Zulassung der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung, Anspruch eines Hilfebedürftigen auf
ernährungsbedingten Mehrbedarf wegen Diabetes mellitus
Gründe:
I. Die Beschwerde der Beklagten richtet sich gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom
9. Mai 2008, mit dem der Klage auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
- Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) durch Berücksichtigung eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs stattgegeben worden
ist.
Die Beklagte hatte dem Kläger, dem durch seinen Hausarzt attestiert worden war, an einem Diabetes mellitus Typ IIa zu leiden,
bis zum 28. Februar 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II einschließlich eines ernährungsbedingten
Mehrbedarfs von 51,13 EUR gewährt. Auf den mit unveränderten Verhältnissen begründeten Fortzahlungsantrag bewilligte die Beklagte
mit Bescheid vom 31. Januar 2007 und Änderungsbescheid vom 9. Februar 2007 ab dem 1. März 2007 bis zum 31. August 2007 zwar
weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, jedoch ohne einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung. Dies
begründete sie mit einer Änderung der Rechtslage.
Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2007 zurück. Sie nahm dabei Bezug auf den Beschluss
des Sozialgerichts Dresden vom 30. August 2006 (Az.: S 23 AS 1372/06 ER), wonach ein medizinisch indizierter Mehrbedarf für Diabeteserkrankungen ausweislich einer Stellungnahme der Deutschen
Diabetesgesellschaft zum Thema Mehraufwand für Diabeteskost nicht mehr bestehe.
Das Sozialgericht hat der am 8. März 2007 erhobenen Klage durch Urteil vom 9. Mai 2008 nach Einholung eines Attests des behandelnden
Internisten stattgegeben und die Beklagte zur Gewährung eines Mehrbedarfs in Höhe von 55,06 EUR monatlich im Zeitraum vom
1. März 2007 bis zum 31. August 2007 verurteilt. Die Berufung hat es nicht zugelassen. Das Sozialgericht hat zur Begründung
ausgeführt, der Kläger leide nach den Bescheinigungen seiner behandelnden Ärzte an Diabetes mellitus Typ IIa, der eine kostenaufwendige
Ernährung bedinge. Der Mehrbedarf für diese Ernährung bemesse sich nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche
und private Fürsorge für die Gewährung von Krankenkostzulagen, denn der Gesetzgeber des SGB II habe mit der Mehrbedarfsregelung
des § 21 Abs. 5 SGB II an die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur vergleichbaren Vorschrift des § 23 Abs. 4 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) angeknüpft. Nach dem Willen des Gesetzgebers seien somit die Empfehlungen des Deutschen Vereins weiterhin als geeignete
Entscheidungsgrundlage für die Bestimmung der Angemessenheit eines Mehrbedarfs heranzuziehen. Die Beträge seien allerdings
entsprechend der Veränderung der Regelsätze für Alleinstehende/Haushaltsvorstände jährlich fortzuschreiben. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 20. Juni 2006 - 1 BvR 2673/05 -) sei den Empfehlungen des Deutschen Vereins besonderes Gewicht beizumessen. Ein Abweichen hiervon sei begründungsbedürftig
und setze entsprechende Fachkompetenz voraus. Dem entspreche es, dass die Rechtsprechung den Empfehlungen die Qualität eines
antizipierten Sachverständigengutachtens beigemessen habe. Daher sei den sachkundigen Vorgaben des Deutschen Vereins auch
unter Berücksichtigung des Vorliegens neuerer wissenschaftlicher Stellungnahmen, die die Erforderlichkeit eines Mehrbedarfs
bei Diabeteserkrankungen generell verneinen, zu folgen. Die Berufung sei nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zuzulassen, da die Frage, ob ein bestimmtes Krankheitsbild eine spezielle Ernährung bedinge, nur eine Tatsachenfrage darstelle.
Gegen die Nichtzulassung der Berufung hat die Beklagte am 5. Juni 2008 Beschwerde eingelegt. Die Rechtssache habe grundsätzliche
Bedeutung. Bei der Frage, ob eine kostenaufwendige Ernährung vorliege, handele es sich um ein Tatbestandsmerkmal des § 21
Abs. 5 SGB II und damit um eine Rechtsfrage. Sie sei auf Grund der Vielzahl der Fälle von grundsätzlicher Bedeutung und höchstrichterlich
noch nicht geklärt. Es sei die Frage zu beantworten, welche fachkundigen Stellungnahmen maßgeblich seien.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 9. Mai 2008 zuzulassen.
Der Kläger hat sich zur Sache nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Berufung gegen das Urteil vom 9. Mai 2008 zu Recht
nicht zugelassen.
Gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) in der ab dem 1. April 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes
vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert
des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt
betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Das gilt gemäß §
144 Abs.
1 Satz 2
SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Der Beschwerdewert von 750,00
EUR wird vorliegend nicht überschritten (6 x 55,06 EUR = 330,36 EUR). Auch betrifft das klägerische Begehren nicht wiederkehrende
oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr.
Gründe für die Zulassung der Berufung liegen jedoch nicht vor. Gemäß §
144 Abs.
2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung
des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts
abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel
geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3).
Eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
1 SGG liegt nicht vor. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn die Streitsache eine bisher nicht geklärte
Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die weitere Entwicklung
des Rechts zu fördern (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [9. Aufl., 2008], §
144 Rdnr. 28). Eine Tatsachenfrage kann auch dann die Zulassung der Berufung nicht begründen, wenn ihre Klärung verallgemeinerungsfähige
Auswirkungen haben kann (Leitherer, aaO., Rdnr. 29, m. w. N.). Bei der von der Beklagten aufgeworfenen Frage handelt es sich
jedoch nur um eine Tatsachenfrage. Denn die Feststellung, ob ein Hilfebedürftiger auf Grund einer Erkrankung einer besonderen,
kostenintensiven Ernährung bedarf, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig, auch wenn diese verallgemeinert werden
können. Maßgebend sind gleichwohl die individuellen Verhältnisse des Hilfebedürftigen. Dementsprechend hat das Bundessozialgericht
entschieden, dass der im Streit stehende Mehrbedarf jeweils im Einzelfall zu ermitteln ist (Urteil vom 27. Februar 2008 -
B 14/7b AS 64/06 R - SozR 4-4200 § 21 Nr. 2 Rdnr. 28 = JURIS-Dokument Rdnr. 28). Die Notwendigkeit einer krankheitsbedingten kostenaufwendigen
Ernährung ist daher eine Tatsachenfrage, über die Beweis erhoben werden kann. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat ggf. eine
Auseinandersetzung mit den verschiedenen sachkundigen Stellungnahmen zu dieser Frage zu erfolgen. Auch insofern hat das Bundessozialgericht
allerdings bereits entschieden, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins im Regelfall noch als Orientierungshilfe dienen
können und die weitere Amtsermittlung von den Besonderheiten des Einzelfalls abhängt (BSG, aaO.). Entgegen der Auffassung
der Beklagten ist also auch die Frage nach der Geeignetheit der Empfehlungen als Beurteilungsgrundlage bei der Bestimmung
der Notwendigkeit und der Angemessenheit eines Mehrbedarfs bereits höchstrichterlich geklärt und somit nicht mehr klärungsbedürftig.
Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung stellen sich im vorliegenden Verfahren demzufolge unter keinem denkbaren Gesichtspunkt.
Ein Fall des §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG (Divergenz) ist ebenfalls nicht ersichtlich.
Da auch kein Verfahrensmangel geltend gemacht worden ist, kann die Beschwerde der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG nicht weiter anfechtbar.