Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" - erhebliche Beeinträchtigung
der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.
Die 1945 geborene Klägerin, bei der der Beklagte 1996 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt hatte, stellte
bei dem Beklagten am 11. September 2009 einen Verschlimmerungsantrag. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten
medizinischen Unterlagen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14. September 2010 eine Heraufsetzung des GdB und die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen "G" und "RF" ab, wobei er zuletzt
folgende (verwaltungsintern mit den sich aus den Klammerzusätzen ergebenden Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen
zugrunde legte:
a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden,
Spinalkanalstenose, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (40),
b) Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseitig (20),
c) migräneähnliche Kopfschmerzen linksseitig (10),
d) Harninkontinenz, Neigung zu Harnwegsinfekten (10).
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Klägerin zunächst die Festsetzung eines GdB von mehr als 50 und
die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt, im weiteren Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens jedoch die Klage hinsichtlich
der Höhe des GdB zurückgenommen.
Das Sozialgericht hat das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. S vom 13. März 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 5. Juli
2012 eingeholt, der als weitere Funktionseinschränkung eine somatoforme Schmerzstörung im Sinne einer Fibromyalgie mit einem
Einzel-GdB von 20 ermittelt, einen Gesamt-GdB von 50 vorgeschlagen und die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens "G" bejaht hat.
Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten mit Urteil vom 13. Dezember 2012 verpflichtet, die gesundheitlichen Voraussetzungen
des Merkzeichens "G" festzustellen. Es ist hierbei den Bewertungen des gerichtlichen Sachverständigen gefolgt.
Hiergegen hat der Beklagte Berufung eingelegt, zu deren Begründung er vorbringt, die Bewertung der Funktionsstörungen der
Lendenwirbelsäule und der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von 50 sei nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens
sei für die - allein maßgeblichen - Beeinträchtigungen der Lendenwirbelsäule ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht
erledigt ist.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil den Beklagten zu Recht verpflichtet, der Klägerin das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.
Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Merkzeichens sind bei ihr erfüllt.
Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen
die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX). Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse
des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen -
noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die
in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke
nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.
Denn Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) gibt an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch
infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist.
Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert
wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem
der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die
Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben,
weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens,
auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise
aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Hierbei werden Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort
nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G". Der Sachverständigen Prof. Dr. S hat überzeugend festgestellt,
dass sie eine Wegstrecke von 2000 m, die im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird, nicht innerhalb von 30
Minuten zurücklegen kann. Dieser Zustand wird auch infolge einer Behinderung, die das Gehvermögen der Klägerin betrifft, einschränkt.
Allerdings lässt sich die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht allein
auf eine behinderungsbedingte orthopädische Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei der Klägerin keine sich auf die
Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich
einen GdB von wenigstens 50 bedingen (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Unter Berücksichtigung der gutachterlich erhobenen Befunde haben - wovon auch der Beklagte ausgeht - die Wirbelsäulenschäden
an der Lendenwirbelsäule der Klägerin schwere funktionelle Auswirkungen, die nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sind. Die übrigen Einschränkungen der unteren Extremitäten, nämlich die Funktionsbehinderung
beider Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 20, verstärken die Hauptbehinderung, weshalb der einzusetzende GdB von 30 um einen
Zehnergrad auf - lediglich - 40 zu erhöhen ist.
Jedoch bestehen nach den gutachterlichen Feststellungen bei der Klägerin weitere Behinderungen, die nicht unter die in Teil
D Nr. 1 der Anlage zur VersMedV genannten Regelbeispiele fallen, sich aber vergleichbar - und zwar in Kombination mit anderen Behinderungen - auf deren Gehfähigkeit
auswirken. Denn die Klägerin leidet an einer somatoformen Schmerzstörung im Sinne einer Fibromyalgie, die sich nach der Überzeugung
des Senats insoweit auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirkt, als sie nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen
die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule zusätzlich zu den Funktionsbehinderungen der Kniegelenke weiter verstärkt, so dass
die Klägerin infolge dieser behinderungsbedingten Einschränkungen des Gehvermögens nicht mehr ohne erhebliche Schwierigkeiten
und nicht ohne Gefahren für sich und andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen kann, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt
werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.