Grundsicherungsleistungen
Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrages
Ermessensentscheidung
Ausnahmetatbestände der Unbilligkeitsverordnung
1. Das Bundessozialgericht hat bereits entschieden, dass das einem Leistungsträger hinsichtlich des Ob einer Aufforderung
zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente eingeräumte Ermessen seinen Ausgangspunkt beim Grundsatz der gesetzlichen Verpflichtung
des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen nimmt.
2. Dies gilt erst recht bei einer Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente, wenn die Ausnahmetatbestände
der Unbilligkeitsverordnung nicht vorliegen.
3. Denn dem Entschließungsermessen geht tatbestandlich voraus, dass die Antragstellung des Leistungsberechtigten auf die Inanspruchnahme
vorrangiger Leistungen erforderlich und insbesondere die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht unbillig ist.
4. Von seiner in eine teilweise andere Richtung gehenden Rechtsprechung nimmt der Senat insoweit Abstand.
Gründe:
I.
Die 1953 geborene Antragstellerin hat im März 2016 das 63. Lebensjahr vollendet. Sie bezieht seit dem Jahr 2010 ununterbrochen
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Ihr derzeitiger Bedarf liegt bei 816,17 Euro monatlich (Bescheid des Antragsgegners vom 26. April 2016 für die Monate April
bis September 2016).
Nach einer bei den Akten des Antragsgegners befindlichen Renteninformation der Deutschen Rentenversicherung Bund wird die
am 1. November 2018 beginnende Regelaltersrente der Antragstellerin ohne Abschläge 866,14 Euro betragen, (Renteninformation
vom 07. Januar 2015; zu jenem Zeitpunkt erreichte Rentenanwartschaft: 800,15 Euro).
Auf der Grundlage von § 12a SGB II forderte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Bescheid vom 18. März 2016, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 6.
Mai 2016, auf, beim zuständigen Rentenversicherungsträger die Bewilligung von Altersrente zu beantragen. Den hiergegen gerichteten
Eilantrag hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 22. April 2016 zurückgewiesen; über die am 11. Mai 2016 erhobene
Klage (S 193 AS 6756/16) ist noch nicht entschieden.
Zur Begründung ihrer am 2. Mai 2016 eingelegten Beschwerde führt die Antragstellerin an, die Entscheidung des Antragsgegners
sei ermessensfehlerhaft und erschöpfe sich in Leerformeln. Die zu erwartende Höhe der Altersrente sei dem Grundsicherungsbedarf
nicht gegenüber gestellt worden. Bei Inanspruchnahme von Altersrente werde sie abhängig von Leistungen der Sozialhilfe. In
diesem Fall müsse sie ihre Gothaer Privatrente vorzeitig in Anspruch nehmen, was unbillig sei.
II.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 22. April 2016 ist zulässig, hat jedoch keinen rechtlichen Erfolg.
Wegen der Begründung nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts
im erstinstanzlichen Beschluss Bezug (§
142 Abs.
2 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Nach eigener Sachprüfung hält auch der Senat den Bescheid des Antragsgegners vom 18. März 2016, nunmehr in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2016, für rechtmäßig.
In Würdigung insbesondere der Beschwerdebegründung bleibt zu ergänzen: Ermessensfehler vermag auch der Senat im angefochtenen
Bescheid nicht zu erkennen. Maßgeblich leiten lässt der Senat sich insoweit von der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
zu der Thematik (Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, zitiert nach juris, dort insbes. Rdnr. 28ff.); von seiner in eine teilweise andere Richtung gehenden Rechtsprechung (Beschluss
vom 1. Juli 2015, L 9 AS 1583/14 B, zitiert nach juris, dort Rdnr. 10; Ablehnung intendierten Ermessens) nimmt der Senat insoweit Abstand. Das Bundessozialgericht
hat in der zitierten Entscheidung betont (a.a.O., Rdnr. 28), dass das einem Leistungsträger hinsichtlich des Ob einer Aufforderung
eingeräumte Ermessen seinen Ausgangspunkt beim Grundsatz der gesetzlichen Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen nehme. Dies gelte erst recht bei einer Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen
Altersrente, wenn - wie hier - die Ausnahmetatbestände der Unbilligkeitsverordnung nicht vorlägen. Denn dem Entschließungsermessen
gehe tatbestandlich voraus, dass die Antragstellung des Leistungsberechtigten auf die Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen
erforderlich und insbesondere die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht unbillig sei. Aufgrund der sich hieraus
ergebenden Verpflichtung des Leistungsberechtigten zur Antragstellung nach § 12a SGB II entspreche es pflichtgemäßem Ermessen des Leistungsträgers, "im Regelfall" von der Ermächtigung zur Aufforderung zur Antragstellung
Gebrauch zu machen. In das Ermessen einzustellen seien daher nur solche Gesichtspunkte, die einen atypischen Fall begründen,
in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Antragstellung zur Durchsetzung der Verpflichtung zur Inanspruchnahme
vorrangiger Leistungen abzusehen sei; hierfür dürften bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung nur besondere Härten im
Einzelfall in Betracht kommen, die keinen Unbilligkeitstatbestand im Sinne der Unbilligkeitsverordnung begründeten, aber die
Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen ließen.
Solche zu einer besonderen Härte führenden atypischen Umstände sind im Falle der Antragstellerin nicht erkennbar und mussten
daher vom Antragsgegner auch nicht erwogen werden. Für den Antragsgegner war bei Erlass der angefochtenen Entscheidung ersichtlich,
dass die Altersrente der Antragstellerin auch bei Berücksichtigung von Abschlägen annähernd in der Höhe des derzeitigen Regelbedarfs
liegen wird. Dieser Umstand nimmt dem Fall der Antragstellerin schon im Ansatz jegliche besondere (vom Gesetzgeber nicht gesehene)
Härte. Rechtlich unerheblich ist zugleich, dass die Antragstellerin im Falle des Bezuges von Altersrente gegebenenfalls Sozialhilfeleistungen
nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) wird beantragen können oder müssen, denn das gesetzliche Regelungskonzept einer Inanspruchnahme vorrangiger Sozialleistungen
zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der aktuellen Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II fragt nicht nach einer etwaigen künftigen Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB XII. Im Rahmen der Ermessensausübung vor Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind Prognosen über eine künftige
Hilfebedürftigkeit daher nicht anzustellen (Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 42).
Rechtlich unerheblich und daher für den Antragsgegner nicht weiter erörterungsbedürftig war daher auch das Vorhandensein einer
privaten Rentenversicherung auf Seiten der Antragstellerin. Irgendein Zwang, diese vorzeitig aufzulösen, ist nicht im Ansatz
erkennbar, zumal die von der Antragstellerin zu erwartend Altersrente sich trotz Abschlägen in etwa in der Höhe des jetzigen
Grundsicherungsbedarfs bewegen wird.
Vor diesem Hintergrund durfte das Sozialgericht auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren
ablehnen, §
73a SGG in Verbindung mit §
114 Satz 1 der
Zivilprozessordnung (
ZPO), denn insbesondere angesichts der oben zitierten jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu der hier gegebenen Fallgruppe
fehlte dem Eilantrag jede "hinreichende Aussicht auf Erfolg" im Sinne von §
114 Satz 1
ZPO. Auch eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren kommt aus diesem Grund nicht in Betracht.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).