Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund der Folgen seiner Erkrankung an einer anerkannten Berufskrankheit
nach der Nr. 4103 (Asbeststaublungenerkrankung-Asbestose) der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV).
Der im Jahre 1947 geborene Kläger arbeitete unter anderem als Chemiearbeiter in der Herstellung sonstiger asbesthaltiger Produkte
und war dabei einer entsprechenden Inhalationsgefahr asbesthaltiger Stäube ausgesetzt.
Mit Bescheid vom 4. April 2012 stellte die Beklagte bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr. 4103 der Berufskrankheiten-Liste
fest. Die bei dem Kläger röntgenologisch feststellbaren Asbeststaubinhalationsfolgen am Brustfell, ohne darauf zu beziehende
Lungenfunktionseinschränkungen, seien Folge der Berufserkrankung. Ansprüche auf Leistungen wegen der Berufskrankheit bestünden
nicht, da die Berufskrankheit nicht behandlungsbedürftig sei und keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) zur Folge habe.
Im Widerspruchsverfahren erstattete Dr. S. am 25. Oktober 2012 ein lungenfachärztliches Gutachten. Die Asbeststaubinhalationsfolgen
ließen sich im Computertomogramm in sehr diskretem Ausmaße zeigen. Es lasse sich keinerlei Störung bezogen auf das respiratorische
System objektivieren. Der Widerspruch blieb erfolglos. Ein pneumologisches Folgegutachten wurde von Dr. S2 am 10. April 2014
erstellt. Auch dieser kam zu dem Ergebnis, dass pleurale Asbestinhalationsfolgen ohne hierauf zu beziehende Funktionsstörungen
rentenberechtigenden Ausmaßes vorlägen. Dr. S1 erstattete für das Sozialgericht ein internistisches Gutachten vom 30. Oktober
2014. Auch Dr. S1 sah keine Funktionseinschränkungen, die eine MdE begründen könnten. Die Klage beim Sozialgericht nahm der
Kläger am 28. November 2014 zurück.
Bereits am 8. Januar 2015 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag, da sich seit Ende November 2014 die Atemwegsprobleme
verschlimmert hätten. Zusätzlich seien Schmerzen im Thoraxbereich hinzugetreten.
Der Facharzt für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin, Gesundheitsförderung und Prävention Prof. Dr. H. erstattete am 21. April 2016
ein wissenschaftlich begründetes arbeitsmedizinisches Fachgutachten und führte aus, dass im Rahmen der bei dem Kläger durchgeführten
ganzkörperplethysmographischen Untersuchung die Atemwegswiderstände im Normbereich gelegen hätten. Das Residualvolumen, das
intrathorakale Gasvolumen sowie der prozentuale Anteil des Residualvolumens an der totalen Lungenkapazität seien unauffällig
gewesen. In der spirometrischen Untersuchung habe sich eine normale Vitalkapazität sowie eine absolute und relative Einsekunden-Kapazität
gezeigt. Die Diffusionskapazität habe im Normalbereich gelegen. Die aktuell nachgewiesene grenzwertige Hypoxämie sei am ehesten
Ausdruck einer pulmonalen Verteilungsstörung bei Adipositas. Zusammenfassend zeige sich zum Zeitpunkt der Basisuntersuchung
eine unauffällige Lungenfunktion. Gegenüber dem maßgeblichen Vorgutachten vom 26. Oktober 2012 sei keine wesentliche Änderung
(Verschlimmerung) eingetreten. Unabhängig von den Folgen der Berufskrankheit lägen ein Zustand nach Hinterwandinfarkt mit
PTCA/Stentimplantation bei koronarer 3-Gefäßerkrankung, ein Zustand nach Lungenarterienembolie des rechten Unterlappens bei
einer ausgedehnten Thrombose des rechten Unterschenkels, ein obstruktives Schlafapnoesyndrom, ein lumbaler Bandscheibenvorfall
sowie ein metabolisches Syndrom vor.
Mit Bescheid vom 6. Mai 2016 stellte die Beklagte fest, dass ein Anspruch auf Rente weiterhin nicht bestehe. Sie verwies im
Wesentlichen auf die Ausführungen von Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 21. April 2016. Aus den Folgen der Berufskrankheit
sei auch weiterhin keine rentenberechtigende MdE abzuleiten. Eine wesentliche Änderung zum Vorgutachten sei ebenfalls nicht
eingetreten. Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch ein und kritisierte, dass ein Vergleich der Erwerbsmöglichkeiten
vorher/nachher auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht angestellt worden sei. Der Anteil der atemwegsbelastenden Arbeitsplätze
im gewerblichen Bereich dürfte bei 30 % liegen.
Der radiologische Befundbericht von Dr. H. vom 5. Januar 2017 wies auf eine lediglich initiale pleurale Verkalkung an der
rechten ventralen Thoraxwand, ohne Lymphadenopathie, ohne Pleuraerguss, ohne umschriebenes Infiltrat, bei minimalen narbigen
Veränderungen dorsal rechts und ohne intrapulmonale Raumforderung hin.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2017 zurück und erklärte, dass nach den eingeholten
medizinischen Unterlagen keine Hinweise auf eine rentenberechtigende MdE vorlägen. Die Auswertung der Röntgenkontrolle habe
ergeben, dass bei dem Kläger sehr diskret ausgebildete asbestbedingte Veränderungen vorlägen, welche nicht in der Lage seien,
funktionelle Einschränkungen hervorzurufen.
Der Kläger hat am 17. Dezember 2019 Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben und im Wesentlichen auf seine Ausführungen im
Widerspruchsverfahren verwiesen. Die Folgen der Berufskrankheit zögen eine rentenberechtigende MdE nach sich.
Im Rahmen des neben dem Klageverfahren fortlaufend betriebenen Verwaltungsverfahrens mit turnusmäßiger Nachuntersuchung hat
die Beklagte ein weiteres Gutachten von dem Facharzt für Innere Medizin, Arbeitsmedizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Kardiologie,
Allergologie und Umweltmedizin Prof. Dr. B. vom 20. Mai 2019 eingeholt. Dieser hat nach der bei dem Kläger durchgeführten
Lungenfunktionsprüfung erklärt, dass bei im Normbereich liegender Vital- und Totalkapazität kein Hinweis auf eine restriktive
Ventilationsstörung bei dem Kläger vorliege. Die Atemwegswiderstände und der Ein-Sekunden-Atemstoßwert seien unauffällig,
somit bestehe auch kein eindeutiger Hinweis auf eine obstruktive Ventilationsstörung. Nach Bronchospasmolyse fielen die initial
im oberen Normbereich gelegenen Atemwegswiderstände deutlich ab. Der Anteil des Residualvolumens an der Totalkapazität sei
aber nicht im Sinne einer Lungenüberblähung erhöht. Eine Diffusionsstörung bestehe nicht, die Sauerstoffsättigung sei unauffällig.
Bei dem Kläger finde sich eine normale Lungenfunktion. Insgesamt sei die Belastbarkeit des 72-jährigen Klägers als vermindert
einzustufen, ohne dass sich eindeutige Zeichen einer respiratorischen Ursache ergäben.
Die Beklagte hat dem Kläger mit Schreiben vom 24. Mai 2019 mitgeteilt, dass sich in der zuletzt durchgeführten Nachuntersuchung
keine wesentliche Änderung in den Folgen des Versicherungsfalles ergeben habe. Eine wesentliche Änderung liege nur vor, wenn
die Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. von der bisherigen Einschätzung abweiche.
Das Sozialgericht hat die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 11. November 2021 abgewiesen. Bei dem Kläger seien
als Folgen seiner anerkannten Berufskrankheit (Asbeststaublungenerkrankung-Asbestose) röntgenologisch feststellbare Asbestaubinhalationsfolgen
durch die Beklagte bestandskräftig anerkannt worden. Diese bestünden nach dem radiologischen Befundbericht von Dr. H. vom
5. Januar 2017 hauptsächlich in Form einer initial bestehenden pleuralen Verkalkung an der rechten ventralen Thoraxwand, bei
minimalen narbigen Veränderungen. Weder aus dem Gutachten von Prof. Dr. H. vom 21. April 2016 noch aus dem Gutachten von Prof.
Dr. B. vom 20. Mai 2019 ergäben sich Anhaltspunkte, dass die pleurale Verkalkung im Sinne einer Verschlimmerung (§
73 Abs.
3 SGB VII) fortgeschritten sei oder sich aus diesen Folgen Funktionsstörungen ergäben, die mit einer MdE von mindestens 20 v. H. zu
bewerten wären. Prof. Dr. B. habe plausibel ausgeführt, dass sich im Rahmen der durchgeführten Lungenfunktionsprüfung kein
Hinweis auf eine restriktive Ventilationsstörung ergeben habe, da die Vital- und Totalkapazität des Klägers im Normbereich
lägen. Auch eine obstruktive Ventilationsstörung habe Prof. Dr. B. nachvollziehbar ausgeschlossen, indem er nachgewiesen habe,
dass auch die Atemwegswiderstände und der Ein-Sekunden-Atemstoßwert unauffällig gewesen seien und auch keine Lungenüberblähung
oder Diffusionsstörung bei dem 72-jährigen Kläger bestehe. Die von Prof. Dr. B. darüber hinaus festgestellte „normale Lungenfunktion“
könne unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu einer rentenberechtigenden MdE führen. Nachvollziehbar sei bei dem Kläger ohne
weiteres eine verminderte Belastbarkeit, ohne dass sich eindeutige Zeichen einer respiratorischen Ursache ergäben, insbesondere
vor dem Hintergrund eines Zustandes nach Hinterwandinfarkt mit PTCA/Stentimplantation bei koronarer 3-Gefäß-Erkrankung, eines
Zustandes nach Lungenarterienembolie, einer ausgedehnten Thrombose des rechten Unterschenkels und eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms.
Diese Erkrankungen seien jedoch keine Folgen der anerkannten Berufskrankheit und müssten daher bei der Beurteilung der MdE
außer Betracht bleiben.
Gegen das ihm am 23. November 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. Dezember 2021 Berufung eingelegt. Es sei nicht
auszuschließen, dass die Kreislaufveränderungen, der Zustand nach Lungenarterienembolie und ein obstruktives Schlafapnoesyndrom
Folge der anerkannten Berufskrankheit seien.
Mit Bescheid vom 17. Februar 2022 hat die Beklagte festgestellt, dass der Kläger weiterhin keinen Anspruch auf eine Verletztenrente
habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. November 2021 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2016 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2017 sowie die Bescheide vom 24. Mai 2019 und 17. Februar 2022 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten, ihm aufgrund der Folge seiner anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-
Verordnung eine Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte beruft sich auf ihre bisherigen Ausführungen und die medizinischen Gutachten.
Für den Beklagten hat Prof. Dr. B. ein fachärztliches, arbeitsmedizinisches und internistisches-pneumologisches Zusammenhangsgutachten
vom 9. Februar 2022 erstattet. Die Vitalkapazität sei vermindert, jedoch liege die Totalkapazität noch im Normbereich, somit
liege kein sicherer Hinweis auf eine restriktive Ventilationsstörung vor. Die Atemwegswiderstände und der Ein-Sekunden-Atemstoßwert
seien unauffällig, somit bestehe auch kein eindeutiger Hinweis auf eine obstruktive Ventilationsstörung. Das Residualvolumen
und der Anteil des Residualvolumens an der Totalkapazität seien erhöht. Eine signifikante Diffusionsstörung bestehe nicht,
die Sauerstoffsättigung sei in Ruhe mit 95 % unauffällig. Insgesamt finde sich eine weitgehend normale Lungenfunktion. Die
beklagte Belastungsdyspnoe sei im Wesentlichen kardial bedingt. Bei asbesttypischen Veränderungen seien keine hierauf zurückzuführenden
signifikanten Lungenfunktionseinschränkungen festzustellen. Der Kläger trägt zu dem Gutachten vor, dass sich zwar nicht die
Grunderkrankung verschlimmert habe, aber der allgemeine Arbeitsmarkt. Zumindest eine MdE auf Zeit sei zu prüfen, weil für
jemand, der an Asbestose erkrankt sei, der Arbeitsmarkt in der Pandemie verschlossen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Verwaltungsakte sowie die Sitzungsniederschrift
vom 29. Juni 2022 verwiesen.
Beim Kläger liegen keine Einschränkungen der Lungenfunktion vor, die eine MdE begründen könnten. In der aktuellen Begutachtung
durch Prof. Dr. B. lagen weiterhin weder eine restriktive noch eine obstruktive Ventilationsstörung vor. Die Totalkapazität
lag im Normbereich und auch eine signifikante Diffusionsstörung lag nicht vor. Die Sauerstoffsättigung in Ruhe war mit 95
% unauffällig. Prof. Dr. B. kommt demnach schlüssig und nachvollziehbar zu dem Schluss einer weitgehend normalen Lungenfunktion.
Die vom Kläger beklagte Belastungsdyspnoe ist kardial bedingt.
Soweit die Bevollmächtigten des Klägers vortragen, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich zwar nach der Gutachtenlage
nicht relevant verschlechtert, aber die Erwerbsmöglichkeiten des Klägers seien aufgrund der Asbestose während der Corona-Pandemie
weiter eingeschränkt gewesen, so dass sich eine MdE ergebe, kann dem nicht gefolgt werden. Der Kläger leidet unter keiner
Einschränkung der Lungenfunktion, so dass sich schon kein Anhalt dafür ergibt, dass für ihn aufgrund seiner Erkrankung während
der Pandemie Erwerbsmöglichkeiten weggefallen sind.