Tatbestand
Im Streit ist ein Anspruch auf Vergütung wegen vollstationärer Krankenhausbehandlung und dabei die Frage der Kodierung der
Nebendiagnose N17.91 (Akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet: Stadium 1) bei nicht bekanntem Kreatininausgangswert.
Die 1938 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte W. (im Folgenden: Versicherte) wurde in der Zeit vom 1.
bis zum 21. März 2017 in dem von der Klägerin betriebenen, nach §
108 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB V) zugelassenen Krankenhaus vollstationär behandelt. Die Aufnahme erfolgte nach in der letzten Woche davor aufgetretener zunehmender
Luftnot mit Beschwerden in Ruhe zur Behandlung einer dekompensierten Linksherzinsuffizienz. Am Aufnahmetag wurde bei der Versicherten
als Hinweis auf eine gleichzeitig bestehende Nierenfunktionsstörung ein gegenüber dem Normbereich deutlich erhöhter Kreatinin-Wert
von 1,8 mg/dl festgestellt. Dieser reduzierte sich unter Behandlung im Laufe des stationären Aufenthaltes auf zunächst 1,6
mg/dl am 2. März 2017 und 1,2 mg/dl am 5. März 2017, nach einer letzten Messung vor der Entlassung der Versicherten lag der
Kreatinin-Spiegel am 20. März 2017 schließlich bei einem altersentsprechenden Normalwert von 1,1 mg/dl.
Nach Entlassung der Versicherten rechnete die Klägerin am 22. März 2017 die Behandlung unter Zugrundelegung der Fallpauschale
(Diagnosis Related Group <DRG> F52A (Perkutane Koronarangioplastie mit komplexer Diagnose, mit äußerst schweren CC; Kostengewicht
2,534) mit insgesamt 8673,38 Euro ab. Zugrunde lag u.a. die Kodierung der Nebendiagnose N17.91.
Die Beklagte beglich diese Kosten zunächst, beauftragte jedoch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit
einer Begutachtung des Falles. Dieser kam in seinen Gutachten vom 20. September und 4. Dezember 2017 zu dem Ergebnis, dass
die Nebendiagnose N17.91 umzukodieren sei in die Diagnose N19 (Niereninsuffizienz; nicht näher bezeichnet). Ein akutes Nierenversagen
sei weder bestätigt noch therapiert worden. Danach ergebe sich die DRG F58A (Perkutane Koronarangioplastie mit äußerst schweren
CC; Kostengewicht 1,931). Am 4. Oktober 2017 verrechnete die Beklagte den behaupteten, sich aus der Differenz der DRGs F52A
und F58A ergebenden öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch in Höhe von 2020,05 Euro mit unstreitigen Vergütungsforderungen
aus einem anderen Behandlungsfall.
Am 3. August 2018 hat die Klägerin den verrechneten Betrag nebst Zinsen beim Sozialgericht (SG) Hamburg eingeklagt und darauf verwiesen, dass die Versicherte wegen der Nierenfunktionsstörung gespült worden sei und Furosemid
erhalten habe. Es seien auch Gewichts- und Ein- und Ausfuhrkontrollen durchgeführt worden. Daraufhin sei der Kreatinin-Wert
gesunken.
Die Beklagte hat demgegenüber vorgetragen, die Verringerung des Kreatinin-Wertes im Laufe des stationären Aufenthaltes allein
könne das akute Nierenversagen nicht belegen. Für die Kodierung der Nebendiagnose N17.91 hätte zunächst ein definierter Anstieg
des Kreatinin-Wertes gemessen worden sein müssen.
Das SG hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie,
Diabetologie und Lipidologie DGFF, Dr. med. T., MBA. In seinem Gutachten vom 11. Februar 2019 und der ergänzenden Stellungnahme
vom 25. Mai 2019 ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin im vorliegenden Fall die Nebendiagnose
N17.91 zu Recht kodiert habe. Er hat dazu insbesondere ausgeführt, dass in Ermangelung eines Ausgangswertes der Kreatinin-Wert
nach gebesserter Nierenfunktion zum Ende der Behandlung als Referenzwert herangezogen werden könne. Damit sei ein Anfangswert
von 1,1 mg/dl anzunehmen. Es sei davon auszugehen, dass der Kreatinin-Wert der Versicherten gegenüber dem angenommenen Ausgangswert
von 1,1 mg/dl (nach Normalisierung der Nierenfunktion) auf 1,8 mg/dl bzw. um 0,7 mg/dl angestiegen sei und damit um mehr als
0,3 mg/dl und auch um mehr als 50 %.
Das SG hat über die Klage am 15. Mai 2020 mündlich verhandelt, dieser mit Urteil vom selben Tag stattgegeben und die Beklagte verurteilt,
an die Klägerin 2020,05 Euro nebst 5 Prozent Zinsen seit dem 4. Oktober 2017 zu zahlen.
Die Klage sei als (echte) Leistungsklage nach §
54 Abs.
5 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig. Bei einer auf Zahlung der (Rest-)Behandlungskosten eines Versicherten gerichteten Klage eines Krankenhauses gegen
eine Krankenkasse gehe es um einen so genannten Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt
nicht in Betracht komme (Hinweis auf Bundessozialgericht <BSG>, Urteile vom 17. Juni 2000 – B 3 KR 33/99 R – und 23. Juli 2002 – B 3 KR 64/01 R, jeweils juris). Ein Vorverfahren sei mithin nicht durchzuführen gewesen.
Die Klage sei auch begründet. Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen (weiteren) Vergütungsanspruch in Höhe von 2020,05
Euro nebst geltend gemachten Zinsen auf Grundlage der von ihr abgerechneten DRG F52A mit einem Kostengewicht von 2,534. Denn
die Klägerin habe die im Streit stehende Nebendiagnose N17.91 kodieren dürfen.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs des Krankenhauses seien §
109 Abs.
4 S. 3
SGB V, § 17b Abs. 1 S. 10 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) und §§ 7 Nr. 1, 9 Abs. 1 Nr. 1 des Krankenhausentgeltgesetzes (KHEntgG) in Verbindung mit der hier maßgeblichen Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr (FPV)
2017 sowie dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Vertrag „Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung“ vom 19. Dezember
2002 zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft e.V. und u.a. der Beklagten nach §
112 SGB V (im Folgenden: Landesvertrag). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG entstehe die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme
einer Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt werde und im Sinne
von §
39 Abs.
1 S. 2
SGB V erforderlich sei (Hinweis auf BSG, Urteil vom 18. September 2008 – B 3 KR 15/07 R, juris).
Der in Anlage 1 zur FPV 2017 enthaltene Fallpauschalenkatalog sei nach Fallgruppen (DRG) geordnet. Maßgebliche Kriterien für
die Zuordnung eines Behandlungsfalles zu einer DRG seien die Hauptdiagnose, die Nebendiagnosen, eventuelle den Behandlungsverlauf
wesentlich beeinflussende Komplikationen, die im Krankenhaus durchgeführten Prozeduren sowie weitere Faktoren (Alter, Geschlecht
etc.). Die Diagnosen würden mit einem Kode gemäß dem vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information
(DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen ICD-10 verschlüsselt. Die Prozeduren würden nach
dem ebenfalls vom DIMDI herausgegebenen OPS kodiert. Aus diesen Kodes werde sodann zusammen mit den weiteren für den Behandlungsfall
maßgeblichen Faktoren unter Verwendung einer bestimmten vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) zertifizierten
Software ("G1") die entsprechende DRG ermittelt (sog. "Groupierung"), anhand derer die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung
errechnet werde. Zusätzlich könnten bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, insbesondere bei erhöhtem Behandlungs- oder
Pflegeaufwand, ergänzende Tagesentgelte oder Zusatzentgelte abgerechnet werden. Zur sachgerechten Durchführung der Verschlüsselung
("Kodierung") von Diagnosen und Prozeduren hätten die Vertragspartner auf Bundesebene die "Deutschen Kodierrichtlinien" (hier:
Version 2017, DKR 2017) beschlossen.
Die Nebendiagnose sei nach den vorliegend maßgeblichen Richtlinien (DKR 2017, D003i) definiert als "eine Krankheit oder Beschwerde,
die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt". Für Kodierungszwecke
müssten Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflössen, dass irgendeiner
der folgenden Faktoren erforderlich sei:
- therapeutische Maßnahmen, - diagnostische Maßnahmen, - erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand.
Für Symptome gölten die Regelungen zur Kodierung von Nebendiagnosen entsprechend. Abnorme Labor-, Röntgen-, Pathologie- und
andere diagnostische Befunde würden nicht kodiert, es sei denn, sie hätten eine klinische Bedeutung im Sinne einer therapeutischen
Konsequenz oder einer weiterführenden Diagnostik (DKR 2017, D003i).
Zur Frage, was unter einem akuten Nierenversagen zu verstehen sei, enthalte der ICD-10-GM-Katalog, Version 2017 (im Folgenden:
ICD-Katalog) unter Kapitel XIV nähere Vorgaben. In den dortigen Informationen zur Diagnose N17.- werde auf die KDIGO-Leitlinien
(Kidney Disease: Improving Global Outcomes, abgedruckt in Kidney International Supplement <2012> 2, 8-12) Bezug genommen.
Danach liege ein akutes Nierenversagen vor, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt sei:
- Anstieg des Serum-Kreatinins über einen gemessenen Ausgangswert um mindestens 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden; - Anstieg
des Serum-Kreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb
der vorangehenden 7 Tage; - Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg/h über mindestens 6 Stunden.
Hierbei werde der Schwere nach differenziert zwischen Stadium 1 bis 3 (sog. AKIN-Stadium <AKIN: Acute Kidney Injury Network>),
wobei die oben genannten Kriterien nach den KDIGO-Leitlinien mindestens dem AKIN-Stadium 1 entsprächen.
Nach Maßgabe der vorstehenden Abrechnungsbestimmungen habe die Klägerin im gegenständlichen Behandlungsfall zu Recht die Schlüsselnummer
N17.91 als Nebendiagnose kodiert. Die Kammer folge insoweit der Beurteilung des Sachverständigen Dr. T., der in seinem Gutachten
vom 11. Februar 2019 und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25. Mai 2019 unter Berücksichtigung und Abwägung der von
den Beteiligten vorgebrachten Argumente und unter Verwertung der beigezogenen Krankenunterlagen überzeugend zu dem Ergebnis
gelangt sei, dass ein akutes Nierenversagen im AKIN-Stadium 1 vorgelegen habe.
Der Kreatinin-Wert der Versicherten habe sich im Laufe des stationären Aufenthaltes nachweislich von 1,8 mg/dl am 1. März
2017 wieder auf einen Normalwert von 1,1 mg/dl am 20. März 2017, mithin um 0,7 mg/dl, verringert. Insbesondere sei der Wert
binnen 7 Tagen von 1,8 mg/dl am 1. März 2017 auf 1,2 mg/dl am 5. März 2017, mithin um 0,6 mg/dl, abgesunken.
Der Beklagten sei zwar darin zuzustimmen, dass im ICD-Katalog ein Anstieg und nicht das Absinken der Werte zu Grunde gelegt
werde. Da der konkrete Anstieg des Kreatinin-Wertes durch das behandelnde Krankenhaus zum Zeitpunkt der Aufnahme jedoch nicht
mehr habe gemessen werden können, weil die Versicherte bereits mit erhöhten Werten eingeliefert worden sei, sei es nach Ansicht
der Kammer rechtlich zulässig, auf den normalisierten Wert nach der Behandlung als "angenommenen Ausgangswert" zurückzugreifen
(so auch: SG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 24. Mai 2012 – S 5 KR 6370/11, juris; SG Nürnberg, Urteil vom 25. Juli 2019 – S 7 KR 35/17, juris).
Die Beklagte verkenne, dass der Rückgriff auf einen solchen Referenzwert auch nach dem Wortlaut des ICD-Katalogs und der KDIGO-Richtlinien
vorgesehen sei, wenn es unter der zweiten Variante heiße: „…Anstieg des Serum-Kreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens
50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage…“. Damit biete der ICD-Katalog in der zum Behandlungszeitpunkt maßgeblichen Fassung die Möglichkeit, einen nicht mehr messbaren
Anstieg anhand eines „anzunehmenden Grundwertes“ bzw. „angenommenen Ausgangswertes“ (nachträglich) zu berechnen.
Darüber hinaus sei es nach den Feststellungen des Sachverständigen aus medizinischer Sicht auch üblich und statthaft, bei
der Bestimmung des akuten Nierenversagens in Ermangelung von Ausgangswerten auf einen „anzunehmenden Grundwert“ bzw. „angenommenen
Ausgangswert“ zurückzugreifen, weil es in der Versorgungsrealität nahezu unmöglich sein dürfte, im Falle von Akuterkrankungen
Ausgangswerte, also Laborbefunde aus der Zeit kurz vor dem Akutereignis, beizubringen und damit in vielen Fällen ein „aus
medizinischer Sicht ganz offensichtlich“ vorliegendes akutes Nierenversagen nicht kodiert werden könnte.
Es sei daher davon auszugehen, dass durch die Störung der Nierenfunktion eine Erhöhung des Serum-Kreatinins von ursprünglich
1,1 mg/dl bzw. von 1,2 mg/dl auf 1,8 mg/dl, d.h. um mindestens 50% innerhalb von 7 Tagen stattgefunden habe. Dies entspreche
der Definition des akuten Nierenversagens Stadium 1, wie von der Klägerin kodiert.
Gemäß den Feststellungen im Sachverständigengutachten habe sich die Versicherte zum Zeitpunkt der Behandlung in einem dem
klinischen Zustand angepassten Hydrationszustand befunden, wie er vom ICD-Katalog vorausgesetzt werde.
Auch sei ausweislich der Krankenakte und der Feststellungen im Sachverständigengutachten das Patientenmanagement dergestalt
beeinflusst worden, als therapeutische und pflegerische Maßnahmen in Form der Anpassung der Medikation, Bewässerung, Gewichts-
und Ein-/Ausfuhrkontrollen erfolgt seien.
Der Zinsanspruch ergebe sich aus §§ 12,14 des Landesvertrags.
Gegen dieses ihr am 25. Juni 2020 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. Juli 2020 – einem Montag – eingelegte Berufung
der Beklagten, mit der sie weiter die Auffassung vertritt, dass sich aus den vorliegenden Werten lediglich ein Abfall des
Serumkreatinins ergebe und der erforderliche Anstieg nicht belegt sei. Soweit der Sachverständige in Ermangelung von Ausgangswerten
nicht den Anstieg, sondern den Abfall des Messwertes als Referenzwert annehme, widerspreche dieses Vorgehen dem eindeutigen
Wortlaut der AKIN-Stadien. Selbst wenn man den am 20. März 2017 gemessenen Kreatininwert von 1,1 mg/dl als Normalwert ansehen
wollte, könne nicht überzeugend angenommen werden, dass der Anstieg auf 1,8 mg/dl am Aufnahmetag in den letzten sieben Tagen
vor Aufnahme erfolgt sei und somit ein aktuelles Geschehen vorliege. Es könne bereits nicht ausgeschlossen werden, dass der
Anstieg nicht innerhalb von acht Tagen erfolgt sei. Zur Stützung ihrer Auffassung verweist die Beklagte auf das nicht veröffentlichte,
von ihr zur Akte gereichte Urteil des SG Darmstadt vom 9. Juni 2020 – S 14 KR 705/10 – sowie auf dasjenige des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 18. August 2020 – L 16 KR 592/18 (www.medcontroller.de).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin, die auf gerichtlichen Hinweis ihre Klage hinsichtlich des vom SG zugesprochenen Zinsanspruchs für den 4. Oktober 2017 zurückgenommen hat, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Begründung des SG, welche sich mit der Rechtsprechung anderer Gerichte decke, sei zu folgen. Insbesondere sei hervorzuheben, dass der Rückgriff
auf einen „anzunehmenden“ Grundwert durchaus im Abrechnungssystem vorgesehen sei. Anderenfalls wäre die hier betroffene Anrechnungsvorschrift
auch nicht sinnvoll anwendbar, da ein kurz vor der Krankenhausaufnahme erhobener Referenzwert in der überwiegenden Zahl aller
Fälle gar nicht zur Verfügung stehe.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer weiteren ergänzenden Stellungnahme des vom SG gehörten Sachverständigen Dr. T. zu dessen Gutachten vom 11. Februar 2019. Auf die schriftliche Äußerung vom 8. Dezember
2020 wird Bezug genommen.
Am 22. April 2021 hat der Senat über die Berufung mündlich verhandelt. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschrift
und den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der ausweislich der Sitzungsniederschrift beigezogenen Akten und Unterlagen
Bezug genommen.
Weder das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren noch das Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme geben Anlass zu einer
abweichenden rechtlichen Bewertung.
Soweit die Beklagte weiter davon ausgeht, dass das Abstellen auf den während der stationären Behandlung abgefallenen Kreatininmesswert
unzulässig sei und dem Wortlaut der AKIN-Kriterien widerspreche, nimmt sie nach wie vor nicht zur Kenntnis, dass danach ausdrücklich
auch das Abstellen auf einen „anzunehmenden“ Grundwert vorgesehen ist (ebenso: SG Freiburg, Urteil vom 24. Mai 2012 – S 5 KR 6370/11, juris-Rn. 18; SG Nürnberg, Urteil vom 25. Juli 2019 – S 7 KR 35/17, juris-Rn. 61f.; in der von der Beklagten in Bezug genommenen Entscheidung des SG Darmstadt vom 9. Juni 2020 – S 14 KR 705/17 – kam es hierauf nicht an, da ein gemessener Referenzwert vorlag, dessen Bewertung vor dem Hintergrund der bei dem dortigen
Patienten – anders als im hiesigen Verfahren – bestehenden Exsikkose streitig war). Die Klägerin weist zu Recht darauf hin,
dass das Vorliegen von gemessenen Ausgangswerten eher die Ausnahme darstellen dürfte. Auch der Sachverständige bekräftigt
in seiner im Berufungsverfahren eingeholten ergänzenden Stellungnahme, dass das Vorgehen, den abgefallenen Kreatininwert als
Maß für die zuvor bestandene Nierenfunktion heranzuziehen, sich mit den Ausführungen der AKIN-Arbeitsgruppe decke, und ergänzt,
dass dies auch den aktuellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie entspreche, in denen Folgendes ausgeführt
werde:
Viele Patienten weisen bei der Aufnahme bereits ein akutes Nierenversagen auf, d. h. bei Aufnahme oder innerhalb der ersten
48 Stunden nach Aufnahme werden die höchsten Kreatininkonzentrationen gemessen, wobei häufig die Kreatininwerte vor dem Aufenthalt
nicht bekannt sind. Im weiteren Verlauf kommt es dann zu einem Abfall bis hin zur Normalisierung der Retentionswerte. In diesen
Fällen wird der beste während des Aufenthaltes gemessene Kreatininwert als Referenzwert verwendet.
Ob ein solches Vorgehen im Rahmen der Abrechnungsbestimmungen auch zulässig ist, wenn auch nach Abfall des Kreatininwertes
während der stationären Behandlung immer noch ein überhöhter Wert vorliegt und die Diagnose einer Niereninsuffizienz gestellt
wird, wie es in dem der von der Beklagten in Bezug genommenen Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18. August 2020
zugrundeliegenden Sachverhalt der Fall war, kann dahingestellt bleiben. Denn im vorliegenden Fall gab es keine Hinweise auf
eine Niereninsuffizienz bei der Versicherten, die unabhängig von der akuten Nierenfunktionsstörung im Zusammenhang mit der
dekompensierten Linksherzinsuffizienz bestanden hätte, und am Ende des Abfalls der Kreatininwerte während der stationären
Behandlung stand vorliegend das Erreichen eines altersentsprechenden Normalwerts, dessen Vorliegen auch vor Beginn der akuten
Verschlechterung und dem Anstieg auf den bei Aufnahme im Krankenhaus der Klägerin gemessenen überhöhten Wert ohne weiteres
plausibel ist.
Auch soweit die Beklagte darüber hinaus meint, dass sich ein aktuelles Geschehen nicht feststellen lasse und nicht ausgeschlossen
werden könne, dass der vom Sachverständigen angenommene Anstieg des Kreatininwerts vor der stationären Aufnahme nicht innerhalb
der letzten 7 Tage erfolgt sei, vermag der erkennende Senat dem nicht zu folgen. Der Sachverständige führt in seiner im Berufungsverfahren
eingeholten ergänzenden Stellungnahme überzeugend aus, dass mit hinreichender Sicherheit von einem akuten Geschehen ausgegangen
werden könne.
Zunächst einmal wird auch in den in Kapitel XIV des ICD-10, Version 2017, im Abschnitt „Akutes Nierenversagen“ (N17.-) in
Bezug genommenen KDIGO-Leitlinien explizit darauf hingewiesen, dass bei jeder Diagnosestellung die klinische Urteilskraft
und Bewertung des Arztes selbst bei unvollständigen klinischen Daten, die häufig nicht eindeutig seien, gefordert sei. Der
klinisch tätige Arzt muss – so der Sachverständige zu Recht – in seinem Beruf immer mit Wahrscheinlichkeiten umgehen, und
so muss auch in diesem Fall – unter ausdrücklicher Billigung der Ersteller der AKIN-Kriterien – abgewogen werden, ob ein akutes
Nierenversagen plausibel ist. Hierfür wird empfohlen, auf alle verfügbaren Daten zurückzugreifen. In diesem Fall muss man
sich auf die vorliegenden Laborwerte beschränken und feststellen, dass sich die bei Aufnahme schlechte Nierenfunktion im Verlauf
der stationären Behandlung nach ärztlicher Intervention normalisierte.
Eine schlechte Nierenfunktion wird – so der Sachverständige weiter – als Nierenversagen bezeichnet, und das Vorliegen einer
solchen ist vorliegend zu Recht nicht strittig. Strittig ist allein die Frage, ob es sich um eine chronische oder akute Niereninsuffizienz
handelte. Die Definitionskriterien der chronischen Nierenerkrankung nach den KDIGO-Leitlinien lagen – zumindest bei Entlassung
– nicht vor, wie Dr. T. schlüssig darlegt und was auch die Beklagte nicht behauptet. Das Hauptmerkmal einer chronischen Erkrankung
ist im Übrigen, dass diese nicht nur lange andauert, sondern auch schwer oder gar nicht geheilt werden kann. Bei normalisierter
Nierenfunktion am Entlassungstag ist also ein chronisches Leiden nicht wahrscheinlich, sodass mit hinreichender Sicherheit
von einem akuten Nierenversagen auszugehen ist. Schließlich findet sich in den Krankenunterlagen der anamnestische Hinweis,
dass die Luftnot der Versicherten zu Hause in der letzten Woche (vor Aufnahme) von Tag zu Tag schlechter geworden sei (Verlegungsbericht
vom 6. März 2017, Entlassungsbericht vom 9. März 2017). Diese wiederum ist mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl Folge der Herzinsuffizienz
als auch des akuten Nierenversagens.
Alles zusammen reicht aus, damit sich der Senat davon überzeugen kann, dass bei der Versicherten die Kriterien für die Diagnose
eines akuten Nierenversagens gemäß N17.91 des ICD-10, Version 2017, vorlagen. Es gibt keine Hinweise auf das Bestehen einer
chronischen Erkrankung als Ursache für die bei Aufnahme bestehenden gesundheitlichen Probleme der Versicherten und den zu
diesem Zeitpunkt festgestellten erhöhten Kreatininwert. Angesichts des Rückgangs der Beschwerden und des Kreatininwerts unter
ärztlicher Behandlung auf einen altersentsprechenden Wert vor Entlassung und angesichts des zeitlichen Ablaufs der Entwicklung
der Beschwerden nach den anamnestischen Angaben der Versicherten innerhalb einer Woche vor der notfallmäßigen Aufnahme im
Krankenhaus der Klägerin kann mit hinreichender Sicherheit von einem Anstieg der Kreatininwerte innerhalb von 7 Tagen vor
der stationären Aufnahme um mindestens 50% ausgegangen werden. Allein dies erscheint nach den überzeugenden Ausführungen des
Sachverständigen Dr. T. plausibel, der zu Recht ergänzt, dass es genauso gut möglich wäre, dass auch das zweite AKIN-Kriterium
(Anstieg des Serumkreatinins um mindestens 0,3 mg/dl in 48 Stunden) kurz vor stationärer Aufnahme eingetreten war, was jedoch
der Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden kann, weil nach diesem Kriterium ein gemessener Ausgangswert verlangt wird; anders
ist dies jedoch bei dem vorliegend bejahten Kriterium.