Tatbestand:
Die Beklagte wehrt sich mit der Berufung gegen die Verurteilung zur Gewährung einer unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die 1961 geborene, 137 cm große Klägerin ist schwerbehindert. Mit Bescheid vom 29. Juli 1996 hatte das Amt für Soziales und
Versorgung Cottbus bei der Klägerin einen GdB von 70 festgestellt sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen
für den Nachteilsausgleich mit Merkzeichen RF. Dem lag zugrunde, ein führendes Leiden Schwerhörigkeit mit einem Einzel-GdB
von 50, ferner Kleinwuchs mit Leistungseinschränkung mit einem Einzel-GdB von 40 sowie Herzrhythmusstörungen mit einem Einzel-GdB
von 10 und eine operierte Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit einseitiger Behinderung der Nasenatmung mit einem Einzel-GdB von
10. Auf den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 4. Juni 2012 setzte das Amt für Gesundheit und Versorgung nach Beiziehung
ärztlicher Unterlagen den GdB der Klägerin auf 90 hoch und legte dem zugrunde: eine erhebliche Verschlechterung der Schwerhörigkeit,
die nunmehr als Taubheit bezeichnet wurde und mit einem Einzel-GdB von 80 bewertet wurde. Ferner Kleinwuchs bei Leistungseinschränkung
mit einem Einzel-GdB von 40, im Übrigen verblieb es bei den bisherigen Bewertungen. Zusätzlich wurde nunmehr der Nachteilsausgleich
mit Merkzeichen GL für Gehörlosigkeit festgestellt.
Am 23. Januar 2013 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Mit Bescheid vom 31. Mai
2013 lehnte die Beklagte die Gewährung der beantragten Rente ab und führte zur Begründung aus, nach ihrer medizinischen Beurteilung
könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig
sein. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. August 2013 zurück.
Mit der am 28. August 2013 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Das Sozialgericht hat Befundberichte
der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemein-
und Arbeitsmedizin L. Nach Untersuchung der Klägerin ist der Sachverständige in seinem Gutachten vom 27. Juni 2014 zu der
Einschätzung gelangt, die tägliche Arbeitsleistung der Klägerin sei zeitlich regelmäßig nicht eingeschränkt. Über die betriebsüblichen
Pausen hinaus würden keine Arbeitsunterbrechungen benötigt. Auch sei die Klägerin in der Lage, Arbeitsplätze von ihrer Wohnung
aus aufzusuchen und benötige hierzu keine Begleitperson. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ihr sei viermal täglich
das Zurücklegen von Wegstrecken von rund 400 Metern bzw. einer Dauer von jeweils 20 Minuten zuzumuten. In qualitativer Hinsicht
sei das Leistungsvermögen wie folgt eingeschränkt: Zumutbar seien ausschließlich körperlich leichte Arbeiten, die überwiegend
im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu etwa gleichen Anteilen, jedoch nicht ausschließlich in einer von diesen, ausgeübt
werden. Möglich seien Arbeiten in geschlossenen Räumen oder im Freien, allerdings unter Witterungsschutz. Zu vermeiden seien
Arbeiten in Kälte, Nässe, Zugluft, großer Hitze oder starken Temperaturschwankungen, Lärmarbeiten sowie Arbeiten mit Nickel.
Die Klägerin könne keine Arbeiten im Steigen, Klettern, in der Hocke oder im Kriechen verrichten. Ebenfalls nicht mit ständigem
oder häufigem Bücken, Heben und Tragen von Lasten oder auch Überkopfarbeiten, wobei dies gelegentlich oder in geringem Umfang
möglich sei. Unmöglich seien Arbeiten in Zwangshaltungen oder überwiegend einseitiger Körperhaltung sowie unter Zeitdruck,
wie Akkord- oder Fließbandarbeit. Mit ergänzender Stellungnahme vom 6. Oktober 2014 hat der Sachverständige ausgeführt, Nachtarbeiten
und Wechselschichtarbeiten seien zu vermeiden, auch können keine Arbeiten mit Publikumsverkehr bzw. allenfalls in äußerst
eingeschränktem Umfange verrichtet werden. Tätigkeiten, in denen das gesprochene Wort und das Wort Verständnis eine mehr als
nur einfache Anforderung darstellten seien nicht möglich.
In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte vorsorglich als Verweisungsberuf den Beruf der Versandfertigmacherin benannt.
Mit Urteil vom 17. März 2015 hat das Sozialgericht Cottbus die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 2013 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 2013 verurteilt, der Klägerin ab dem 1. Januar 2013 unbefristete Rente
wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Ferner hat es der Klägerin die Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten in vollem
Umfange zugesprochen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, es schließe sich den Feststellungen des Sachverständigen
im Grunde an, könne aber hinsichtlich der Einschätzung der Leistungsfähigkeit dem Sachverständigengutachten nicht folgen.
In der mündlichen Verhandlung habe das Gericht einen Eindruck von der Klägerin gewonnen, nachdem es für nahezu ausgeschlossen
zu halten sei, dass die Klägerin - ohne ein erhebliches persönliches Risiko für die eigene Gesundheit auf sich zu nehmen -
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Beschäftigung nachgehen könne. Dies ergebe sich aus dem Zusammenspiel der kognitiven
Fähigkeiten der Klägerin, ihrer höchstgradigen Schwerhörigkeit und der Kleinwüchsigkeit. So habe die Klägerin trotz der funktionstüchtigen
Hörhilfen den Verhandlungsverlauf nicht verfolgen können. Jene Teile, die sie akustisch zwar verstanden habe, seien von ihr
ganz offensichtlich kognitiv nicht erfasst worden. Zur Überzeugung der Kammer stelle es für die Klägerin eine erhebliche Gefahr
dar, am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ihre überaus starke Hörbehinderung mache es unmöglich, sich nähernden
Gefahren, insbesondere im Straßenverkehr zu entziehen, zumal durch die ausgeprägte Kleinwüchsigkeit hier ein sehr hohes Risiko
bestehe übersehen zu werden. Diese Kombination mache bereits den Gang zur Arbeitsstelle zu einem unkalkulierbaren Risiko für
das Leben der Klägerin. Auch könne sich die Kammer keine Tätigkeit vorstellen, an der die Klägerin arbeitstechnisch teilhaben
könnte, ohne sich selbst oder andere dabei zu gefährden. Die Rente sei unbefristet zu gewähren, da das Leidender Klägerin
nach dem übereinstimmenden Votum sämtlicher Ärzte keine Besserung erfahren werde.
Mit der Berufung macht die Beklagte geltend, das Urteil könne bereits keinen Bestand haben, weil es kein Datum für den Eintritt
des Versicherungsfalles enthalte. Im Übrigen stehe das Gutachten des Sachverständigen im Widerspruch zum Eindruck der Kammer,
denn nach dem Gutachten des Sachverständigen L könne die Klägerin mit beiderseits getragenen Hörgeräten sich weitgehend unproblematisch
verständigen. Möglicherweise sei insoweit auch durch eine bessere Versorgung mit Hörgeräten eine noch bessere qualitative
Ausgleichung des Hörverlustes zu erzielen. Darüber hinaus sei das Urteil nicht ausführbar, da es an einer Feststellung des
Eintritts der Erwerbsminderung fehle.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bringt hierzu vor, sie sei bis April 2013 als Schwesternhelferin in der Altenpflege bei der Betreuung dementer Patienten
tätig gewesen und zwar im Umfang von täglich zwei Stunden. Sie sei mit den stärksten am Markt befindlichen Hörgeräten versorgt
und habe bei der körperlichen Belastung der Tätigkeit trotz dieser vorhandenen Hörgeräte nichts mehr hören können, weshalb
sie gezwungen gewesen sei, selbst diese nur kurzzeitige tägliche Arbeit im April 2013 zu beenden. Im Übrigen habe sich das
Hörvermögen der Klägerin weiter verschlechtert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der
Beklagten und des Amtes für Versorgung und Soziales Cottbus Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat der Klägerin zu Recht eine unbefristete
Rente wegen voller Erwerbsminderung zugesprochen. Allerdings ist insoweit eine Maßgabe zum Eintritt des Versicherungsfalles
geboten.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gem. §
43 Abs.
2 Sozialgesetzbuch / Sechstes Buch (
SGB VI). Nachdem zwischen den Beteiligten das Vorliegen der sog. versicherungsrechtlichen Vorschriften unstreitig ist, ist maßgeblich
insoweit alleine Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Vorschrift, wonach die Rente voraussetzt, dass der Versicherte voll erwerbsgemindert
ist, mithin gem. Satz 2 der Vorschrift wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den
üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Voraussetzungen
liegen hier vor. Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung, denen er folgt, und sieht
insofern von der Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe ab, §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Soweit die Beklagte das vom Sozialgericht angenommene Ausmaß der Hörschädigung und die damit verbundenen kognitiven Beeinträchtigungen
unter Berufung auf das in erster Instanz erstellte medizinische Gutachten in Zweifel zieht, vermag sie nicht durchzudringen.
Insoweit kommt dem der Klägerin im Schwerbehindertenverfahren am 4. Juni 2012 erteilten Bescheid über die Zuerkennung des
Merkzeichens GL eine sog. Tatbestandswirkung zu. Die Zuerkennung jenes Merkzeichens setzt gem. § 145 Abs. 1 Sozialgesetzbuch
/ Neuntes Buch in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 4 SchwbAwV und Teil D4 der Anlage zu § 2 VersMedV voraus, dass Taubheit beiderseits vorliegt, oder eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beiderseits, wenn daneben schwere
Sprachstörungen vorliegen. Eine Beweiserhebung kam daher für den Senat nicht in Betracht.
Zusätzlich hat der Sachverständige die qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin dahingehend beschrieben, dass sie
ausschließlich körperlich leichte Arbeiten im Wechsel von Stehen, Sitzen und Gehen zu etwa gleichen Anteilen und ohne Zeitdruck
verrichten könne, wobei auch häufiges Bücken, Heben oder Tragen von Lasten ausgeschlossen sei. Dies ist für den Senat ohne
weiteres plausibel, nachdem der Klägerin für ihren Kleinwuchs mit Leistungseinschränkung ein Einzel-GdB von 40 angerechnet
wurde. Damit liegt bei der Klägerin zweifelsfrei eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Angesichts der Natur der
Leistungsbehinderung ist auch nicht der Auffassung der Beklagten zu folgen, wonach die Klägerin auf den Beruf einer Versandfertigmacherin
verwiesen werden könnte. Es kann dabei dahinstehen, ob es dieses Berufsbild tatsächlich am Arbeitsmarkt noch gibt, woran erhebliche
Zweifel bestehen. Der Senat hält es jedenfalls für ausgeschlossen, dass - bei unterstellter Fortexistenz - ein solcher Beruf
frei von Zeitdruck ausübbar wäre und zugleich die Möglichkeit zum Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu etwa gleichen
Anteilen gäbe. Gleiches gilt für die von der Beklagten allgemein weiter angeführten Putz- oder Sortiertätigkeiten, wobei die
Benennung von Putztätigkeiten aufgrund des Kleinwuchses der Kläger und den Ausschluss von Arbeiten im Bücken und auf Leitern
als offenkundig abwegig bezeichnet werden muss.
Zuzugeben ist der Beklagten indes, dass es in dem erstinstanzlichen Urteil an der Benennung eines Datums für den Versicherungsfall
fehlt. Insoweit hat das Sozialgericht lediglich ausgeführt, es gehe davon aus, dass der Versicherungsfall bereits weit vor
der Antragstellung gelegen habe. Diese Überzeugung teilt der Senat. Als Versicherungsfall ist nach seiner Überzeugung die
erhebliche Verschlechterung des Hörvermögens der Klägerin anzusehen, die in der Zuerkennung des Merkzeichens GL am 4. Juni
2012 ihren Ausdruck gefunden hat. Dementsprechend war die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Rente unter Zugrundelegung
eines Versicherungsfalles am 4. Juni 2012 zu gewähren ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. §
160 Abs.
2 SGG sind nicht ersichtlich.