Erhöhung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit
Unterbrechung einer laufenden Ersatzzeit
Gewöhnlicher Aufenthalt
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erhöhung der dem Kläger gewährten Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit
vom 9. September 1947 bis zum 30. Mai 1948.
Der 1928 in Neresnica/Serbien geborene Kläger lebte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im Februar
1945 zunächst in einem DP-Lager bei Landsberg. Er versuchte 1947, auf der "Exodus" nach Palästina zu gelangen, wurde aber
von der dortigen Mandatsmacht zwangsweise nach Deutschland zurückgebracht. Dort kam er am 8. September 1947 an. Er wurde zunächst
im Lager Pöppendorf bei Lübeck untergebracht und hielt sich anschließend in Emden, Geretsried und Landsberg auf. Im Mai 1948
gelangte er über Frankreich nach Israel. Der Kläger ist als Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEntschädG)
anerkannt.
Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 28. März 2012 mit Wirkung ab 1. Juli 1997 Regelaltersrente. Den Zeitraum
vom 1. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1948 berücksichtigte sie hierbei nicht. Dem Widerspruch des Klägers half die Beklagte mit
Bescheid vom 26. Juli 2012 teilweise ab, indem sie auch den Zeitraum vom 1. Juli 1947 bis zum 8. September 1947 als Zeit der
NS-Verfolgung berücksichtigte. Im Übrigen wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2012 zurück.
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger die Anerkennung des Zeitraums vom 9. September 1947 bis
zum 30. Mai 1948 als Ersatzzeit begehrt. Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 27. Januar 2015 verurteilt, dem
Kläger eine höhere Regelaltersrente unter Berücksichtigung dieses Zeitraums als Ersatzzeit zu gewähren. Zur Begründung hat
es insbesondere ausgeführt: Der Kläger habe einen Anspruch auf Anerkennung des Zeitraums vom 9. September 1947 bis zum 30.
Mai 1948 als Ersatzzeit nach §
250 Abs.
1 Nr.
4 lit. b Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (
SGB VI), da er dessen Voraussetzungen erfülle. Er sei Versicherter im Sinne des
SGB VI und Verfolgter im Sinne des BEntschädG. Auch habe er seinen Aufenthalt in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs der Rechtsversicherungsgesetze
nach dem Stand vom 30. Juni 1945 genommen, nämlich in Israel. Die Auswanderung, die mit der Fahrt auf der Exodus begonnen
habe, sei verfolgungsbedingt gewesen, da der Kläger aufgrund seiner Lebensgeschichte, insbesondere der vorangegangenen Aufenthalte
in Konzentrationslagern und des Todes seiner Eltern durch Verfolgungsmaßnahmen, keinen Halt in Deutschland habe finden können
und aus diesem Grund nach Palästina ausgereist sei. Unschädlich sei, dass er sich im streitbefangenen Zeitraum, während dessen
keine Versicherungspflicht bestanden habe, in Deutschland befunden habe. Denn er sei nach seiner Ausreise gegen seinen Willen
nach Deutschland zurückgebracht worden. Diese Zeit habe für den Kläger zwingend zur Kausalkette seiner Auswanderung gehört.
Hierzu hat das Sozialgericht auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. März 2006 (- B 13 RJ 7/05 R -, SozR 4-2600 § 250 Nr. 2, juris Rn. 19) verwiesen, wonach die Berücksichtigung von Ersatzzeiten auch bei einer Ausreise
aus einem angegliederten Gebiet mit dem Ziel der Auswanderung über die "Zwischenstation" des deutschen Staatsgebiets nach
dem 30. Juni 1945 möglich sei.
Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt, mit der sie u.a. vorbringt: Um eine kurze Zwischenstation im
Sinne der angeführten Entscheidung des Bundessozialgerichts habe es sich im vorliegenden Fall bei dem Aufenthalt des Klägers
in Deutschland nicht gehandelt. Denn wie sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 3. April 2001 (- B 4 RA 90/00 R -, SozR 3-1200 § 30 Nr. 21, SozR 3-6480 Art 20 Nr. 2, juris Rn. 20) ergebe, hätten Displaced Persons, die sich während
ihres Lageraufenthaltes materiell berechtigt und zukunftsoffen im späteren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten
hätten, dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Nach Auffassung der Beklagten könne nur ein verhältnismäßig kurzer (unvermeidbarer)
Zwischenaufenthalt in Deutschland (zu denken sei hier an einen Zeitraum von längstens einem Monat) in Einzelfällen einem gewöhnlichen
Aufenthalt entgegenstehen. Dieser Maßstab ergebe sich auch aus den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 19. Mai 2009
(- B 5 R 14/08 R -, SozR 4-2600 § 250 Nr. 6, BSGE 103, 161, juris Rn. 18, und - B 5 R 96/07 R -, juris Rn. 14). Danach dürfe sich der Betroffene während der geltend gemachten Ersatzzeit nur nicht in den Geltungsbereich
der Reichsversicherungsgesetze begeben haben, denn es gehe um die Erfassung derjenigen Personen, die aus territorialen Gründen
aus der deutschen Rentenversicherung ausgeschlossen wären und infolgedessen keine Beitragszeiten hätten zurücklegen können.
Hierfür seien Qualität und nähere Umstände des Auslandsaufenthalts irrelevant.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 2015 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 28. März 2012 in
der Fassung des Abhilfebescheides vom 26. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2012 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch unbegründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte mit Urteil vom 27. Januar 2015 verpflichtet, dem Kläger eine höhere Regelaltersrente
unter Berücksichtigung des Zeitraums vom 9. September 1947 bis zum 30. Mai 1948 als Ersatzzeit zu gewähren.
Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus §
250 Abs.
1 Nr.
4 lit. b
SGB VI. Danach sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem
14. Lebensjahr im Anschluss an Zeiten, während derer ihnen die Freiheit entzogen worden ist, infolge Verfolgungsmaßnahmen
in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze nach dem Stand vom 30. Juni 1945 Aufenthalt genommen
haben, längstens aber die Zeit bis zum 31. Dezember 1949, wenn sie zum Personenkreis des § 1 BEntschädG gehören (Verfolgungszeit).
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen dieser Vorschrift. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils
vom 27. Januar 2015 und sieht nach §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Die Einwände der Beklagten rechtfertigen keine abweichende Entscheidung. Die Zeit nach dem Aufbruch mit der Exodus nach Palästina
stellt nach den eben genannten Kriterien eine Verfolgungszeit dar. Dementsprechend hat die Beklagte sie auch als Ersatzzeit
anerkannt. Entgegen der Auffassung der Beklagten wurde diese Ersatzzeit nicht beendet, als der Kläger zwangsweise nach Deutschland
zurückgebracht wurde. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19. Mai 2009 - B 5 R 14/08 R -, SozR 4-2600 § 250 Nr. 6, BSGE 103, 161, juris Rn. 18) wird eine laufende Ersatzzeit durch die Rückkehr des Verfolgten in den Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze
(nur) dann ausgeschlossen oder unterbrochen, wenn es sich um einen "Aufenthalt" im Sinne des §
30 Abs.
3 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (
SGB I) handelt. Danach hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass
er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Gemessen an den Kriterien dieser Legaldefinition
hatte der Kläger nach seiner Rückführung nach Deutschland dort nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Denn es bestanden seinerzeit
keine Umstände, die erkennen ließen, dass er in Deutschland nicht nur vorübergehend verweilte. Zu Unrecht bezieht sich der
Beklagte auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 3. April 2001 (- B 4 RA 90/00 R -, SozR 3-1200 § 30 Nr. 21, SozR 3-6480 Art 20 Nr. 2, juris Rn. 20), wonach Displaced Persons, die sich während ihres Lageraufenthaltes
materiell berechtigt und zukunftsoffen im späteren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, dort ihren gewöhnlichen
Aufenthalt hatten. Denn der Kläger hielt sich im streitbefangenen Zeitraum gerade nicht "zukunftsoffen" in Deutschland auf,
sondern war, wie das Sozialgericht zutreffend herausgearbeitet hat, bestrebt, das Land, in dem er verfolgt worden war, zu
verlassen, um sich eine neue Existenz in Palästina aufzubauen. Auch die Zeitspanne von neun Monaten stellt keinen Umstand
dar, aus dem abzuleiten wäre, dass der Kläger "nicht nur vorübergehend" in Deutschland verweilte. Die Länge des Zeitraums
ist der begründeten Erwartung geschuldet, dass der erneute Auswanderungsversuch des Klägers nach Palästina von der dortigen
Mandatsmacht unterbunden worden wäre. Der Umstand, dass der Kläger unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel am 14.
Mai 1948 dorthin ausreiste, dokumentiert, dass der Kläger an seiner mit der Fahrt auf der Exodus begonnenen Unternehmung,
Deutschland aus verfolgungsbedingten Gründen zu verlassen, festhielt und deshalb dort nur vorübergehend verweilte. Das erzwungene
Verweilen in Deutschland änderte an seinem rentenversicherungsrechtlichen Status nichts. Eine andere Betrachtungsweise wäre
im Übrigen mit dem Entschädigungsgedanken, durch den die rentenversicherungsrechtlichen Regelungen über die Ersatzzeit von
Verfolgten geprägt sind (vgl. BSG, Urteil vom 19. Mai 2009 - B 5 R 14/08 R -, BSGE 103, 161, juris Rn. 20), nicht zu vereinbaren.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang in der Sache.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß §
160 Abs.
2 SGG nicht gegeben sind.