Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende, Aufrechnung mit Ansprüchen des Sozialhilfeträgers, Übergangsregelung
Gründe:
Die am 22. Juni 2007 durch die Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom selben Tag eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt
hat (§ 174
Sozialgerichtsgesetz -
SGG), ist statthaft und zulässig (§§
172,
173 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruches vom 4. Juni 2007 gegen den Aufrechnungsbescheid vom 23. Mai 2007
in der Fassung des Änderungsbescheides vom 13. Juni 2007 angeordnet.
Nach §
86b Abs.
1 Nr.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage - wie hier der Widerspruch gegen
den Aufrechnungsbe-scheid aufgrund der angeordneten sofortigen Vollziehung (§
86a Abs.
2 Nr.
5 SGG) - keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung entscheidet das Gericht aufgrund einer Interessenabwägung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz-Kommentar 8. Aufl., §
86b SGG RdNr. 12). Bei der Abwägung ist von Bedeutung, ob der Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg hat oder nicht (Keller aaO., §
86b SGG RdNr. 12c). Ist der Antrag aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, ist der Verwaltungsakt offenbar
rechtswidrig, wird ausgesetzt. Je größer die Erfolgsaussichten sind, desto geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse
des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung.
Vorliegend wird der Rechtsbehelf des Antragstellers Erfolg haben, da das SG zu Recht entschieden hat, dass der Bescheid vom 23. Mai 2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 13. Juni 2007 deswegen
rechtswidrig ist, weil einer Aufrechnung mit Ansprüchen des Sozialhilfeträgers die in § 65e Satz 2 Sozialgesetzbuch - Zweites
Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II - in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung bestimmte Frist entgegensteht.
Nach § 65e Satz 2 SGB II ist die nach dessen Satz 1 zulässige Aufrechnung (bzw. Verrechnung) von Ansprüchen des Trägers der
Sozialhilfe gegen den Hilfebedürftigen mit Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf die ersten zwei Jahre des
Leistungsbezugs nach diesem Buch beschränkt. Diese Norm bestimmt nach zutreffender Ansicht eine Aufrechnungshöchstdauer, d.h.
sie regelt, wie lange maximal mit einer Gegenforderung aufgerechnet werden darf (z. B. Birk in: LPK-SGB II, § 65e Rn. 6).
Die vereinzelt gebliebene Gegenansicht (Mayer in: Oestreicher, SGB XII/II, § 65e SGB II Rn. 9), die hierin eine bloße Aufrechnungsfrist
sieht, innerhalb derer die Aufrechnung erklärt werden muss, und dies damit begründet, dass der durch § 65e Satz 1 SGB II für
anwendbar erklärte § 43 SGB II in seinem Satz 3 bereits eine Höchstdauer regele, überzeugt schon deswegen nicht, weil § 65e
Satz 1 SGB II allein auf die in § 43 Satz 1 SGB II geregelten Voraussetzungen verweist.
Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 65e Satz 2 SGB II endet die Berechtigung des Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende
zur (weiteren) Aufrechnung bzw. Verrechnung mithin in dem Zeitpunkt, in dem der hilfebedürftige Schuldner (erstmalig) insgesamt
zwei Jahre lang Leistungen nach dem SGB II bezogen hat. Bei einem - wie hier - ununterbrochenen Bezug von Grundsicherungsleistungen
seit Inkrafttreten des Gesetzes konnte daher letztmalig im Dezember 2006 aufgerechnet werden (so auch die ganz h.M. in der
Kommentarliteratur; Adolph in: Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 65e SGB II Rn. 15; Birk aaO. Rn. 7; Marschner in:
Estelmann, SGB II, § 65e Rn. 7).
Dem steht nicht entgegen, dass § 65e Satz 2 SGB II seinen jetzigen Regelungsgehalt durch Art. 1 Nr. 52 des Gesetzes zur Fortentwicklung
der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I 1706, 1715) erhalten hat und erst zum 1. August 2006 in Kraft getreten ist (Art. 16 Abs. 1 des Gesetzes). Die von der Antragsgegnerin
vertretene Auffassung, dass die Zweijahresfrist erst mit dem Inkrafttreten der Norm zu laufen beginne (ebenso Hengelhaupt
in: Hauck/Noftz, SGB II, § 65e Rn 43), ist zwar unter Praktikabilitätsgesichtspunkten verständlich; da die für eine Aufrechnung
verbleibende Zeit bei einem durchgehenden Bezug von Grundsicherungsleistungen nur fünf Monate beträgt und nach § 43 Satz 1
SGB II die Aufrechnung 30 v.H. der maßgeblichen Regelleistung nicht übersteigen darf, ermöglicht die Neuregelung bei einer
Regelleistung von 345 Euro lediglich die Aufrechnung eines Betrages von 517,50 Euro. Ein damit zumindest denkbares Versehen
des Gesetzgebers rechtfertigt es jedoch nicht, § 65e Satz 2 SGB II gegen seinen eindeutigen Wortlaut anzuwenden. Einer allein
zweckorientierten Anwendung von Normen durch die Verwaltung steht schon deren Bindung an Recht und Gesetz entgegen.
Die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin findet im Gesetz keine Stütze. § 65e Satz 2 SGB II beschränkt die Dauer der Aufrechnung
auf die ersten zwei Jahre der Leistungserbringung nach diesem Buch; nach dem Wortlaut der Norm kommt es somit allein auf die
Dauer der Leistungserbringung nach dem SGB II an. Dass der Zweijahres-Zeitraum erst ab Inkrafttreten der Norm zu laufen beginnen
soll, ist der Regelung nicht zu entnehmen; im Gegenteil würde diese Interpretation dem klaren Wortlaut zuwiderlaufen, weil
sie - bei nahtlosem Bezug von BSHG- und SGB II-Leistungen - erforderte, die ersten anderthalbjahre des Leistungenbezuges nach dem SGB II außer Betracht zu lassen.
Ein derartiges Ergebnis lässt sich auch nicht im Wege einer historischen Auslegung der Norm begründen. Der Gesetzesbegründung
lässt sich keine eindeutige Aussage dafür entnehmen, dass der Gesetzgeber etwas anderes gewollt als formuliert hat.
In der Begründung des Fraktionsentwurfs zum Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (BT-Drucks. 16/1410
S. 31) heißt es, nach geltender Rechtslage bestehe 'eine Regelungslücke für die Altfälle aus dem BSHG in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung. Es ist sachgerecht, den früheren Trägern der Sozialhilfe in einer § 43 vergleichbaren
Ausgangssituation eine Verrechnungsmöglichkeit zu geben. Auf diese Weise wird für die Altfälle Kontinuität geschaffen.`. Abgesehen
davon, dass sich die Begründung damit vorwiegend auf § 65e Satz 1 SGB II bezieht, fehlt jede konkrete Aussage zu der hier
relevanten Frage nach dem Beginn des Zweijahres-Zeitraums. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber einen Beginn ab Inkrafttreten
der Neuregelung gewollt haben könnte, lassen sich der Gesetzesbegründung auch nicht ansatzweise entnehmen. Im Gegenteil könnte
die Begründung eher die Auffassung stützen, dass der Gesetzgeber die Aufrechnung ganz bewusst auf die ersten zwei Jahre des
Leistungsbezuges - bei einem durchgehenden Bezug also auf die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006 - begrenzen wollte.
So legt das Wort 'Kontinuität` eine Anknüpfung an den Leistungsbezug nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nahe. Hinzu kommt, dass es sich um eine Übergangsregelung für Altfälle nach dem BSHG handelt; auch dies spricht eher für einen nahtlosen Anschluss an das Sozialhilfebezug als an eine Zugrundelegung des späteren
Inkrafttretens.
Auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich nichts anderes.
Eine Korrektur des Wortlauts im Wege der teleologischen Reduktion käme nur dann in Betracht, wenn sich eine vom unmissverständlichen
Wortsinn abweichende Regelungsabsicht des Gesetzgebers ermitteln ließe und die Formulierung im Gesetzestext zweifelsfrei ein
bloßes Redaktionsversehen wäre (BSG, Urteil v. 24.11.1993, 6 RKa 36/92 = SozR 3-2500 § 98 Nr. 3). Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Annahme eines offensichtlichen Redaktionsversehens steht schon
die vorstehende Interpretation der Gesetzesbegründung entgegen. Zudem soll nach der Gesetzesbegründung den früheren Trägern
der Sozialhilfe durch § 65e SGB II in einer § 43 vergleichbaren Ausgangssituation eine 'Verrechnungsmöglichkeit` gegeben werden.
Dieser Zweck wird durch das Abstellen auf den Beginn des Leistungsbezuges nur zum Teil verfehlt, denn abgesehen davon, dass
auch im ungünstigsten Fall ein (nahezu) halbjähriger Anwendungsbereich verbliebe, ermöglicht die Norm bei nicht durchgängigem
Leistungsbezug auch eine Aufrechnung in der Zeit nach dem 31. Dezember 2006.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§
177 SGG).