Anspruch auf Arbeitslosengeld II, Leistungsausschluss bei Ausbildungsförderung
Gründe:
Die am 30. Juni 2007 beim Sozialgericht eingegangene Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (2. Juli 2007),
mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2007 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB
II) in Höhe von monatlich 157,55 EUR ab Eingang des Eilantrages beim Sozialgericht zu gewähren,
ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz -
SGG - kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines
zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§
86b Abs.
2 Satz 3
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II in der ab 1. Januar 2007 geltenden Fassung (Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 - BGBl. I, 1706) erhalten abweichend von §
7 Abs.
5 SGB II u.a. Auszubildende, die Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (
BAföG) erhalten und deren Bedarf sich nach §
13 Abs.
1 i.V.m. Abs.
2 Nr.
1 BAföG bemisst, einen Zuschuss zu ihren ungedeckten angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§
22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Satz 1 gilt nicht, wenn die Übernahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 2a
SGB II ausgeschlossen ist.
Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II sind im Falle der Antragstellerin erfüllt.
Ergibt sich - wie hier - eine vorrangige Anspruchsberechtigung nicht aus § 7 Abs. 6 SGB II, sind Auszubildende an sich nach
§ 7 Abs. 5 SGB II von dem Bezug laufender Leistungen ausgeschlossen. Mit der Regelung des § 22 Abs. 7 SGB II hat der Gesetzgeber
auf das Problem reagiert, dass in die Leistungen für Auszubildende teilweise Unterkunftskosten lediglich in nicht bedarfsdeckender
Höhe eingerechnet sind und dies insbesondere bei einer nach § 22 Abs. 7 SGB II vorausgesetzten Aufteilung der Unterkunftskosten
nach Kopfzahlen zu einer Bedarfsunterdeckung führt (Berlit in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 22 Rdnr. 126 m.w.N.). Nach den
Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 16/1410, S. 24) zielt die Regelung des §
22 Abs.
7 SGB II insbesondere auf
BAföG beziehende Studierende, die im Haushalt der Eltern leben und Kosten für die Unterkunft und Heizung beisteuern müssen, weil
die Eltern den auf das studierende Kind entfallenden Wohnkostenanteil nicht tragen können, insbesondere wenn sie selbst hilfebedürftig
sind und daher einen Teil der Wohnkosten nicht erstattet bekommen.
Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 2. Februar 2007, bei der Antragsgegnerin eingegangen am
6. Februar 2007, Leistungen nach § 22 Abs. 7 SGB II beantragt. Sie absolviert ein Studium, wohnt bei ihren Eltern und bezieht
Leistungen nach §
13 Abs.
1 i.V.m. Abs.
2 Nr.
1 BAföG. Sie ist damit nach §
22 Abs.
7 SGB II anspruchsberechtigt. Der Wortlaut des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II lässt allerdings nicht erkennen, wie die Hilfeleistungen
zu berechnen sind, insbesondere ob und ggf. in welcher Höhe Einkommen anzurechnen ist. Nach der Systematik des Gesetzes hängt
der Anspruch nach § 22 Abs. 7 SGB II allein von der Höhe der ungedeckten Unterkunftskosten ab, ohne dass es einer Bedarfs-
bzw. Einkommensberechnung nach dem SGB II bedarf (vgl. SG Schwerin, Beschluss vom 29. März 2007 - S 10 ER 49/07 AS -). Dafür
spricht schon die Regelung des § 19 Satz 2 SGB II, wonach der Zuschuss nach § 22 Abs. 7 nicht als Arbeitslosengeld II gilt.
Behandelt die Fiktionsregelung den Anspruch nach § 22 Abs. 7 SGB II nicht als solchen auf Arbeitslosengeld II, scheidet auch
die Anwendung der allgemeinen das Arbeitslosengeld II betreffenden Vorschriften zu Umfang und Höhe des Bedarfs und zur Anrechnung
von Einkommen aus. Unerheblich ist dabei, dass die Regelung des § 19 Satz 2 SGB II in erster Linie das Entstehen der Sozialversicherungspflicht
des nach § 22 Abs. 7 SGB II Anspruchsberechtigten verhindern soll. Auch lässt der Wortlaut des § 22 Abs. 7 SGB II einen Verweis
auf Vorschriften zur Einkommensanrechnung nach dem SGB II nicht erkennen. Der Auffassung, zur Ermittlung des ungedeckten Unterkunftskostenbedarfs
sei das vorhandene, nach den Maßstäben des SGB II zu bereinigende Gesamteinkommen dem fiktiven Gesamtbedarf nach SGB II (Regelsatz
plus angemessene Unterkunftskosten) gegenüberzustellen, kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil sich bereits dem Wortlaut
des §
22 Abs.
7 Satz 1 SGB II nach der Bedarf der Auszubildenden nach dem
SGB III bzw. dem
BAföG bemisst, und nicht - wie die Antragsgegnerin und das SG Berlin (Beschluss vom 23. März 2007 - S 37 AS 2804/07 ER -) meinen - nach den Vorschriften des SGB II. Auch der Auffassung, bei der Berechnung des Zuschusses zu den Unterkunftskosten
nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II sei der ungedeckte Unterkunftsbedarfs zum Betrag der Ausbildungsförderung zu addieren; diesem
zu berücksichtigenden Gesamtbedarf sei das vorhandene, nach den Maßstäben des SGB II bereinigte Gesamteinkommen gegenüberzustellen
(so SG Berlin, Beschluss vom 4. Mai 2007 - S 102 AS 9326/07 ER -), kann nicht gefolgt werden. Denn diese Berechnungsmethode würde
BAföG-Empfänger, die mit Hilfedürftigen in Bedarfsgemeinschaft leben, gegenüber den übrigen
BAföG-Empfängern ohne erkennbaren sachlichen Grund benachteiligen. Denn auf der Grundlage des zum 1. April 2001 geänderten §
21 BAföG wird Kindergeld im Unterschied zur Regelung des §
11 Abs.
1 Satz 3 SGB II bei der Berechnung der Ausbildungsförderung nicht als Einkommen angerechnet. Der Gesetzgeber hat demnach für
BAföG-Empfänger einen um das Kindergeld erhöhten Bedarf zur Bestreitung des Lebensunterhalts einschließlich der für die Ausbildung
erforderlichen Kosten (vgl. §
1 BAföG) angenommen. Auch wird Kindergeld für volljährige Kinder des Hilfebedürftigen, die nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören,
unter bestimmten Voraussetzungen nicht als Einkommen berücksichtigt (soweit es nachweislich an das nicht im Haushalt des Hilfebedürftigen
lebende volljährige Kind weitergeleitet wird, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 8 Alg II-V in der ab 1. Oktober 2005 geltenden Fassung).
Zwar lässt sich den Gesetzesmaterialien entnehmen, dass der Gesetzgeber den Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II davon abhängig
machen wollte, dass dem Auszubildenden selbst überhaupt Kosten für Unterkunft und Heizung entstehen, und dass diese nach Berücksichtigung
von Einkommen und Vermögen ungedeckt sind. Daraus folgt aber nicht, dass der Gesetzgeber von einer Anrechnung von Einkommen
und Vermögen nach den Vorschriften des SGB II ausgegangen ist. Da sowohl Leistungen nach dem
BAföG als auch nach dem SGB II Bedürftigkeitsleistungen sind, auf die regelmäßig Einkommen und Vermögen angerechnet werden, und
im Übrigen nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber abweichend von den den Bestimmungen des
BAföG zugrunde liegenden Wertungen eine Verschlechterung der Situation von
BAföG-Empfängern, die mit Hilfesuchenden nach dem SGB II bzw. SGB XII in Bedarfsgemeinschaft leben gegenüber anderen
BAföG-Empfängern beabsichtigt hat, ist §
22 Abs.
7 SGB II dahingehend auszulegen, dass die ungedeckten Unterkunftskosten ohne erneute Prüfung des (Gesamt-) Bedarfs und Anrechnung
des Einkommens zu ermitteln sind. Diese Auslegung entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, der ergänzend zu den pauschalierenden
Regelungen der Ausbildungsförderungsvorschriften Leistungen insbesondere für diejenigen erbringen wollte, die mit Hilfedürftigen
in Bedarfsgemeinschaft leben und ihren eigenen Anteil an den Unterkunftskosten nicht bzw. nicht vollständig erstattet bekommen.
Beabsichtigt war daher nur die Aufstockung der Unterkunftsleistungen bis zur Bedarfsdeckung. Dass Leistungen nur nach vorheriger
Ausschöpfung von nach
BAföG anrechnungsfreiem Einkommen erbracht werden sollen, kann der Gesetzesbegründung nicht entnommen werden.
Die Höhe des Zuschusses bemisst sich nach den ungedeckten angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung. Als ungedeckte Unterkunftskosten
sind 1/3 der tatsächlichen Unterkunftskosten der aus drei Personen bestehenden Bedarfsgemeinschaft in Höhe von insgesamt 201,55
EUR (Mietaufwendungen einschl. Nebenkosten 541,66 EUR: 3 = 180,55 EUR zuzügl. Heizkosten 63,00 EUR: 3 = 21,00 EUR) abzüglich
des nach §
13 Abs.
2 Nr.
1 BAföG gewährten Betrages für Unterkunft in Höhe von 44,00 EUR, mithin 157,55 EUR monatlich zu berücksichtigen. Wohngeldansprüche
sind nicht abzusetzen. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1c Wohngeldgesetz (WoGG) sind Empfänger von Zuschüssen nach § 22 Abs. 7 SGB II, bei deren Berechnung Kosten der Unterkunft berücksichtigt worden sind, von Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz ausgeschlossen.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund für den Zeitraum vom 13. April 2007 bis zum 31. August 2007 glaubhaft gemacht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d.h. es muss eine dringliche
Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats - vgl. Beschlüsse
vom 22. September 2005 - L 9 AS 47/05 ER -, vom 7. Juni 2006 - L 9 AS 85/06 ER - und vom 30. August 2006 - L 9 AS 115/06 ER -; zuletzt Beschluss vom 30. Juli 2007 - L 9 AS 291/06 ER -; Conradis in: LPK-SGB II, Anhang Verfahren Rdnr. 119). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder
erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl. 2005, §
86b Rdnr. 28). Derartige erhebliche Nachteile sind hier zu bejahen, da nicht ersichtlich ist, aus welchen Mitteln der nicht gedeckte
Unterkunftsbedarf bestritten werden kann. Es ist der Antragstellerin daher nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens
abzuwarten. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Zeit ab 1. September 2007 kommt dagegen schon deshalb nicht in
Betracht, weil nach dem vorgelegten
BAföG-Bescheid vom 31. Oktober 2006 der Bewilligungszeitraum mit Ablauf des Monats August 2007 endet und eine besondere Eilbedürftigkeit
einer Regelung für zukünftige Zeiträume nicht erkennbar ist. Der Senat geht aber davon aus, dass bei unveränderter Sachlage
eine Weitergewährung der Leistungen auch über den 31. August 2007 hinaus erfolgen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).