Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und des Nachteilsausgleichs "RF" (Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht).
Dem 1948 geborenen Kläger ist seit 1991 ein GdB von 70 zuerkannt. Auf einen im September 2005 gestellten Neuantrag hin holte
der Beklagte einen Befundbericht des Arztes für Innere Medizin Dr. Steinhaus und ein Gutachten der Fachärztin für Neurologie
und Psychiatrie Gebauer vom 04. Mai 2006 ein, die ausführte, dass der Gesamt-GdB weiterhin 70 betrage. Die Voraussetzungen
für das Merkzeichen "RF" lägen weiter nicht vor. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen dürfte bei zumutbarer Willensanstrengung
möglich sein. Durch Bescheid vom 13. Juni 2006 lehnte der Beklagte daraufhin die Erhöhung des bisherigen Gesamt-GdB ab und
bezeichnete lediglich die Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt neu, wobei sich die verwaltungsintern zuerkannten Einzel-GdB
aus den Zusätzen in Klammern ergeben:
a) chronische Angstneurose (50)
b) Bandscheibenprotrusion L 4/5 mit anhaltender Wurzelreizung, Beckenschiefstand mit scheinbarer Beinverkürzung rechts, außergewöhnliches
Schmerzsyndrom (40)
c) Riss der Bizepssehne rechts (20)
d) Verschleißerscheinungen an den Kniegelenken (10)
e) Fettstoffwechselstörung (10).
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" seien nicht erfüllt.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, mit dem er ausführte, nicht mehr an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können,
da er bei einigen Theaterbesuchen wegen seiner Angstneurose und Unruhe des Öfteren seinen Platz hätte verlassen müssen und
bereits gebeten worden sei, deswegen die Veranstaltung zu verlassen. Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid
vom 12. Juli 2006 zurück.
Im Klageverfahren brachte der Kläger Atteste des Arztes für Innere Medizin Dr. Steinhaus vom 16. Juni 2006, des Facharztes
für Allgemeinmedizin ValiMohmmadi vom 07. Dezember 2006 und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Amtenbrink vom 31.
Januar 2007 sowie eine Erklärung seiner Ehefrau, Rosemarie Schäfer, bei, auf die Bezug genommen wird.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 19. April 2007 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, soweit
der Kläger nunmehr im Wege der Klageänderung die Feststellung eines GdB von 80 begehre, da er bereits im Widerspruchsverfahren
den Streitgegenstand auf das begehrte Merkzeichen "RF" beschränkt habe. Der Kläger erfülle aber auch darüber hinaus die Voraussetzungen
für das Merkzeichen "RF" nicht, da er nicht von einer Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen und nicht praktisch
an seine Wohnung "gefesselt" sei. Die Kammer setze ihre restriktive Rechtsprechung durch sehr enge Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen
fort, da mit dem Nachteilsausgleich "RF" schon lange kein behinderungsbedingter Mehraufwand mehr ausgeglichen werde.
Gegen diesen am 25. April 2007 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 13. Mai 2007 eingegangene Berufung des Klägers.
Der Kläger verweist auf die erstinstanzlich beigebrachten Atteste. Darüber hinaus könne er mittlerweile auch deshalb an öffentlichen
Veranstaltungen nicht mehr teilnehmen, weil er auf den Gebrauch von Windeln angewiesen sei.
Aus dem Vorbringen des Klägers folgt sein Antrag,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. April 2007 und den Bescheid des Beklagten vom 13. Juni 2006 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm einen Grad der Behinderung
von mehr als 70 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid. Hinsichtlich des höheren GdB sei die Klage
zu Recht als unzulässig zurückgewiesen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst
Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte mit Zustimmung der Beteiligten gemäß §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil
sind jedenfalls im Ergebnis rechtmäßig. Dahingestellt bleiben konnte, ob die Klage hinsichtlich des höheren GdB bereits unzulässig
ist, weil der Kläger sich bereits im Widerspruchsverfahren darauf beschränkt hat, lediglich noch die Zuerkennung des Merkzeichens
"RF" geltend zu machen. Denn jedenfalls bestanden unter Zugrundelegung des Gutachtens der Ärztin Gebauer vom 04. Mai 2006
keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesamt-GdB mit 70 unter Beachtung der Vorgaben des § 69 Abs. 1 Satz 3 und 4 und Abs. 3
Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, und der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil II
SGB XI)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (derzeit Ausgabe 2008), wonach die Auswirkungen von Behinderungen auf die Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft durch die Feststellung von GdB zu ermitteln sind, nicht mehr richtig bewertet wäre.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht vorliegen (vgl. §
69 Abs.
4 Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch -
SGB IX -). Der Kläger gehört insbesondere nicht zu dem Personenkreis des §
1 Abs. 1 Nr. 3 der Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (a.F.) vom
2. Januar 1992 (GVBl. S. 3), zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. März 2004 (GVBl. S. 179), bzw. des § 6 Abs. 1 Satz
1 Nr. 8 des am 1. April 2005 in Kraft getretenen Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter
Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 27. Januar 2005 (GVBl. S. 82).
Hiernach sind behinderte Menschen von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, wenn sie nicht nur vorübergehend um mindestens
80 v.H. in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen
können.
Nach Nr. 33 Abs. 2 (S. 141) der AHP 2005 sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht
erfüllt bei
a) Blinden oder nicht nur vorübergehend wesentlich Sehbehinderten mit einem GdB von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung,
b) Hörgeschädigten, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich
ist und
c) behinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht
teilnehmen können. Hierzu gehören
behinderte Menschen, bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere
Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln
(z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,
- behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken (z.B. durch Entstellung,
Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf-
und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen
können),
- behinderte Menschen mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,
- behinderte Menschen nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven
Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,
- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen
durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer,
künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher und unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die
länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen,
Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen kann nur dann bejaht werden, wenn der Schwerbehinderte in einem
derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und
an das Haus gebunden ist. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen zweifelhafte
Nachteilsausgleich "RF" (vgl. insbesondere BSG, Urteile vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, in: Breith 1994, S. 230, und vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93, bei Juris, worin die Auffassung vertreten wird, dass es wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland
mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft erscheint, dass durch den Nachteilsausgleich "RF" tatsächlich ein behinderungsbedingter
Mehraufwand ausgeglichen wird) nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten
(Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Diese Voraussetzungen sind auch unter Zugrundelegung des Vortrages des Klägers und unter Berücksichtigung der von ihm beigebrachten
Atteste nicht gegeben. Denn der Kläger ist nicht praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen
und an das Haus gebunden. Das Gericht verweist zur Begründung gemäß §
153 Abs.
2 SGG auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid, denen es sich nach eigener Prüfung anschließt. Entgegen der Auffassung
des Klägers hat sich das Gericht bereits erstinstanzlich mit den von ihm beigebrachten Attesten auseinandergesetzt, wie sich
insbesondere auch aus dem richterlichen Schreiben vom 14. Februar 2007 ergibt. Es ist für das Merkzeichen "RF" nicht ausreichend,
lediglich an längeren Veranstaltungen in geschlossenen Räumen nicht mehr teilnehmen zu können, wie dies der Kläger unter Bezugnahme
auf problematische Theaterbesuche vorträgt. Der Kläger müsste vielmehr von der Teilnahme an jedweder öffentlichen Veranstaltung
ausgeschlossen sein, wozu - wie bereits erstinstanzlich ausgeführt - auch der Besuch von Messen, Museen, Gottesdiensten, Jahrmärkten,
Vorträgen und Open Air-Veranstaltungen gehören. Hierfür fehlen vorliegend Anhaltspunkte. Es gibt keinen Grund für die Annahme,
dass der Kläger praktisch an seine Wohnung gebunden wäre und diese nicht mehr verlassen könnte. Etwas anderes folgt auch nicht
aufgrund des Umstandes, dass der Kläger nunmehr auf den Gebrauch von Windeln angewiesen sein mag und dass, wie der Arzt ValiMohammadi
ausführt, das sofortige Erreichen einer Toilette zu jeder Zeit gewährleistet sein muss. Der Gebrauch von Windeln ist zumutbar
und bindet Menschen mit derartigen Einschränkungen regelmäßig nicht an das Haus. Toiletten sind bereits aufgrund öffentlich-rechtlicher
Vorgaben bei Veranstaltungen regelmäßig erreichbar.
Dahingestellt bleiben konnte deshalb, ob das Merkzeichen "RF" aus rechtlichen Gründen überhaupt noch zuerkennungsfähig ist.
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §
193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.