Anrechnung einer Geschäftsgebühr für die Tätigkeit im Widerspruchsverfahren
Fiktive Geschäftsgebühr
Gründe:
I.
In dem Rechtsstreit der Kläger B. und C. gegen den Landkreis Hersfeld-Rotenburg vor dem Sozialgericht Fulda (S 2 AS 165/13) stritten die Beteiligten über angemessene Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II). Die am 10. Oktober 2013 eingelegte Klage richtete sich gegen den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 16. September 2013.
Der Beschwerdegegner war für die Kläger bereits im Widerspruchsverfahren tätig geworden. Mit Beschluss vom 23. Januar 2014
bewilligte das Sozialgericht den Klägern antragsgemäß Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab 10. Oktober 2013 unter Beiordnung
des Beschwerdegegners. Das Klageverfahren wurde am 17. Februar 2014 durch angenommenes Anerkenntnis beendet. Mit Beschluss
vom 10. Juni 2014 entschied das Sozialgericht auf Antrag der Kläger, dass die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten
haben.
Am 17. Februar 2014 machte der Beschwerdegegner gegenüber der Staatskasse für seine Tätigkeit als beigeordneter Rechtsanwalt
in dem Verfahren S 2 AS 165/13 insgesamt 809,20 EUR geltend. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle setzte unter dem 28. Februar 2014 die aus der Staatskasse
zu zahlenden Gebühren und Auslagen auf insgesamt 392,70 EUR fest. Zur Begründung führte der Urkundsbeamte unter anderem aus,
die Geschäftsgebühr, die hier ebenfalls entstanden sei, werde in Höhe von 130,00 EUR angerechnet.
Gegen die Kostenfestsetzung des Urkundsbeamten legte der Beschwerdegegner am 26. März 2014 Erinnerung ein. Die vom Gericht
vorgenommene Kürzung der Verfahrensgebühr mit der Begründung fiktiver möglicher Gebührenansprüche des Klägers gegenüber den
Verfahrensgegnern widerspreche dem Wortlaut und den gesetzlichen Regelungen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).
Demgegenüber vertrat der Beschwerdeführer die Meinung, der Beschwerdegegner sei bereits im Widerspruchsverfahren für die Kläger
tätig gewesen. Mit dieser vorgerichtlichen Tätigkeit sei eine Geschäftsgebühr nach der Nr. 2302 des Vergütungsverzeichnisses
zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV-RVG) ausgelöst worden. Sie gelte damit auch als entstanden. Für das rechtliche Entstehen der Geschäftsgebühr sei einzig erforderlich,
dass der Rechtsanwalt eine erste Dienstleistung erbracht habe. Ob der Rechtsanwalt gegenüber dem Mandanten seine Tätigkeit
nach diesem Gebührentatbestand abrechne oder ob er stattdessen seine Vergütung aus einer Gebührenvereinbarung oder aus einem
Dauermandat verlangen könne, ändere am Entstehen der Gebühr nichts. Aus der Gesetzesbegründung zum Zweiten Kostenrechtsmodernisierungs-Gesetz
(2. KostRMoG) ergebe sich, dass es Ziel des Gesetzgebers gewesen sei, eine gebührenrechtliche Gleichbehandlung des Rechtsanwalts,
der unmittelbar einen Prozessauftrag erhalte, mit dem Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig gewesen sei, auszuschließen,
weil der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, für die die gerichtliche Verfahrensgebühr entstehe, entscheidend davon beeinflusst
werde, ob der Rechtsanwalt durch seine vorgerichtliche Tätigkeit bereits mit der Angelegenheit befasst gewesen sei oder nicht.
Der Staatskasse sei auch die Anrechnung nicht nach § 15a RVG verwehrt. Denn die Staatskasse sei nicht Dritte im Sinne der Vorschrift. Da sie gemäß § 45 Abs. 1 RVG dem beigeordneten Rechtsanwalt die gesetzliche Vergütung schulde, trete sie mit der Beiordnung und PKH-Bewilligung hinsichtlich
der Zahlungspflicht an die Stelle der Kläger. Die vorgenommene Anrechnung auf die gerichtliche Verfahrensgebühr gemäß der
Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV-RVG in Höhe einer halben Geschäftsgebühr nach der Nr. 2302 VV-RVG sei zutreffend.
Mit Beschluss vom 29. Juli 2014 setzte das Sozialgericht die dem Beschwerdegegner zu erstattende Vergütung auf insgesamt 547,40
EUR fest. Außerdem ließ das Sozialgericht die Beschwerde zu. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Sozialgericht aus,
allein streitentscheidend sei noch, ob der Urkundsbeamte zu Recht die für die Vertretung der Kläger im Vorverfahren unbestritten
entstandene Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2302 VV RVG auf die für die Vertretung im Klageverfahren zu zahlende Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 VV-RVG angerechnet habe. Diese Anrechnungslösung sei für die Rechtsanwaltsvergütung im Sozialprozess mit Wirkung vom 1. August 2013
durch das Zweite Kostenrechtsmodernisierungsgesetz eingeführt worden, nachdem zuvor für die Fälle einer Vortätigkeit eines
Rechtsanwalts die Nr. 3103 VV-RVG als eigenständiger Gebührenrahmen gegolten habe. Zwar könne aus dem Wortlaut der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 VV-RVG abgeleitet werden, dass die Anrechnung unabhängig von der Zahlung der Geschäftsgebühr sei. Diese Auslegung sei jedoch nicht
mit anderen Vorschriften des RVG in Einklang zu bringen. Nach § 55 Abs. 5 Satz 3 und 4 RVG komme es auf die tatsächliche Zahlung an. Eine Anrechnung ohne tatsächliche Zahlung sei auch nicht mit § 15a Abs. 1 RVG zu vereinbaren. Zweck des § 15a Abs. 1 RVG sei jedenfalls im Innenverhältnis von Mandant und Rechtsanwalt, dem Rechtsanwalt die volle Wahlfreiheit zu lassen, welche
Gebühr er in voller Höhe fordern wolle und welche er dann infolge der Deckelung durch die Höchstsumme infolge der Anrechnung
nur beschränkt verlange. Diese Wahlfreiheit werde missachtet, wenn ein Rechtsanwalt durch eine rein fiktive Anrechnung darauf
verwiesen werde, die Zahlung der Geschäftsgebühr bei seinem Mandanten oder dem Prozessgegner zu erwirken. Soweit abstrakt
angeführt werde, dass der Gesetzgeber eine Gleichbehandlung des Rechtsanwalts, der unmittelbar einen Prozessauftrag erhalte,
mit dem Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig war, habe vermeiden wollen, genüge dies nicht, um das zuvor begründete
Ergebnis infrage zu stellen. Die Vermeidung dieser Gleichbehandlung werde nach Streichung des Gebührenrahmens der Nr. 3103
VV-RVG durch die Anrechnungslösung und die damit verbundene Deckelung auf den Gesamtbetrag möglicher Gebühren allemal erreicht.
Es sei nicht gesetzgeberisches Ziel gewesen, diese Ungleichbehandlung durch eine infolge fiktiver Anrechnung von vornherein
reduzierte Verfahrensgebühr zu verwirklichen. Nach alledem sei vorliegend die Anrechnung der entstandenen Geschäftsgebühr
mangels tatsächlicher Zahlung unzulässig.
Am 30. Juli 2014 hat der Beschwerdeführer gegen den ihm am 29. Juli 2014 zugestellten Beschluss Beschwerde eingelegt, der
das Sozialgericht nicht abgeholfen hat. Der Beschwerdeführer vertritt weiterhin die Auffassung, dass eine fiktive Geschäftsgebühr
anzurechnen sei. Bei einer Anrechnung der halben Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nur nach tatsächlicher Zahlung werde
verkannt, dass der eigentliche Schuldner der Geschäftsgebühr der Mandant sei. Die Wahlfreiheit des Rechtsanwalts nach § 15a Abs. 1 RVG hinsichtlich der Geltendmachung der vollen Gebühren gegenüber der Staatskasse führe im Ergebnis dazu, dass die Staatskasse
die Hälfte der Gebührenschuld des Mandanten für das Vorverfahren zu tragen habe. Jedoch erfolge gemäß § 48 Abs. 1 RVG die Bestimmung des Vergütungsanspruchs nach dem Beschluss, durch den die Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt
beigeordnet worden sei. Die Staatskasse müsse bei unterbliebener Geltendmachung der Geschäftsgebühr die Hälfte der Kosten
des Vorverfahrens tragen.
Der Beschwerdeführer beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Fulda vom 29. Juli 2014 aufzuheben und die aus der Staatskasse an den Beschwerdegegner zu
zahlende Vergütung für seine Tätigkeit als beigeordneter Rechtsanwalt in dem Verfahren S 2 AS 165/13 auf 392,70 EUR festzusetzen.
Der Beschwerdegegner beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Beschwerdegegner hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.
Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Beschwerdeakte sowie die Gerichtsakte S 2 AS 165/13, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen. II.
Der Senat hat die Beschwerde durch seine Berufsrichter entschieden, nachdem die Berichterstatterin das Verfahren wegen grundsätzlicher
Bedeutung nach den §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG auf den Senat übertragen hatte.
Die gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 RVG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss zu Recht entschieden, dass eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die
Verfahrensgebühr mangels tatsächlicher Zahlung nicht zulässig ist.
Der Rechtsstreit richtet sich nach der ab 1. August 2013 gültigen Rechtslage, da der Auftrag an den Beschwerdegegner nach
dem 1. August 2013 erteilt worden war (§ 60 RVG). Die Verfahrensgebühr ist nach der Nr. 3102 VV-RVG festzusetzen. Durch das 2. KostRMoG vom 23. Juli 2013 (BGBl. I 2586) ist der Gebührenrahmen der Verfahrensgebühr der Nr.
3102 VV-RVG für Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, auf 50,00 EUR bis 550,00 EUR angehoben worden.
Die Nr. 3103 VV-RVG, die den Gebührenrahmen der Verfahrensgebühr bei einer Tätigkeit des Rechtsanwaltes im Vorverfahren bezeichnete, ist gestrichen
worden.
Mit der neu gefassten Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV-RVG ist nunmehr auch im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem Betragsrahmengebühren entstehen, auf eine echte Anrechnungsregelung
umgestellt worden. Soweit wegen desselben Gegenstandes eine Geschäftsgebühr nach Teil 2 (d.h. eine nach den Nrn. 2300 bis
2303 VV-RVG entstandene Geschäftsgebühr) entsteht, wird diese Gebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens
angerechnet. Bei Betragsrahmengebühren beträgt der Anrechnungsbetrag höchstens 175 EUR.
Vorliegend ist streitig, ob eine Geschäftsgebühr nach der Nr. 2303 VV-RVG für die Tätigkeit des Beschwerdegegners im vorangegangenen Widerspruchsverfahren anzurechnen ist, obwohl der Beschwerdegegner
eine Zahlung auf die Geschäftsgebühr nicht erhalten und wohl auch nicht geltend gemacht hat. Mit dem Sozialgericht vertritt
der Senat die Auffassung, dass nur tatsächliche Zahlungen auf die Geschäftsgebühr und nicht eine fiktive Geschäftsgebühr auf
die Verfahrensgebühr anzurechnen ist.
Die in der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV-RVG vorgeschriebene Anrechnung führt dazu, dass im Rahmen der Kostenerstattung auch § 15a RVG unmittelbar Anwendung findet (Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 21. Auflage, 2013, S. 1037). Danach kann der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern, wenn das RVG die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr vorsieht, jedoch nicht mehr, als den um den Anrechnungsbetrag verminderten
Gesamtbetrag der beiden Gebühren. Die Anrechnungsvorschrift des § 15a Abs. 1 RVG gilt auch dann, wenn der Anwalt im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden ist. Die Staatskasse, die in diesem Fall
nach § 45 Abs. 1 Satz 1 RVG Gebührenschuldner wird, tritt insoweit an die Stelle des Mandanten.
Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr kann aber nur vorgenommen werden, wenn die Geschäftsgebühr auch
gezahlt worden ist. Dies folgt aus § 55 Abs. 5 Satz 2 bis 4 RVG. Nach diesen Vorschriften hat der Rechtsanwalt anzugeben, welche Zahlungen auf etwaig anzurechnende Gebühren geleistet worden
sind, wie hoch diese Gebühren sind und aus welchem Wert sie entstanden sind. Durch diese Angaben sollen für die Festsetzung
der Vergütung die Daten zur Verfügung gestellt werden, die benötigt werden, um zu ermitteln, in welchem Umfang die Zahlungen
nach § 58 Abs. 1 und 2 RVG auf die anzurechnende Gebühr als Zahlung auf die festgesetzte Gebühr zu behandeln sind. § 55 Abs. 6 RVG schließlich sieht Sanktionen gegen den Rechtsanwalt für den Fall vor, dass er zu "empfangenen Zahlungen" gegenüber dem Urkundsbeamten
keine Erklärung abgegeben hat. Damit ist ersichtlich, dass bei der Kostenfestsetzung nur geleistete Zahlungen zu berücksichtigen
sind. Denn andernfalls bedürfte es der Angabe, welche Zahlungen der Rechtsanwalt empfangen hat, nicht (Ahlmann in Riedel/Sußbauer,
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 10. Auflage, § 15a Rd. 9 ff. m.w.H).
Dem Rechtsanwalt steht das Wahlrecht zu, wie er gebührenrechtlich vorgehen will; er hat die Wahl, welche Gebühr er in voller
Höhe und welche Gebühr er lediglich gekürzt geltend macht. Der im Rahmen der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt
kann auch wählen, von welchem der beiden Schuldner er die volle Gebühr und von wem er nur die gekürzte Gebühr beansprucht
(vgl. Riedel/Sußbauer, aaO.; Hartmann, Kostengesetze, 44. Auflage, 2014, § § 15a Rndr. 4). Eine gesetzliche Grundlage dafür,
dass der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt Zahlungsansprüche gegen den Mandanten oder den Gegner im
Vorverfahren geltend machen und sich andernfalls fiktive Zahlungsansprüche anrechnen lassen muss, ist aus dem RVG nicht zu abzuleiten und würde auch dem Wahlrecht des Rechtsanwaltes widersprechen. Die Staatskasse als Kostenschuldner des
im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwaltes muss dieses Wahlrecht ebenfalls gegen sich gelten lassen (Müller-Rabe
in Gerold/Schmidt, aaO., § 58 Rdnr. 35).
Die Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG findet vorliegend unstreitig keine Anwendung. Die Vorschrift regelt, unter welchen Voraussetzungen eine Anrechnung von Leistungen
eines Dritten im Außenverhältnis stattfindet. Der Prozessgegner im Verfahren S 2 AS 165/13 hat keine Kosten zu erstatten (Beschluss des Sozialgerichts vom 10. Juni 2014); die Staatskasse ist kein "Dritter" im Falle
der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist, sondern Kostenschuldner des Rechtsanwaltes.
Nach alledem muss es bei der Entscheidung des Sozialgerichts verbleiben. Die Beschwerde konnte keinen Erfolg haben.
Die Beschwerde ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG).
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).