SGB-II-Leistungen
Berücksichtigung von Einkommen aus einer Aufwandsentschädigung für die Tätigkeit als Bezirksverordnete
Keine zweckbestimmten Einnahmen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung von Einkommen aus einer Aufwandsentschädigung für die Tätigkeit der Klägerin
als Bezirksverordnete.
Die 1965 geborene, alleinstehende Klägerin ist seit 2006 Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung F-K (BVV) und erhielt laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II. Die Wahl zur BVV und den Bezug einer Aufwandsentschädigung teilte sie dem Beklagten im Jahr 2006 mit. Nach einer internen Stellungnahme der
Regionaldirektion Berlin-Brandenburg vom 27. März 2006 handelte es sich entsprechend der späteren Weisung vom 21. Januar 2008
bei der Aufwandsentschädigung für BVV-Mitglieder um privilegiertes Einkommen.
Der Beklagte bewilligte der Klägerin auf ihren Weiterbewilligungsantrag vom 6. Oktober 2011, mit dem sie angab, nicht über
Einkommen oder sonstige Einnahmen zu verfügen, mit Bescheid vom 10. Oktober 2011 für die Zeit vom 1. November 2011 bis 30.
April 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von insgesamt 742 EUR. Mit Änderungsbescheid vom 3. November
2011 unter Berücksichtigung der Mitteilung der Klägerin, zum 1. November 2011 über ein monatliches Arbeitsentgelt von 180
EUR aus einer Beschäftigung zu verfügen, reduzierte der Beklagte den Leistungsbetrag für die Zeit vom 1. Dezember 2011 bis
30. April 2012 um 64 EUR und setzte diesen mit Änderungsbescheid vom 26. November 2011 für denselben Zeitraum unter Anpassung
des erhöhten Regelbedarfssatzes ab 1. Januar 2012 (374 EUR) neu fest.
Auf den nachfolgenden Weiterbewilligungsantrag der Klägerin bewilligte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 2. April 2012 für
die Zeit vom 1. Mai bis 31. Oktober 2012 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Berücksichtigung des von ihr
ausschließlich angegebenen Erwerbseinkommens von 180 EUR in Höhe von 688 EUR monatlich.
Mit ihrem Weiterbewilligungsantrag vom 15. Oktober 2012 gab die Klägerin auf die im überarbeiteten Antragsvordruck (Anlage
EK - 04.2012) enthaltene Frage zur Ausübung einer u.a. ehrenamtlichen Tätigkeit und ggf. dem Bezug einer steuerfreien Aufwandsentschädigung
ihre Tätigkeit als Bezirksverordnete sowie den Erhalt einer Grundentschädigung von 335 EUR zuzüglich Fahrgeldentschädigung
in Höhe von 41 EUR für August 2012 (Abrechnung der BVV vom 31. Juli 2012) an.
Mit Bescheid vom 18. Oktober 2012 bewilligte ihr der Beklagte vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für
die Zeit vom 1. November 2012 bis 30. April 2013 in Höhe von insgesamt 688 EUR.
Mit zwei Änderungsbescheiden vom 13. November 2012 für die Zeit vom 1. Mai 2012 bis 31. Oktober 2012 und vom 1. November 2012
bis 30. April 2013 erkannte der Beklagte einen höheren Unterkunftsbedarf der Klägerin an und berücksichtigte für August 2012
die Einkünfte aus der Bezirksverordnetentätigkeit, welches er im Widerspruchsverfahren mit Abhilfebescheid vom 13. Dezember
2012 zurücknahm mit dem Hinweis auf eine erneute Prüfung.
Dem Widerspruch der Klägerin gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung (Bescheid vom 25. Januar 2013; Erstattungssumme
1.134 EUR) für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Oktober 2011 half der Beklagte ab.
Mit weiterem Bescheid vom 25. Januar 2013 hob der Beklagte den Bescheid vom 10. Oktober 2011 in der Fassung der im Einzelnen
genannten Änderungsbescheide für die Zeit vom 1. November 2011 bis 30. April 2012 teilweise in Höhe von monatlich 189 EUR
auf und forderte eine Erstattung von insgesamt 1.150 EUR.
Mit einem dritten Bescheid vom 25. Januar 2013 hob er den Bescheid vom 3. April 2012 in der Fassung der Änderungsbescheide
für die Zeit vom 1. Mai 2012 bis 31. Oktober 2012 teilweise in Höhe von monatlich 193 EUR auf und forderte die Erstattung
von insgesamt 1.158 EUR.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. April 2013 hinsichtlich der Leistungszeiträume vom 1. November 2011 bis 30. April 2012 und
vom 1. Mai 2012 bis 31. Oktober 2012 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück mit der wesentlichen Begründung:
Die Klägerin habe in Bezug auf den Bewilligungszeitraum vom 1. November 2011 bis 30. April 2012 grob fahrlässig ihre Mitteilungspflicht
in Bezug auf den Anspruch auf Grundentschädigung, der nach der konstituierenden Sitzung der BVV am 26. Oktober 2011 entstanden sei, verletzt. Zwar seien die nachfolgenden Änderungsbescheide von Anfang an rechtswidrig
gewesen, weil die Grundentschädigung - bereinigt - bedarfsmindernd hätte berücksichtigt werden müssen. Die Klägerin könne
sich aber nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil sie in wesentlicher Beziehung sowie hinsichtlich ihrer persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse grob fahrlässig unvollständige Angaben gemacht habe. Die Bewilligung von Leistungen für die
Zeit vom 1. Mai bis 31. Oktober 2012 sei teilweise der Höhe nach rechtswidrig gewesen, weil die Klägerin zu jener Zeit die
Wahl zur BVV bereits angenommen habe. Sie habe erkennen können, dass sie hätte sämtliche Einkünfte angeben müssen, die dann auf ihren
Anspruch nach Einkommensbereinigung anzurechnen gewesen wären. Der Klägerin sei grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, weil auch
in den bisherigen Antragsformularen nach "sonstigen Einnahmen" gefragt worden sei; es habe nicht ihr oblegen zu bewerten,
ob es sich bei der Bezirksverordnetenentschädigung um bedarfsminderndes Einkommen handelte. Der Beklagte habe jedenfalls keinen
Anlass zur Nachfrage gehabt, ob die Klägerin auch für die neue Legislaturperiode zur BVV gewählt worden sei und hieraus Einkünfte erzielte.
Mit Bescheid vom 30. April 2013 hob der Beklagte die Bescheide vom 18. Oktober, 13. November, 24. November, 13. Dezember und
17. Dezember 2012 auf und bewilligte der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2013 Leistungen in Höhe von monatlich
559 EUR unter Berücksichtigung der bereinigten Einkommen aus dem Arbeitsentgelt und der BVV-Tätigkeit. Mit weiterem Bescheid vom 30. April 2013 gewährte er der Klägerin vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Mai
bis 31. Oktober 2013 unter Berücksichtigung dieser Einkommen in Höhe von 599 EUR monatlich. Zum 30. Juni 2013 endete das geringfügige
Arbeitsverhältnis der Klägerin, welches der Beklagte mit vorläufigem Bescheid vom 15. Mai 2013 für die Zeit vom 1. Juli 2013
bis 31. Oktober 2013 berücksichtigte.
Mit Bescheid vom 14. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2014 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag
der Klägerin (Schreiben vom 4. Oktober 2013) hinsichtlich der Bescheide betreffend die Leistungszeiträume vom 1. November
2012 bis 31. Oktober 2013 ab. Die Aufwandsentschädigung setze sich aus der Grundentschädigung, den Sitzungsgeldern und der
Fahrgeldentschädigung zusammen. Hinsichtlich der Grundentschädigung handele es sich, wie bereits höchstrichterlich entschieden
sei (BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 93/10 R -), um keine zweckbestimmte Leistung. Für November und Dezember 2012 sei die Aufwandsentschädigung bislang gar nicht vom
Bedarf abgesetzt worden. Im Übrigen seien die Freibeträge zutreffend berücksichtigt worden, so dass kein Zugunstenbescheid
ergehen dürfe.
Ihre am 17. Mai 2013 (S 82 AS 12274/13), 4. Oktober 2013 (S 172 AS 23854/13) und 13. Februar 2014 (S 27 AS 5073/14) vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klagen hat das SG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Das SG hat sodann mit Urteil vom 4. November 2015 die Rücknahme- und Erstattungsbescheide des Beklagten vom 25. Januar 2013 in Bezug
auf die Leistungszeiträume vom 1. November 2011 bis 31. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April
2014 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Beklagte habe mit den Bescheiden
vom 25. Januar 2013 zu Unrecht die zugrunde liegenden Leistungsbescheide aufgehoben und die Erstattung von Leistungen gefordert.
Bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Änderungsbescheide vom 3. November und 26. November 2011 sei die Klägerin für die neue
Legislaturperiode in die BVV gewählt worden, weshalb ein Anspruch auf die Grundentschädigung bestanden habe, so dass die Bewilligungen von Anfang an rechtswidrig
gewesen seien. Es handle sich bei der Aufwandsentschädigung - wie zu Recht höchstrichterlich entschieden worden sei - nicht
um eine zweckbestimmte Einnahme; verfassungsrechtliche Bedenken beständen insofern nicht. Die Klägerin habe zwar die ihr obliegende
Mitteilungspflicht verletzt. Sie könne sich aber auf Vertrauensschutz berufen, weil sie die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung
ab 1. November 2011 nicht mindestens infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, wie eine intensive Befragung in der mündlichen
Verhandlung ergeben habe. Ihr gutgläubiges Vertrauen in die Richtigkeit der Leistungsberechnungen, welches darauf beruhe,
dass ihr vom Beklagten mitgeteilt worden sei, dass Aufwandsentschädigungen für Mitglieder der BVV nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet würden, könne nicht als grob fahrlässig angesehen werden. Es habe darüber hinaus
eine Weisung der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg vom 21. Januar 2008 bestanden, wonach eine Anrechnung nicht erfolgen
solle. Hierauf vertrauend habe sie entsprechende Angaben in den Weiterbewilligungsanträgen unterlassen. Dies sei vom Beklagten
auch für die vorangehende Legislaturperiode (2006 bis 2011) nicht beanstandet worden. Zwar sei die Klägerin grundsätzlich
zu vollständigen Angaben verpflichtet. Eine im Einzelfall abweichende Wertung sei aber vor dem Hintergrund geboten, dass sich
der Klägerin keine konkreten Zweifel hätten aufdrängen müssen, nachdem sie gewohnheitsmäßig auf der Grundlage einer vom Beklagten
gegebenen Auskunft gehandelt habe. Sie habe auch keine als grob fahrlässig zu wertende Veranlassung gehabt, anzunehmen, dass
sich die Verwaltungspraxis angesichts des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 93/10 R - geändert habe, nachdem in den entsprechenden Antragsvordrucken unveränderte pauschal nach sonstigen Einnahmen gefragt
worden sei. Erst mit den überarbeiteten Formularen sei nach der Ausübung eines Ehrenamtes gefragt worden, woraufhin die Klägerin
ihre Tätigkeit als Bezirksverordnete und den Bezug der Grundentschädigung unverzüglich angegeben habe. Das Vertrauen der Klägerin
in den Bestand der Leistungsbewilligungen sei auch unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig
gewesen. Bei dieser Sachlage scheide eine Erstattung überzahlter Leistungen aus. Die Überprüfungsbescheide (Bescheid vom 6.
Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2013 und der Bescheid vom 14. Oktober 2013 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2014) seien dagegen rechtmäßig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Verpflichtung
des Beklagten, dass ihr unter Abänderung der zugrundeliegenden Bewilligungs-, Änderungs- und Widerspruchsbescheide für den
Zeitraum vom 1. November 2012 bis 31. Oktober 2013 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung der von ihr bezogenen Aufwandsentschädigung für ihre Tätigkeit als Bezirksverordnete bewilligt würden. Sie
sei zwar im streitgegenständlichen Zeitraum dem Grunde nach nach dem SGB II anspruchsberechtigt gewesen. Die bewilligten Leistungen seien aber der Höhe nach nicht zu beanstanden. Insbesondere die Aufwandsentschädigung
sei, wie bereits höchstrichterlich entschieden, keine zweckbestimmte Einnahme, die von der Berücksichtigung als Einkommen
auszunehmen wäre. Dies sei auch unter Berücksichtigung ihrer politischen Tätigkeit als Mandatsträgerin nicht zu beanstanden.
Gegen das Urteil richten sich die Berufungen des Beklagten und der Klägerin.
Der Beklagte macht geltend, die Klägerin habe erkennen müssen, dass sie verpflichtet war, sämtliche Einnahmen anzugeben. Die
Antragsvordrucke seien auch seinerzeit klar und unmissverständlich gewesen. Sie hätte - zumal angesichts ihrer Kenntnisse
als Bezirksverordnete - nicht darauf vertrauen dürfen, dass Einnahmen im Rahmen der BVV-Tätigkeit auch zukünftig nicht angerechnet würden. Mit im Intranet veröffentlichter, geänderter Weisungslage ab 11. April
2011 habe sich in Bezug auf die Aufwandsentschädigungen die Verwaltungspraxis des Beklagten geändert. Hätte die Klägerin ihr
Einkommen aus der BVV-Tätigkeit angegeben, hätte er aufgrund der nunmehr geltenden Weisungslage eine entsprechende Entscheidung getroffen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Berlin vom 4. November 2015 zu ändern, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen und die Klage insgesamt
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Berlin vom 4. November 2015 zu ändern, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen, den Bescheid vom 14. Oktober
2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr unter
Änderung der Bescheide vom 30. April 2013 in der Fassung des Bescheides vom 15. Mai 2013 für die Zeit vom 1. Januar 2013 bis
31. Oktober 2013 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne Anrechnung der Aufwandsentschädigung für die Tätigkeit
als Bezirksverordnete zu bewilligen.
Sie trägt vor, vor Kenntnis von dem überarbeiteten Weiterbewilligungsantrag vom 15. Oktober 2012 habe sie keine Veranlassung
gehabt, die Einkünfte aus dem Ehrenamt anzugeben. Der Beklagte selbst habe die Änderung der Verwaltungspraxis aufgrund des
Urteils des BSG vom 26. Mai 2011 erst mit deutlicher Verspätung vorgenommen. Insofern könne sie sich auf Vertrauen berufen. Dass sich die
Verwaltungspraxis des Beklagten geändert habe, sei ihr erst im Oktober 2012 aufgrund der neuen Antragsformulare bewusst geworden.
Die Auskunft vom 27. März 2006 habe letztlich auf ihrer Kandidatur zur BVV beruht, weil zu klären gewesen wäre, ob Aufwandsentschädigungen für BVV-Mitglieder auf das Arbeitslosengeld II angerechnet würden. Diese Auskunft sei durch eine entsprechende Weisung der Regionaldirektion
Brandenburg vom 12. Januar 2008 bekräftigt worden. Im Übrigen habe der Beklagte die Nichtangabe der Aufwandsentschädigung
in der gesamten Legislaturperiode zuvor geduldet, obgleich er von der Tätigkeit der Klägerin als Bezirksverordnete Kenntnis
hatte. Indes sei auch in den Folgezeiträumen die Aufwandsentschädigung nicht als Einkommen anzurechnen, weil ihre Tätigkeit
als BVV-Mitglied unmittelbar im Verfassungsrecht seine Wurzeln habe und es sich daher um eine zweckbestimmte Einnahme handle, die
die Ausübung des Mandats gewährleisten solle. Die Offenlegung ihrer Hilfebedürftigkeit bewirke einen ungerechtfertigten und
gleichheitswidrigen Eingriff in ihre politische Arbeit als demokratisch gewählte Volksvertreterin. Selbiges gelte für die
Pflicht, Auslagen über 200 EUR nachweisen zu müssen. Dies begründe darüber hinaus eine Ungleichbehandlung gegenüber BVV-Mitgliedern, die einer entsprechenden Kontrolle ihrer politischen Arbeit nicht ausgesetzt seien. Die Klägerin sei auch in
ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit eingeschränkt, da sie die Aufwandsentschädigung anstelle der ihr andernfalls gewährten
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einsetzen müsse.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten des Beklagten haben vorgelegen und sind, soweit erforderlich, Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässigen Berufungen sowohl der Klägerin als auch des Beklagten sind unbegründet. Das Urteil des SG ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand der Berufung des Beklagten sind die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 25. Januar 2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14. April 2013 wegen einer Gesamtforderungshöhe von 2.308 EUR. Diese Bescheide sind rechtswidrig
und beschweren die Klägerin (vgl. §
54 Abs.
2 Satz 1
SGG); das SG hat sie daher zu Recht aufgehoben.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme der zugrunde liegenden Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis
31. Oktober 2012 ist § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz Nr. 2 und 3, Abs. 4 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X -, §
330 Abs.
2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung -
SGB III. Die hiermit geregelten Voraussetzungen für eine Rücknahme eines unanfechtbaren, rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakts
für die Vergangenheit sind nicht sämtlich erfüllt.
Zwar sind die Bescheide in formeller Hinsicht (§§ 24, 33 SGB X) nicht zu beanstanden. Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide waren auch von Anfang an rechtswidrig, indem auf die dem
Grunde nach gemäß §§ 7, 9, 11 SGB II der erwerbsfähigen und hilfebedürftigen Klägerin zu gewährenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ihre Einnahmen
aus der Tätigkeit als Bezirksverordnete nicht angerechnet wurden. Bei der wegen der BVV-Tätigkeit gezahlten Aufwandsentschädigung handelt es sich nicht um zweckbestimmte Einnahmen i.S.d. § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II (idF der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 [BGBl. 1 S. 850] der seit dem 1. April 2011 geltenden Fassung; vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 93/10 R - juris Rn. 18 bereits zu § 11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II a.F.). Danach sind Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht
werden, nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach diesem Buch im Einzelfall demselben Zweck dienen.
Solches ist bei der der Klägerin geleisteten Aufwandsentschädigung nicht der Fall.
Das Amt der Bezirksverordneten ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, für die diese nach § 11 Abs. 4 Bezirksverwaltungsgesetz Berlin
(idF vom 10. November 2011, GVBl. 2011, 692) eine Aufwandsentschädigung erhalten. Im Einzelnen geregelt ist diese im Gesetz
über die Entschädigung der Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlungen, der Bürgerdeputierten und sonstiger ehrenamtlich
tätiger Personen (vom 29. November 1978; GVBl. 1978, 2214 - DepEntschG BE 1978 -) sowie in der dazu gehörenden Verordnung.
Gemäß § 1 DepEntschG BE 1978 erhalten die Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlungen nach Maßgabe dieses Gesetzes Aufwandsentschädigung
und Erstattung der Dienstreisekosten. Die Aufwandsentschädigung setzt sich zusammen aus der Grundentschädigung, den Sitzungsgeldern
und der Fahrgeldentschädigung. Aus § 2 DepEntschG BE 1978 folgt, dass die Grundentschädigung der Bezirksverordneten monatlich
15 vom Hundert der Entschädigung beträgt, die ein Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin nach § 6 Abs. 1 des Landesabgeordnetengesetzes
erhält; der Betrag ist auf den nächsten durch fünf teilbaren Betrag abzurunden. Sie wird gezahlt von dem Tage des ersten Zusammentritts
der Bezirksverordnetenversammlung an bis zum Ende des Monats, in dem die Wahlperiode abläuft (§ 5 Abs. 2 Satz 2 des Bezirksverwaltungsgesetzes).
Zum 1. Januar 2013 erhöhte sich die Grundentschädigung der Bezirksverordneten auf 345 EUR ausweislich einer Stellungnahme
der Senatsverwaltung für Inneres und Sport vom 4. Dezember 2012. Den zugrundeliegenden Regelungen lässt sich ein weitergehender
Zweck als die - wegen des Ausfalls anderweitiger Erwerbsmöglichkeiten - Sicherung des Lebensunterhalts nach Absetzung der
notwendigen Aufwendungen nicht entnehmen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 93/10 R - juris Rn. 18 f.). Bereits für die frühere, bis zum 31. März 2011 geltende Rechtslage haben die für das Recht der Grundsicherung
für Arbeitsuchende zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (BSG) gefordert, dass die Leistungen zu einem ausdrücklich genannten Verwendungszweck gewährt werden muss, der über den durch
die Zahlung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II verfolgten Zweck der Sicherung des Lebensunterhalts hinausgeht, wie es für den seit 1. April 2011 geltenden § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II ausdrücklich geregelt worden ist. Einen abweichenden Verwendungszweck hat das BSG etwa für die Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) angenommen, weil in den §§ 1, 11 Abs. 1 BAföG als zwei nebeneinander ausdrücklich genannten Zweckbestimmungen sowohl die Deckung des Lebensunterhalts während der Ausbildung
als auch die Deckung der Kosten der Ausbildung genannt werden; verneint wurde dies andererseits für das Ausbildungsgeld, weil
sich weder in dem Wortlaut der Regelungen noch entstehungsgeschichtlich Anhaltspunkte dafür fanden, dass der Gesetzgeber mit
dem Ausbildungsgeld eine besondere, über die Lebensunterhaltssicherung hinausgehende Zwecksetzung verfolgt hätte (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2016 - B 4 KG 2/14 R - juris Rn. 21 m.w.N.).
Gegebenenfalls verfassungsrechtlich bedenkliche Wertungswidersprüche zum Steuerrecht, die unter dem Gesichtspunkt der Einheit
der Rechtsordnung nicht hinzunehmen wären, ergeben sich hierdurch nicht. Eine "echte" Steuerbefreiung in Höhe eines Pauschalbetrages
ist mit §
3 Nr. 12 Satz 2
EStG nicht verbunden ist (vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 93/10 R - a.a.O. Rn. 20). Wie im Übrigen vom SG ausführlich dargelegt worden ist, worauf zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird (vgl. §
153 Abs.
2 SGG), wird auch im Übrigen Verfassungsrecht aufgrund der bereinigten Anrechnung der Aufwandsentschädigung nicht verletzt. Insbesondere
beeinträchtigt der Nachweis der Hilfebedürftigkeit auch im Umfang der behaupteten notwendigen Ausgaben nicht das politische
Mandat der Klägerin. Sie verkennt insofern, dass sie als Bezirksverordnete keine Sonderstellung in Bezug auf Leistungen der
Existenzsicherung, die nachweislich Hilfebedürftigkeit voraussetzen, genießt.
Zwar regelt §
330 Abs.
2 SGB III, dass bei Vorliegen der in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes diese - im Wege einer gebundenen
Entscheidung, also ohne Ermessen - auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist. Indes kann sich die Klägerin,
wie vom SG zutreffend entschieden, auf Vertrauen berufen. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Dahinstehen kann, ob die zweifellos unvollständigen
Angaben der Klägerin hinsichtlich ihrer BVV-Einnahmen kausal die Rechtswidrigkeit der Leistungsbescheide angesichts einer ab April 2011 geänderten Weisungslage verursacht
haben. Hiergegen könnte sprechen, dass diese Weisungslage - wie sich auch aus den der Klägerin gegenüber im Laufe des Jahres
2011 ergangenen Leistungsbescheiden ergibt, tatsächlich verwaltungsintern erst später umgesetzt wurden. Denn auch zur Überzeugung
des Senats hat die Klägerin die ihr obliegende Mitteilungspflicht nicht grob fahrlässig verletzt, was sich nach ihrer persönlichen
und zweifelsohne ausgeprägten Urteils- und Kritikfähigkeit, ihrem Einsichtsvermögen und Verhalten richtet sowie nach den besonderen
Umständen des vorliegenden Einzelfalls. Grobe Fahrlässigkeit setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes,
dh eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der
Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende
Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSG, Urteil vom 12. Februar 1980 - 7 Rar 13/79 - aaO. juris Rn. 27).
Wie vom SG ausführlich dargelegt worden ist, worauf zur Vermeidung von Wiederholungen ebenfalls verwiesen wird (vgl. §
153 Abs.
2 SGG), ist nach den hier gegebenen konkreten Umständen des Einzelfalls eine grobe Fahrlässigkeit im vorstehenden Sinne einer besonders
groben und subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung der Klägerin zu verneinen. Dem Beklagten war, wie zwischen
den Beteiligten nicht streitig ist, seit 2006 für die bis Anfang 2011 andauernde Wahlperiode die Tätigkeit der Klägerin als
Bezirksverordnete und der Bezug der daraus folgenden Grundentschädigung bekannt. Den Beteiligten war bewusst, dass die Nichtanrechnung
der Aufwandsentschädigung nach einem längeren Prozess der Diskussion im Wege der gängigen Verwaltungspraxis gehandhabt wurde.
Sie entsprach für die jedenfalls bis Anfang 2011 geltenden Bewilligungszeiträume der generellen Weisungslage des Beklagten.
Zu Recht hat das SG insofern ausgeführt, dass es grundsätzlich zwar der Klägerin obliegt, sämtliche Fragen in den Antragsvordrucken vollständig
zu beantworten, welches sie hinsichtlich der schon vor den geänderten Antragsvordrucken erfragten Einnahmen unstreitig unterlassen
hat. Auch entbinden sie subjektive Fehler in der rechtlichen Würdigung nicht von der Verpflichtung zu insgesamt vollständigen
Angaben. Gleiches gilt für eine vermeintlich schon zuvor bestehende Kenntnis des Leistungsträgers - hier von der BVV-Tätigkeit -, auf die sich der Antragsteller grundsätzlich nicht berufen kann. Indes vertraute sie auf eine entsprechende,
durch Bewilligungsbescheide seit 2006 kontinuierlich angewandte und auch ihr gegenüber kommunizierte Verwaltungspraxis, ohne
dass die Nichtangabe ihrer - seinerzeit bekannten - BVV-Einnahmen bis zum Ablauf der Wahlperiode seitens des Beklagten je beanstandet wurde. Bei dieser - aus den konkreten Umständen
des vorliegenden Falls - sich ergebenden Sachlage kann ihr, wie vom SG entschieden, jedenfalls grobe Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden. Selbiges gilt für eine vermeintlich grob fahrlässig
fehlende Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Bescheide (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X), die sich ihr vorliegend nicht aufdrängen musste, zumal die neue Weisungslage tatsächlich auch seitens des Beklagten ihr
gegenüber nicht umgesetzt worden war.
Hiernach liegen, wie ebenfalls zutreffend vom SG entschieden worden ist, die Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 SGB X nicht vor, so dass die Bescheide, wie geschehen, insgesamt zu kassieren waren.
Die Berufung der Klägerin ist ebenfalls unbegründet. Gegenstand insoweit ist der Überprüfungsbescheid des Beklagten vom 14.
Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2014 (der den früheren Überprüfungsbescheid vom 6. Juni
2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2013 hinsichtlich des Zeitraums von November 2011 bis April
2013 gemäß § 39 Abs. 2 SGB X ersetzt hat) in Bezug auf die Bewilligungszeiträume vom 1. Januar bis 31. Oktober 2013, nachdem für November und Dezember
2012 keine Anrechnung der BVV-Entschädigung erfolgt ist. Auch insofern ist das Urteil des SG nicht zu beanstanden. Der allein noch gegenständliche Bescheid vom 14. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27. Januar 2014 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin daher nicht (vgl. §
54 Abs.
2 SGG). Der Beklagte hat es zu Recht im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X abgelehnt, der Klägerin im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Oktober 2013 höhere Leistungen unter Änderung der Bescheide vom
30. April 2013 in der Fassung des Bescheides vom 15. Januar 2013 nach dem SGB II ohne Anrechnung der bezogenen BVV-Aufwandsentschädigung zu gewähren. Zwar steht der mit Bescheid vom 30. April 2013 für den Zeitraum bis zum 30. April 2013
vorgenommenen Aufhebung früherer Bescheide und der hiermit vorgenommenen Bewilligung geringerer Leistungen unter (bereinigter)
Anrechnung auch der BVV-Entschädigung grundsätzlich das Verbot der Verböserung im Widerspruchsverfahren entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 - B 14/11b AS 67/06 - juris Rn. 18). Indes lagen hier - anders als im früheren Zeitraum - die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 45 Abs. 1 und 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor (vgl. BSG, a.a.O.). Denn der Klägerin war, wie sie selbst im Verfahren eingeräumt hat, jedenfalls seit Oktober 2012 und zumindest auf
der Grundlage der neuen Antragsformulare bewusst, dass eine anteilige Anrechnung der Aufwandsentschädigung zu erfolgen hätte,
welches der Beklagte mit dem diesen Zeitraum betreffenden endgültigen Bescheid vom 13. November 2012 (in der Fassung der Bescheide
vom 24. November, 13. Dezember und 17. Dezember 2012) lediglich hinsichtlich der von ihr nachgewiesenen Aufwandsentschädigung
für August 2012 umgesetzt hatte. Bei dieser Sachlage muss davon ausgegangen werden, dass sie die Rechtswidrigkeit der mit
Bescheid vom 30. April 2013 aufgehobenen früheren Bescheide hinsichtlich der Nichtanrechnung der Aufwandsentschädigung kannte
bzw. nach ihrer subjektiven Erkenntnismöglichkeit zumindest grob fahrlässig nicht kannte. Im Übrigen wird wegen der Frage
der grundsätzlichen Anrechenbarkeit der Aufwandsentschädigung auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen. Eine Korrektur
der Bescheide wegen einer fehlerhaften Berechnung der der Klägerin zustehenden Leistungen hat nicht zu erfolgen. Fehler hinsichtlich
der Höhe der Leistungsberechnung insbesondere der Höhe der Anrechnung des bereinigten Einkommens sind weder vorgetragen noch
ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 oder 2
SGG sind nicht gegeben.