. Die Konsequenzen des eigenen Verhaltens müssen vorhersehbar sein.
Jeder muss in der Lage sein, bei gehöriger Geistesanspannung und Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten zu erkennen, worauf er
sich einlässt, wenn er nichts unternimmt. Die Klägerin konnte schlechterdings nicht wissen, nicht einmal ansatzweise erahnen,
dass die Einlegung eines Einspruchs oder ein Antrag nach §
164 Abs.
2 Satz 2
AO notwendig sein würde, um ihren in ferner Zukunft liegenden Elterngeldanspruch zu sichern.
Verfehlt wäre, der Klägerin vorhalten zu wollen, sie hätte deshalb schon während des Bemessungszeitraums Kenntnis von der
Notwendigkeit, gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen vorzugehen, haben können oder müssen, weil die aktuelle Fassung des § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG bereits zum 01.01.2015 in Kraft getreten sei. Es genügt, insoweit auf das Ergebnis zu 1. zu verweisen: Das ab 01.01.2015
geltende Recht bringt keineswegs hinreichend deutlich zum Ausdruck, die Klägerin müsse ausgerechnet gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen
vorgehen, damit sie ihre Rechte im Elterngeldrecht zu wahren in der Lage sei. Es handelt sich bei diesem Modell vielmehr um
eine nicht mehr zulässige Gesetzesinterpretation seitens des BSG.
Dagegen kann auch nicht die "Rosinentheorie" ins Feld geführt werden, der sich das BSG offenbar bedient. So hat es im Urteilen vom 14.12.2017 im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Erwägungen folgendermaßen
formuliert (Rn. 49 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 50 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R): "Dagegen verhielten sich Eltern widersprüchlich, wollten sie einerseits von den Steuervorteilen einer (unrichtigen) Besteuerung
von Entgeltbestandteilen als sonstige Bezüge profitieren, um diese dann andererseits im nachfolgenden Elterngeldverfahren
mit dem Ziel höheren Elterngelds wieder infrage zu stellen (zur Maßgeblichkeit in Anspruch genommener steuerlicher Vergünstigungen
bei der Berechnung des Elterngelds aus selbstständiger Erwerbstätigkeit BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 10 EG 6/14 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 30 RdNr 19)."
Derartige Überlegungen bergen die Gefahr, auf der Basis von Treu und Glauben eine Obliegenheit zu konstruieren, gegen die
falsche lohnsteuerliche Einstufung vorzugehen, auch wenn sich deren elterngeldrechtliche Notwendigkeit seinerzeit weit und
breit nicht abzeichnete. Dies wäre schon methodisch falsch. Zudem hat sich die Klägerin bei der notwendigen Exante-Betrachtung
in keiner Weise treuwidrig verhalten. Im Gegenteil: Sie hat sich, ihrem Arbeitgeber und dem Finanzamt größeren Ärger erspart,
indem sie es bei dem Lohnsteuerabzug hat bewenden lassen, und als "brave Steuerzahlerin" äußerst frühzeitig, nämlich schon
Anfang März 2016, ihre Einkommensteuererklärung 2015 eingereicht hat. Der Klägerin sinngemäß vorzuhalten, trotz ihrer Unkenntnis
von der vermeintlichen Bedeutung der Lohnsteuer-Anmeldung für das Elterngeldrecht "hätte es sich gehört", die falsche Einstufung
zeitnah zu korrigieren, würde auf Obliegenheiten abstellen, die es damals überhaupt nicht gab - weder rechtlich noch "moralisch".
Zudem verkennt der Rekurs des BSG auf die "Rosinentheorie", dass im Lohnsteuerrecht auf der einen und im Elterngeldrecht auf der anderen Seite in hohem Maß
unterschiedliche Wertungen und Interessenlagen bestehen. Generell kann die "Rosinentheorie" nur dann ins Feld geführt werden,
wenn zwischen den Vergleichsobjekten ein Konnex dergestalt besteht, dass die beiden erwünschten Vorteile sich bei wertender
Betrachtung gegenseitig ausschließen. Das wiederum erfordert eine gewisse Verwandtschaft der geltend gemachten Ansprüche.
Daran fehlt es hier. Das BSG hat an anderer Stelle wiederholt und überzeugend dargelegt, dass das Lohnsteuerrecht und das Elterngeldrecht grundlegend
unterschiedliche Zwecke verfolgen und heterogene Mechanismen aufweisen; daran hat sich auch nach der Gesetzesnovelle zum 01.01.2015
nichts geändert. Zudem darf der Vorteil, der aus der Einstufung eines Lohnbestandteils als sonstiger Bezug entsteht, nicht
überschätzt werden. Oben ist dargestellt worden, dass angesichts der spezifischen Berechnungstechnik des §
39b Abs.
3 EStG lediglich ein gewisser Progressionsvorteil entsteht, wenn in mehr als einem Kalendermonat sonstige Bezüge gezahlt werden.
Dieser erscheint im Vergleich zu dem gewaltigen Nachteil im Elterngeldrecht marginal.
Auch wenn dies bei der rechtlichen Bewertung nicht mehr ins Gewicht fällt, so lässt sich die Bemerkung des BSG im Urteilen vom 14.12.2017 (Rn. 50 des juris-Dokuments zu B 10 EG 7/17 R, Rn. 51 des juris-Dokuments zu B 10 EG 4/17 R), das zur Bemessung herangezogene Arbeitsentgelt bleibe auch ohne variable Entgeltbestandteile relativ nahe beim tatsächlichen
Arbeitsentgelt, für die Klägerin keinesfalls bestätigen.
Der Senat hat die Revision zulassen müssen, weil eine Divergenz im Sinn von §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG zu den BSG-Urteilen vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R und B 10 7/17 R vorliegt.