Erwerbsminderungsrente
Sachverständigengutachten
Beweismaßstab
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer befristeten Rente wegen Erwerbsminderung.
Der im Jahre 1952 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Lichtbogenschweißers und war als Schlosser und Schweißer bis zum
Dezember 2004 tätig. Ab dem 10. Oktober 2005 war er arbeitsunfähig erkrankt. Ebenfalls im Oktober 2005 beantragte er bei der
Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen bewilligte die Beklagte
dem Kläger mit Bescheid vom 15. Februar 2006 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. November
2005. Die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung lehnte sie zugleich ab. Den Widerspruch des Klägers wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 2006 mit der Begründung zurück, der Kläger sei noch mindestens sechs Stunden
durchschnittlich täglich einsetzbar. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liege nicht vor.
Mit seiner zum Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage hat der Kläger sein Ziel weiter verfolgt, eine befristete Rente wegen
voller Erwerbsminderung zu erhalten. Das Sozialgericht hat ein medizinisches Sachverständigengutachten des Internisten Dr.
R vom 21. Juli 2008 nebst ergänzender Stellungnahme vom 13. Oktober 2008 eingeholt. Darin ist der Sachverständige zu der Einschätzung
gelangt, der Kläger könne nicht mehr als vier Stunden durchschnittlich täglich erwerbstätig sein. An dieser Einschätzung hat
der Sachverständige auch nach Gegenvorstellung der Beklagten festgehalten.
Mit Urteil vom 11. Dezember 2008 hat das Sozialgericht, insbesondere auf die vorgenannten Äußerungen des Sachverständigen
Dr. R gestützt, die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger volle Erwerbsminderungsrente
auf Zeit vom 1. Mai 2006 bis zum 30. April 2009 zu gewähren.
Gegen dieses ihr am 15. Januar 2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. Februar 2009 Berufung zum Landessozialgericht
eingelegt. Am 4. November 2009 hat der Sachverständige Dr. R aufgrund richterlicher Anforderung eine erneute Stellungnahme
abgegeben und darin an seiner bisherigen Einschätzung festgehalten. Ebenfalls aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am
12. Oktober 2012 der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Sch ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat
er bei dem Kläger die folgenden Gesundheitsstörungen festgestellt:
1. medikamentös eingestellte Blutzuckererkrankung
2. schlafbezogene Atmungsregulationsstörung, mit Maskenatmung behandelt
3. Bluthochdruck, sekundäre Organschädigungen bei 5-fach-Bluthochdrucktherapie
4. Knorpelschaden der Kniegelenke, Implantation eines Halbschlittens links 16.02.2012, chronische Unterschenkelödeme beiderseits,
operiertes Krampfaderleiden 2002, ausgedehnte trophische Störung beider Unterschenkel, Hinweise auf diabetische Polyneuropathie
5. Handgelenkverschleiß links, Sehnenansatzentzündung am rechten Ellenbogen
6. Übergewicht
7. Hörminderung
8 Vorsteherdrüsenvergrößerung
9. Nabelbruch, Bauchdeckenbruch.
Unter Berücksichtigung einiger qualitativer Leistungseinschränkungen sei der Kläger in der Lage, vollschichtig auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt tätig zu sein. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. R werde im Hinblick auf die qualitativen Leistungseinschränkungen
zugestimmt, nicht jedoch im Hinblick auf die quantitativen Leistungseinschränkungen.
Ebenfalls aufgrund richterlicher Beweisanordnung nach Antrag des Klägers gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) hat am 14. Mai 2013 die Fachärztin für Innere Medizin/Diabetologie Dr. Hein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet.
Darin ist sie zu der Einschätzung gelangt, das quantitative Leistungsvermögen des Klägers betrage weniger als drei Stunden
tägliche Erwerbstätigkeit. Die Wegefähigkeit des Klägers sei aufgrund der eingeschränkten kardialen Belastbarkeit, der Gehbehinderung
und der bei Belastung auftretenden Schmerzen nicht wie für die Teilnahme am Arbeitsleben erforderlich gegeben.
Die Beklagte ist der Auffassung, wie sich auch aus dem Gutachten des Dr. Sch ergebe, sei der Kläger auf dem Arbeitsmarkt vollschichtig
einsetzbar gewesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 11. Dezember 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
144 SGG, sie ist auch in der Sache begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben, die Klage abzuweisen, denn es hat sich nicht
erweisen lassen, dass im Hinblick auf den hier streitbefangenen Zeitraum die Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung
bei dem Kläger vorgelegen haben.
Gemäß §
43 Absatz
2 Satz 1 Nr.
1 Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (
SGB VI) besteht Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung dann, wenn - neben weiteren Voraussetzungen - das Merkmal der vollen
Erwerbsminderung erfüllt ist. Dies setzt gemäß §
43 Absatz
2 Satz 2
SGB VI voraus, dass der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Wegen der Verschlossenheit
des Teilzeitarbeitsmarktes kann dies gegebenenfalls auch dann schon erfüllt sein, wenn das Leistungsvermögen innerhalb des
Bereichs von durchschnittlich täglich drei bis unter sechs Stunden angesiedelt ist.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, §
128 SGG, hat sich jedoch nicht zur Überzeugung des Senats erweisen lassen, dass der Kläger im hier streitbefangenen Zeitraum in den
Jahren 2006 bis 2009 nicht in der Lage war, mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Zwar hat der Sachverständige
Dr. R das Leistungsvermögen des Klägers nur noch auf einen Wert von etwa vier Stunden täglich eingeschätzt, doch hat dem der
Sachverständige Dr. Sch in Kenntnis des Vorgutachtens und in kritischer Auseinandersetzung mit diesem ausdrücklich widersprochen
und das Leistungsvermögen des Klägers auf mindestens sechs Stunden täglich eingeschätzt. Obwohl beide Sachverständige sowohl
im Hinblick auf die ärztlich festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers als auch im Hinblick auf dessen qualitative
Leistungseinschränkungen weitestgehend übereinstimmen, gelangen sie im Hinblick auf das quantitative Leistungsvermögen zu
unterschiedlichen, nicht miteinander in Einklang zu bringenden Einschätzungen.
Auch auf ausdrückliche Nachfrage des erstinstanzlichen Gerichts hat der Sachverständige Dr. R ausgeführt, die von ihm vorgenommene
"zusammenfassende hermeneutische Einschätzung" bleibe "ohne einen objektiven Messwert". Dementsprechend hat auch der Sachverständige
Dr. Sch argumentiert, für die vom Sachverständigen Dr. Rvorgenommene Einschätzung gebe es "keine objektiv reproduzierbare
Begründung".
Beide Sachverständige sind erfahrene Ärzte und zuverlässige und kenntnisreiche sozialmedizinische Gerichtsgutachter. Für jede
der beiden abweichenden Einschätzungen bestehen beträchtliche Wahrscheinlichkeiten, jedoch nicht der Gewissheitsgrad der an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, wie er hier im Wege des Vollbeweises zum Nachweis der vollen Erwerbsminderung des
Klägers erforderlich wäre. Auch die zuletzt durch die Sachverständige Dr. H vorgenommene Einschätzung, dass der Kläger zuletzt
nur noch unter drei Stunden täglich erwerbstätig sein könne, kann diesen Nachweis nicht herbeiführen, weil sich die Sachverständige
ausdrücklich auf eine erst im Jahr 2012 eingetretene Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers bezogen hat.
Vor dem Hintergrund des Umstands, dass der Sachverhalt nicht vollständig aufklärbar ist, hatte der Senat eine Beweislastentscheidung
zu treffen. Diese musste zum Nachteil des Klägers ergehen, weil er die materielle Beweislast trägt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß §
160 Absatz
2 SGG nicht vorliegen.