Anspruch auf Krankengeld
Fehlendes Verschulden eines Versicherten wegen nicht rechtzeitiger Vorlage einer Folgebescheinigung
Zurechnung einer Verspätung zur Sphäre des Vertragsarztes und der Krankenkasse
Tatbestand
Die Klägerin begehrt noch die Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 21. bis 29. Mai 2016.
Die 1982 geborene Klägerin war bei der beklagten Krankenkasse als Beschäftigte in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert.
Am 2. Februar 2016 erkrankte sie arbeitsunfähig. Die Beklagte zahlte ihr nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung ab 15. März
2016 Krankengeld in Höhe eines Tagessatzes von 46,34 € brutto (40,62 € netto; Bescheid vom 29. März 2016). Mit der Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
vom 2. Mai 2016 bescheinigte die behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. G (Dr. G.) Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich
20. Mai 2016.
Die Klägerin wurde am 20. Mai 2016 bei Dr. G. vorstellig, die bei ihr eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit feststellte und
hierüber den von der Krankenkasse angeforderten Bericht bei Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit (Muster 52 [1.2016]) fertigte,
wonach der Zeitpunkt des Wiedereintritts ihrer Arbeitsfähigkeit nicht absehbar sei. Dieser Bericht ging am 30. Mai 2016 bei
der Beklagten ein. Mit der Folgebescheinigung vom 16. Juni 2016, die am 17. Juni 2016 bei der Beklagten einging, bescheinigte
Dr. G. Arbeitsunfähigkeit der Klägerin fortlaufend bis voraussichtlich 8. Juli 2016.
Die Beklagte lehnte die Zahlung von Krankengeld über den 20. Mai 2016 hinaus ab. Die Klägerin sei nicht mehr mit einem Anspruch
auf Krankengeld bei ihr versichert (Bescheid vom 21. Juni 2016). Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, aufgrund
ihres Besuchs am 20. Mai 2016 bei ihrer Ärztin Dr. G. habe diese mit dem Formular 52 ihre weitere Arbeitsunfähigkeit ab 21.
Mai bescheinigt. Auf entsprechende Nachfrage habe ihr die Ärztin mitgeteilt, sie, die Klägerin, erhalte keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
zur Weiterleitung an die Beklagte, da die Ärztin selbst das Formular 52 an die beklagte Krankenkasse übersenden würde. Auf
diese Aussage habe sie vertraut. Dr. G. bestätigte mit einem Schreiben vom 23. Juni 2016, sie habe das ausgefüllte Formular
52 für die Zahlung weiteren Krankengeldes als ausreichend erachtet.
Die Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 20. Mai 2016 wegen einer voraussichtlichen Arbeitsunfähigkeit der Klägerin bis
16. Juni 2016 ging am 29. Juni 2016 bei der Beklagten ein. Die Beklagte half dem Widerspruch mit Bescheid vom 30. Juni 2016
teilweise unter Gewährung von Krankengeld ab 16. Juni 2016 ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2016 wies sie den Widerspruch
im Übrigen mit der Begründung zurück, der Anspruch auf Krankengeld habe in der Zeit vom 21. Mai 2016 bis 15. Juni 2016 geruht.
Mit ihrer nachfolgend am 13. September 2016 vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht,
die Krankenkasse dürfe Versicherten, die zur Feststellung ihrer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit zeitgerecht persönlich
einen Vertragsarzt aufsuchten, die Zahlung von Krankengeld nicht verweigern, wenn der Arzt die Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
irrtümlich aus nichtmedizinischen Gründen unterlasse.
Mit Urteil vom 27. April 2018 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 30. Juni 2016 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2016 verpflichtet, der Klägerin Krankengeld für die Zeit vom 30. Mai 2016 bis 15.
Juni 2016 zu leisten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Klägerin zwar im gegenständlichen
Zeitraum arbeitsunfähig gewesen sei, der Krankengeldanspruch aber ruhe, weil die Meldefrist von einer Woche nicht gewahrt
sei, nachdem die Meldung der Arbeitsunfähigkeit ab dem 21. Mai 2016 erst durch Übersendung des Musters 52 und Eingang bei
der Beklagten am 30. Mai 2016 erfolgt sei. Der Umstand, dass die behandelnde Ärztin es gegebenenfalls unterlassen habe, das
Muster 52 zeitnah an die Beklagte zu senden, sei nicht der Beklagten zuzurechnen.
Nach Zulassung der Berufung auf die am 22. Mai 2018 von der Klägerin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (Beschluss des Landessozialgerichts
vom 20. Juni 2019 - L 9 KR 160/18 NZB -) beantragt die Klägerin noch sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. April 2018 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Juni
2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2016 zu verurteilen, ihr auch für die Zeit vom 21. Mai 2016 bis
29. Mai 2016 Krankengeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Berichterstatterin des vormals zuständigen 9. Senats hat den Rechtsstreit am 30. Oktober 2019 mit den Beteiligten erörtert
und Dr. G. als Zeugin vernommen. Auf die Niederschrift Bl. 148 bis 150 der Gerichtsakte wird wegen des Inhalts der Erörterung
und der Zeugenaussage Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, den Inhalt der Gerichtsakten
den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §
143 ff.
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) gegen das Urteil des Sozialgerichts ist begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Urteil des Sozialgerichts der hiermit bereits teilweise aufgehobene Bescheid
der Beklagten vom 30. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2016, mit dem diese einen Anspruch der
Klägerin auf Zahlung von Krankengeld - soweit hier noch gegenständlich - vom 21. Mai 2016 bis 29. Mai 2016 abgelehnt hat.
Diesen Anspruch verfolgt die Klägerin mit der statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG). Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht teilweise abgewiesen. Die Klägerin hat (auch) für die verbleibende Zeit Anspruch
auf Zahlung von Krankengeld in gesetzlicher Höhe; sie wird insofern durch den angefochtenen Bescheid, der rechtswidrig ist,
in ihren Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Krankengeld für beschäftigte Pflichtversicherte der gesetzlichen Krankenversicherung,
wie die Klägerin, sind §§
44 Abs.
1,
46 Satz 1 Nr.
2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (
SGB V in der ab 23. Juli 2015 geltenden Fassung des Gesetzes vom 16. Juli 2015 [BGBl. I S. 1211], gültig bis 10. Mai 2019 [BGBl.
I S. 646] - a.F.) i.V.m. §
192 Abs.
1 Nr.
2 SGB V. Die tatbestandlichen Voraussetzungen, wonach die Klägerin wegen Krankheit arbeitsunfähig, die Arbeitsunfähigkeit am 20.
Mai 2016 ärztlich festgestellt worden und sie für die gegenständliche Zeit bei der Beklagten mit dem Anspruch auf Krankengeld
versichert war, liegen vor und sind zwischen den Beteiligten nicht streitig. Der Anspruch auf Krankengeld entstand nach §
46 Satz 1 Nr. 2
SGB V a.F. vom Tag der ärztlichen Feststellung an, die in Bezug auf den Folgezeitraum ab 21. Mai 2016 hier am 20. Mai 2016 erfolgte.
Dass der Klägerin sodann ab dem 30. Mai 2016 wieder Krankengeld zu gewähren war, steht aufgrund des insofern nicht angefochtenen
Urteils des Sozialgerichts rechtskräftig zwischen den Beteiligten fest (vgl. §
141 Abs.
1 Nr.
1 SGG).
Der Anspruch auf Krankengeld ruhte im streitigen Zeitraum nicht nach §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V, obgleich die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin der beklagten Krankenkasse nicht fristgemäß gemeldet worden war, weil zur Überzeugung
des Senats die Meldung nicht - wie grundsätzlich erforderlich - innerhalb einer Woche nach Beginn der weiteren Arbeitsunfähigkeit
erfolgte: Der von Dr. G. am 20. Mai 2016 über die Klägerin gefertigte Bericht für die Krankenkasse bei Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit
ist erst verspätet am 30. Mai 2016 und die Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 20. Mai 2016 erst am 29. Juni 2016 bei
der Beklagten eingegangen. Dass der Bericht vom 20. Mai 2016 erst zehn Tage nach seiner Fertigung bei der Beklagten einging,
hat die als Zeugin vernommene Vertragsärztin Dr. G. im Zuge des Erörterungstermins vom 30. Oktober 2019 eingeräumt und damit
begründet, dass solcherart Schriftstücke zwar regelmäßig spätestens am folgenden Arbeitstag abgesandt würden, ihre seinerzeitige
Praxismitarbeiterin zu jener Zeit aber für etwa zwei Wochen als alleinige Arzthelferin in der Praxis beschäftigt gewesen und
wegen der dort angefallenen Arbeit überlastet gewesen sei. Sie, Dr. G., sei seinerzeit auf der Suche nach einer allgemeinmedizinisch
versierten Arzthelferin gewesen. Der Senat hat weder Anlass, an dieser Darstellung, die auch von den Beteiligten nicht beanstandet
worden ist, zu zweifeln noch an dem von der Beklagten handschriftlich vermerkten Eingang des Berichts am 30. Mai 2016, der
nach einem Scanvorgang zwecks Digitalisierung handschriftlich angebracht worden sei. Bei dieser Sachlage kommt es auch nicht
auf die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 5. November 2020 (- L 9 KR 204/19 -, juris Rn. 19 ff.) an, wonach es hinsichtlich des Zeitpunkts des Eingangs der Arbeitsunfähigkeit zu einer Umkehr der Beweislast
kommen kann, wenn die Beklagte keinen Posteingangsstempel nutzt, sondern lediglich eine Signatur der elektronischen Erfassung
(vgl. § 2 Nr. 14 Signaturgesetz) auf den gescannten Eingängen anbringt.
Offenbleiben kann vorliegend, ob auch im Falle ausgestellter Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Beginn der Meldefrist
des §
49 Abs.
1 Nr.
5 2. Halbsatz
SGB V im Sinne einer sogenannten Ereignisfrist diese nach § 26 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. den §§
187 Abs.
1,
188 Abs.
2 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB; vgl. BSG, Beschluss vom 4. Juni 2019 - B 3 KR 48/18 B - juris Rn. 11; LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O. Rn. 18) zu berechnen ist oder nach §
187 Abs.
2 BGB (vgl. LSG Hessen, Urteil vom 8. Februar 2018 - L 1 KR 333/17 - juris Rn. 24), wozu der Senat neigt, sodass er hier davon ausgeht, dass die Wochenfrist des §
49 Abs.
1 Nr.
5 2. Halbsatz
SGB V nicht mit der Folge eingehalten worden ist, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes das Ruhen des Krankengeldanspruchs eingetreten
ist.
Indes hat das Bundessozialgericht mit seinem Urteil vom 11. Mai 2017 - B 3 KR 22/17 R - juris Rn. 25 ff.) unter Fortentwicklung und Teilaufgabe früherer Rechtsprechung entschieden, dass eine Lücke in den ärztlichen
Arbeitsunfähigkeitsfeststellungen nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen, sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern
eines Vertragsarztes im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeitsfeststellung für den Versicherten unschädlich ist, wenn sie
der betroffenen Krankenkasse zuzurechnen ist. Vergleichbar liegt es hier im Hinblick darauf, dass die weitere Arbeitsunfähigkeit
zwar von Dr. G. festgestellt worden ist, diese aber aus Gründen, die dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzurechnen sind,
nicht fristgemäß gemeldet worden ist.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (BSG, a.a.O.) steht dem Krankengeld-Anspruch eine erst verspätet erfolgte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung nicht entgegen,
wenn
1. der oder die Versicherte alles in seiner/ihrer Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine/ihre Ansprüche zu wahren,
indem er/sie einen zur Diagnostik und Behandlung befugte/n Arzt/Ärztin persönlich aufgesucht und ihm/r seine/ihre Beschwerden
geschildert hat, um
(a) die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erreichen, und
(b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krankengeldanspruch
erfolgt ist,
2. er/sie an der Wahrung der Krankengeldansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes/-ärztin
gehindert wurde (z.B. eine irrtümlich nicht erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung), und
3. er/sie - zusätzlich - seine/ihre Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen
des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 2017 - B 3 KR 22/15 R - a.a.O. Rn. 34). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der/die Versicherte so zu behandeln, als hätte er/sie von dem/der
aufgesuchten Arzt/Ärztin rechtzeitig die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erhalten.
Das Bundessozialgericht hat diese Rechtsprechung mit Urteilen vom 26. März 2020 - B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 - jeweils juris Rn. 22 ff.) weiter fortentwickelt und dahingehend konkretisiert, dass es einem „rechtzeitig“
erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt gleichstehe, wenn der/die Versicherte alles in seiner/ihrer Macht Stehende und
Zumutbare getan und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine
ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, und es zum persönlichen
Arzt-Patienten-Kontakt aus dem/der Vertragsarzt/-ärztin und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach
Wegfall dieser Gründe gekommen sei. Das sei insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen die Gründe für das nicht rechtzeitige
Zustandekommen in der Sphäre des jeweiligen Vertragsarztes (vgl. zur Einbindung der Vertragsärzteschaft in das System der
Gesetzlichen Krankenversicherung §§ 2 Abs. 2, 72 Abs. 1 und 2,
73 Abs.
2,
75 Abs.
1,
76 Abs.
1 Satz 1 und
2 SGB V) und nicht in derjenigen des Versicherten liegen. Dies, so das Bundessozialgericht weiter, sei typischerweise - mithin nicht
ausschließlich nur dann - zu bejahen bei einer auf Wunsch des Vertragsarztes bzw. seines von ihm angeleiteten Praxispersonals
erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Arzttermins in der (naheliegenden) Vorstellung, ein späterer Termin
sei für den Versicherten leistungsrechtlich unschädlich, weil nach der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen
Bundesausschusses (GBA) auch die begrenzte rückwirkende ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung statthaft sei. Die Obliegenheiten
der Versicherten seien auf das in ihrer Macht Stehende und Zumutbare beschränkt; ein „Arzt-Hopping“ grundsätzlich unerwünscht
sei (vgl. §
76 Abs.
3 Satz 1
SGB V). Für Versicherte fielen zudem ihr soziales Schutzbedürfnis in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu ihrer finanziellen
Absicherung im Krankheitsfall (vgl. auch § 2 Abs. 2 und § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr.
2, §
21 Abs.
1 Nr.
2 Buchst g
SGB I) und die Verhältnismäßigkeit von leistungsrechtlichen Folgen bei tatsächlichen Fristversäumnissen ins Gewicht (verfassungsrechtliches
Übermaßverbot).
Versicherungsträger aller Zweige dürften sich im Übrigen entsprechend §
242 BGB nicht auf die Versäumung einer dem geltend gemachten Leistungsanspruch entgegenstehenden Ausschlussfrist berufen, wenn sie
die Wahrung der Frist durch eigenes Fehlverhalten treuwidrig verhindert haben, welches vor allem auch aus dem Rechtsgedanken
des §
162 Abs.
1 BGB folge (vgl. BSG, Urteil vom 26. März 2020 - B 3 KR 9/19 - juris Rn. 20 ff., 25). Dieser Regelung liege der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde,
dass niemand - auch kein Träger öffentlicher Verwaltung - aus seinem eigenen treuwidrigen Verhalten, das er (oder ein seiner
Sphäre zuzurechnender Dritter) einer ihm rechtlich verbundenen Person gegenüber gezeigt hat, einen Vorteil ziehen dürfe (vgl.
BSG, a.a.O., Rn. 26 m.w.N.). Insofern dürften auch Krankenkassen gegenüber dem Krankengeldanspruch ihrer Versicherten nicht einwenden,
der dafür erforderliche Arzt-Patienten-Kontakt sei nicht rechtzeitig zustande gekommen, wenn dies auf Gründen beruhe, die
in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht der/s Versicherten) lägen, und die auch den Krankenkassen zuzurechnen seien. Dann
sei es gerechtfertigt und vom Normzweck der gesetzlichen Regelungen zum Krankengeld gedeckt, dass sich die Krankenkasse nicht
auf eine dem vertragsärztlichen System anzulastende Verhinderung der rechtzeitigen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung berufen
darf (vgl. BSG, a.a.O. Rn. 27).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Klägerin Anspruch auf Krankengeld (auch) für die Zeit vom 21. bis 29. Mai 2016.
Sie hatte für den letzten Tag der zuletzt ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit am 20. Mai 2016 einen Termin bei der
sie behandelnden Vertragsärztin Dr. G. vereinbart und diesen auch mit dem Ergebnis der Feststellung weiterer Arbeitsunfähigkeit
wahrgenommen, welches zur Erhaltung der Krankengeldansprüche ausreichend war. Indes händigte Dr. G. der Klägerin trotz deren
ausdrücklicher Nachfrage, wie auch deren handschriftlicher Vermerk vom 20. Mai 2016 belegt, keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
zur Weiterleitung an die beklagte Krankenkasse aus, und zwar unter Hinweis auf den zu erstellenden Bericht über das Fortbestehen
der Arbeitsunfähigkeit (Muster 52). Aus innerorganisatorischen Gründen der Arztpraxis wurde dieser Bericht erst mehr als eine
Woche nach seiner Fertigung an die Beklagte abgesandt, so dass er erst am 30. Mai 2016 bei dieser einging. Diese praxisinternen
Gründe sind der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Versicherte der Beklagten nicht zuzurechnen, wenngleich es sich bei der
Meldung der Arbeitsunfähigkeit an die Krankenkasse um eine Tatsachenmitteilung handelt, die nicht an die Einhaltung einer
bestimmten Form gebunden ist und mithin telefonisch, schriftlich, mündlich oder auch in elektronischer Form erfolgen kann.
Denn die Klägerin durfte bei dieser Sachlage darauf vertrauen, dass ihr die leistungsrechtlich zunächst unschädliche Beschränkung
auf den Bericht (Muster 52) und die in Eigenverantwortung der Ärztin angekündigte Übersendung an die Beklagte in Bezug auf
ihre Krankengeldansprüche nicht schaden würde. Insofern liegt der Sachverhalt anders als in Fällen des Nichtzugangs der vom
Versicherten selbst auf dem Postweg abgesandten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 5. Dezember 2019 - B 3 KR 5/19 R - juris Rn. 21), weil es vorliegend bereits nicht zu einer Aushändigung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an die Klägerin
gekommen ist und insofern nicht zu dem maßgeblichen Übergang des Risikos auf die Versicherte.
Zwar sind Vertragsärzte nicht als Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen im zivilrechtlichen Sinne zu qualifizieren (vgl. BSG, Urteil vom 8. August 2019 - B 3 KR 6/18 R - juris Rn. 32). Entgegen der Aussage ihrer Ärztin Dr. G. im Behandlungstermin vom 20. Mai 2016 musste die Klägerin aber
nicht auf die „übliche“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beharren oder gar vorsorglich noch einen anderen Arzt aufsuchen.
Denn abgesehen davon, dass der unter Verwendung des Musters 52 gefertigte Bericht vom 20. Mai 2016, wie vom Sozialgericht
zu Recht entschieden worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 2017 - B 3 KR 22/15 R - a.a.O. Rn. 18), für die Feststellung weiterer Arbeitsunfähigkeit ausreichend war, wäre ihr solches nicht zuzumuten gewesen,
da sie bereits alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan hatte, um ihre Ansprüche auf Krankengeld zu wahren. Ausweislich
der Niederschrift über die Vernehmung der Vertragsärztin Dr. G. als Zeugin war dieser (aus nichtmedizinischen Gründen) seinerzeit
(noch) nicht bewusst, dass - wenn eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß Muster 1 a-d neben dem Muster 52 von ihr nicht
ausgefüllt würde - jedenfalls der Bericht gemäß Muster 52 für den Erhalt des Krankengeldanspruchs der Klägerin innerhalb der
zeitlich durch §
49 Abs.
1 Nr.
5 2. Halbsatz
SGB V gesetzten Grenzen bei der Beklagten einzugehen hätte, mit der Folge, dass sie ihre seinerzeit einzige Praxismitarbeiterin
nicht ausreichend instruiert hatte, die sodann der Übersendung angesichts vorgetragener Arbeitsüberlastung offensichtlich
nicht die erforderliche Priorität eingeräumt hatte. Dies ist dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzurechnen und nicht
demjenigen der Klägerin.
Zwar lässt sich eine Verpflichtung des/der Vertragsarztes/-ärztin zur anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden Übersendung
der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an die Krankenkasse zur Vermeidung der Rechtsfolge des Ruhens des Krankengeldanspruchs
nach §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V zugunsten des Versicherten für den gegenständlichen Zeitraum den untergesetzlichen Regelungen des Vertragsarztrechts nicht
entnehmen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 - B 3 KR 23/17 R - juris Rn. 32). Allerdings wurden nach § 34 Abs. 1 Bundesmantelvertrag - Ärzte (BMV-Ä vom 1. Januar 2013) Vordrucke für schriftliche Informationen als verbindliche Muster in der Vordruckvereinbarung (Anlage
2 zum BMV-Ä) festgelegt. Zu diesen zählt auch das hier gegenständliche Muster 52 „Bericht für die Krankenkasse bei Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit“.
Die Vertragsärztin Dr. G. war insofern gemäß § 36 Abs. 1 BMV-Ä verpflichtet, die zur Durchführung der Aufgaben der beklagten Krankenkasse erforderlichen Informationen - hier den Bericht
gemäß Muster 52 - auf Verlangen an die Krankenkasse zu übermitteln, die hierfür Freiumschläge zur Verfügung gestellt hatte.
Aus diesem untergesetzlichen Regelwerk, (vgl. auch BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 - B 3 KR 23/17 R - a.a.O. Rn. 36), insbesondere den Erläuterungen über Vordrucke für die vertragsärztliche Versorgung (mit Wirkung vom 6.
Mai 2015), ergibt sich, dass der/die Vertragsarzt/-ärztin eine entsprechende Anfrage der Krankenkasse zum Fortbestehen der
Arbeitsunfähigkeit beantworten muss, deren Beurteilungsgrundlage die Anforderungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL)
sind. Hieraus ergibt sich dagegen nicht eindeutig, dass zur Erfüllung der Meldeobliegenheit des/der Versicherten darüber hinaus
die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vierfach auszufüllen und das Muster 1c dem/der Versicherten zur Weiterleitung an die
Krankenkasse auszuhändigen war. Insofern hat nach entsprechender Zuordnung der Verantwortungsbereiche der/die Versicherte
erst dann das Risiko des nicht rechtzeitigen Zugangs bei der Krankenkasse allein zu verantworten, wenn ihm - außerhalb eines
Berichtsfalls wie hier - die für ihn bestimmte Ausfertigung tatsächlich ausgehändigt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 - B 3 KR 23/17 R - a.a.O. Rn. 26). Solches war vorliegend jedoch, wie ausgeführt, gerade nicht der Fall. Das Muster 52 war ausschließlich
für die beklagte Krankenkasse bestimmt und für den Anspruchserhalt auf Krankgengeld ausreichend. Der Bericht gemäß Muster
52 ist „in der Regel“ innerhalb von drei Werktagen auf dem vereinbarten Vordruck zu fertigen (vgl. die entsprechenden Hinweise
zu Muster 52 in der Vordruck-Vereinbarung); auf etwaige leistungsrechtliche Auswirkungen bei späterer Übersendung auf Krankengeldansprüche
wird nicht zugleich hingewiesen (vgl. BSG, Urteil vom 26. März 2020 - B 3 KR 10/19 R - a.a.O. Rn. 29). Entsprechend der Rechtsprechung der Zurechnung fehlerhaften Arztverhaltens zu den Krankenkassen bezogen
auf deren Sozialversicherungsverhältnis zu ihren Versicherten für nichtmedizinische Fehler eines Vertragsarztes mit Urteil
vom 22. Mai 2017 - B 3 KR 22/15 - (a.a.O. Rn. 32) ist diese vergleichsweise bei der Vertragsärztin hervorgerufene Fehlvorstellung
auch vorliegend der beklagten Krankenkasse zuzurechnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.
Die Revision war nicht zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG). Nach dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG vom 6. Mai 2019 [BGBl. I S. 646]) sind Vertragsärztinnen und -ärzte
verpflichtet, die Daten der Arbeitsunfähigkeit ab dem 1. Januar 2021 elektronisch an die Krankenkassen zu übermitteln (Elektronische
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - eAU). vom 6. Mai 2019 (vgl. §
295 Abs.
1 Nr.
1 SGB V mit Wirkung ab dem ab 1. Januar 2021).