Rechtsanwaltsgebühren für ein isoliertes Vorverfahren
Begriff "dieselbe Angelegenheit"
Gebührenrechtlicher Begriff
Pauschgebühr
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von der beklagten Krankenkasse zu erstattenden Rechtsanwaltsgebühren für ein isoliertes
Vorverfahren.
Der querschnittgelähmte und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kläger litt unter einem Dekubitus im Bereich des
Gesäßes.
Die Gemeinschaftspraxis Dr. C./D. verordnete am 2. August 2013 im Wege der häuslichen Krankenpflege eine Dekubitusbehandlung
in Form täglicher Wundversorgung für den Zeitraum vom 3. August bis 17. August 2013. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom
13. August 2013 die häusliche Krankenpflege mangels Plausibilität der Behandlungsfrequenz ab. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch
mit anwaltlichem Schreiben vom 6. September 2013.
Die behandelnden Ärzte verordneten am 16. August 2013 erneut im Wege der häuslichen Krankenpflege für den Zeitraum vom 18.
August bis 10. Oktober 2013 eine Dekubitusbehandlung in Form täglicher Wundversorgung. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom
27. August 2013 die Kostenübernahme auch dieser beantragten Dekubitusbehandlung ab. Auch hiergegen erhob der Kläger - mit
inhaltlich gleichem anwaltlichem Schriftsatz wie vom 6. September 2013 - am 9. September 2013 Widerspruch.
Mit Schreiben vom 11. September 2013 teilte die Beklagte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit, dass die Widersprüche
gegen die Entscheidungen vom 13. August und vom 28. August 2013 "in direktem Zusammenhang bearbeitet" würden.
Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 20. Januar 2014 die Dekubitusbehandlung für die streitigen Zeiträume 3. August bis
17. August 2013 und 18. August bis 10. Oktober 2013. In einem Schreiben an den Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 20.
Januar 2013 ergänzte die Beklagte hierzu:
"Unseren Bescheid vom 9. September 2013 heben wir auf; den Bescheid vom 27. August 2013 ändern wir insoweit und betrachten
die Widerspruchsverfahren damit als erledigt."
Der Kläger machte mit zwei getrennten Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 13. Februar 2014 Rechtsanwaltsgebühren
in Höhe von jeweils 380,80 € für jeden Widerspruch geltend.
Die beiden Gebührenrechnungen gliederten sich im Einzelnen wie folgt auf:
Geschäftsgebühr § 14, Nr. 2302 Satz 1 VV RVG
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300,00 €
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Pauschale (Post/Telekommunikation) Nr. 7002 VV RVG
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20,00 €
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Zwischensumme netto
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320,00 €
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Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG
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60,80 €
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Gesamtbetrag
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380,80 €
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Mit Bescheid vom 27. Februar 2014 setzte die Beklagte die Rechtsanwaltsgebühren gemäß § 63 Abs. 3 SGB X auf insgesamt 380,80 € fest. Zur Begründung führte sie aus, die Widersprüche richteten sich gegen Leistungsablehnungen für
die Verordnungen vom 2. August und vom 16. August 2013. Die Widerspruchsbegründungen seien inhaltlich und sogar textlich nahezu
identisch und argumentativ vollständig deckungsgleich, so dass die Argumentation als eine Einheit zu werten sei. Daher könne
in dem Verfahren die Gebühr nur für eine Angelegenheit geltend gemacht werden.
Hiergegen erhob der Kläger am 28. März 2014 Widerspruch und machte geltend, es handele sich bei den Widersprüchen vom 6. September
2013 und vom 9. September 2013 nicht um "dieselbe Angelegenheit". Es lägen zwei selbstständige Entscheidungen der Beklagten
vor, gegen die jeweils Widerspruch zulässig gewesen sei. Wäre nicht gegen beide Bescheide Widerspruch erhoben worden, wäre
jeweils ein Bescheid unabhängig vom anderen bestandskräftig geworden. Es handele sich daher um völlig eigenständige Angelegenheiten.
Auch der Gegenstand der Anträge sei nicht derselbe gewesen. Mit beiden Anträgen seien zwar Leistungen der häuslichen Krankenpflege
beantragt worden, jedoch hätten sie jeweils verschiedene Leistungszeiträume betroffen. Es handele sich nicht um einen wiederholenden
Antrag derselben Leistung. Jeder der Bescheide habe daher auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werden müssen. Die Voraussetzungen
einer Genehmigung hätten bei einem Antrag vorliegen können, bei dem anderen jedoch nicht (mehr) vorliegen können.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2014 zurück. Zur Begründung führte die
Beklagte u. a. aus, es sei nur eine Geschäftsgebühr zu zahlen, da es sich bei den zwei Widersprüchen um "dieselbe Angelegenheit"
gehandelt habe. Nach der Rechtsprechung sei unter "Angelegenheit" im gebührenrechtlichen Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) das gesamte Geschäft zu verstehen, das der Rechtsanwalt für den Auftraggeber besorgen solle. Der Inhalt des Auftrages bestimme
den Rahmen, innerhalb dessen der Rechtsanwalt tätig werde. Für die Frage, wann von einer einzigen Angelegenheit auszugehen
sei oder wann mehrere Angelegenheiten vorliegen würden, sei insbesondere der Inhalt des dem Anwalt erteilten Auftrages maßgebend.
In der Regel würden die weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen ein und dieselbe Angelegenheit betreffen, wenn zwischen
ihnen ein innerer Zusammenhang bestehe und sie sowohl inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen
würden, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Mühewaltung gesprochen werden könne. Bei verschiedenen Verordnungszeiträumen
handele es sich um einen einheitlichen Auftrag, da die verschiedenen Verordnungszeiträume gemeinsam mit der Mandantschaft
erörtert werden könnten. Aus Sicht der Mandantschaft sei es aus Kostengesichtspunkten geradezu widersinnig, für jeden einzelnen
Verordnungszeitraum einen neuen Auftrag zu erteilen. Dies wäre auch nicht erforderlich gewesen, da sich in Bezug auf den medizinischen
Sachverhalt und die Widerspruchsbegründung keine Änderungen ergeben hätten. Es handele sich jeweils um den gleichen Lebenssachverhalt,
so dass eindeutig von einem inneren Zusammenhang und einem einheitlichen Auftrag auszugehen sei.
Der Kläger hat mit der am 16. Juni 2014 beim Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage die Zahlung von Rechtsanwaltskosten
in Höhe von 380,80 € geltend gemacht. Zur Klagegründung hat er seinen bisherigen Vortrag im Wesentlichen wiederholt und ergänzend
darauf verwiesen, dass es am inneren Zusammenhang zwischen den ablehnenden Verwaltungsakten fehle, da jeweils über eine neue
Sachleistung zu entscheiden gewesen wäre. Die Beklagte hat auf ihre Ausführungen im Bescheid und Widerspruchsbescheid verwiesen
und ergänzend Beschlüsse und Urteile der Sozialgerichte Frankfurt am Main, Kassel und Darmstadt vorgelegt; diese Entscheidungen
stützten ihre Auffassung.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 20. Januar 2016 den Bescheid vom 27. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 20. Mai 2014 aufgehoben und die Beklagte - unter Klageabweisung im Übrigen - verurteilt, an den Kläger 229,08 € zu zahlen.
In den Entscheidungsgründen hat das Sozialgericht Gießen ausgeführt: Bei Rahmengebühren bestimme der Rechtsanwalt die Gebühr
im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit,
der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen (§
14 Abs. 1 Satz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz <RVG>). Die Gebühren vergüteten die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit.
Der Rechtsanwalt könne die Gebühren in derselben Angelegenheit jedoch nur einmal fordern (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 RVG). Das Gesetz definiere in § 15 Abs. 2 RVG nicht, was unter derselben Angelegenheit zu verstehen ist. Es handele sich hierbei um einen gebührenrechtlichen Begriff,
der sich mit dem prozessrechtlichen Begriff des (Verfahrens-)Gegenstandes decken könne, aber nicht müsse. Daher komme es zur
Bestimmung, ob dieselbe Angelegenheit vorliege, auf die Umstände des konkreten Einzelfalls und folglich auf den Inhalt des
erteilten Auftrages an. Von derselben Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG sei in der Regel dann auszugehen, wenn zwischen den weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen, also den verschiedenen
Gegenständen, ein innerer Zusammenhang gegeben sei, also ein einheitlicher Auftrag und ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen
Tätigkeit vorliege (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. April 2014, Az. B 4 AS 27/13 R). Bei den Widersprüchen gegen die Ablehnung der häuslichen Krankenpflege handele es sich um zwei unterschiedliche Angelegenheiten,
da sie nicht von einem einheitlichen Auftrag umfasst worden seien und auch kein innerer Zusammenhang bestehe. Die Dekubitusbehandlung
sei durch zwei verschiedene Verordnungen angeordnet worden. Die Verordnungen beträfen verschiedene Zeiträume, so dass die
ablehnenden Bescheide nicht von einem einheitlichen Auftrag umfasst worden seien, denn der Kläger hätte auch nur gegen eine
Ablehnung Widerspruch erheben können und bei Erhebung des ersten Widerspruchs sei noch offen gewesen, ob ggf. eine erneute
Verordnung durch die Beklagte genehmigt würde. Es habe auch kein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Verordnungen
bestanden, denn bei jeder neuen Verordnung müsse die medizinische Notwendigkeit gesondert geprüft werden. Die Notwendigkeit
der Maßnahme sei aber vom Gesundheitszustand, also vom Vorliegen des behandlungsbedürftigen Dekubitus abhängig. Eine Entscheidung
über die Genehmigung der Verordnung könne daher ohne weiteres unterschiedlich ausfallen. Der Kläger habe folglich einen Anspruch
auf die Erstattung seiner Rechtsanwaltskosten für das zweite Widerspruchsverfahren.
Für dieses weitere Widerspruchsverfahren sei jedoch kein Betrag von 380,80 € zu erstatten. Der Umfang und die Schwierigkeit
der anwaltlichen Tätigkeit seien im zweiten Widerspruchsverfahren geringer gewesen. Die Widerspruchsbegründungen seien vorliegend
identisch. Die Bearbeitung eines weiteren Verfahrens mit gleichgelagerter Problematik führe zu einer erheblichen Arbeitserleichterung,
da wie hier die Schriftsätze identisch sein könnten und auch längere Besprechungen mit dem Auftraggeber entfielen. Im zweiten
Widerspruchsverfahren trete ein Synergieeffekt ein. Dieser Synergieeffekt sei bei der Höhe der Gebühr zu berücksichtigen.
Die weitere Angelegenheit sei nicht mehr so umfangreich, da bereits der Sachverhalt erarbeitet worden und auch die rechtliche
Bewertung bereits im anderen Verfahren erfolgt sei. Die Tätigkeit im zweiten Widerspruchsverfahren sei daher wesentlich geringer.
Gemäß Ziffer 2302 Anlage 1 zum RVG-Vergütungsverzeichnis in der ab 1. August 2013 geltenden Fassung betrage die Geschäftsgebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten,
in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstünden (§ 3 RVG), 50,00 € bis 640,00 €. Aufgrund des Synergieeffektes sei nach Ansicht der Kammer die Hälfte der sog. Mittelgebühr (345,-
€) in Höhe von 172,50 € als angemessene Gebühr gerechtfertigt. Der Kläger habe folglich einen Anspruch auf Zahlung der Rechtsanwaltskosten
in Höhe von 229,08 €.
Die Berechnung ergebe sich wie folgt:
Hälfte der Mittelgebühr der Geschäftsgebühr Ziffer 2302 VV RVG
|
172,50 €
|
Auslagenpauschale Ziffer 7002 VV RVG
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20,00 €
|
Mehrwertsteuer
|
36,58 €
|
Insgesamt
|
229,08 €
|
Das Sozialgericht hat die Berufung in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 23. März 2016 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Gießen am 11. April 2016 Berufung zum
Hessischen Landessozialgericht erhoben.
Zur Berufungsbegründung trägt die Beklagte vor: Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts spreche das zitierte Urteil des
Bundessozialgerichts vom 2. April 2014 (B 4 AS 27/13 R) für die Annahme "derselben Angelegenheit" im Sinne des RVG. In dem Urteil des Bundessozialgerichts sei selbst dann dieselbe Angelegenheit im Sinne des RVG gesehen worden, wenn mehrere Auftraggeber mit gesonderten Vollmachten selbstständig Widersprüche erhoben hätten und getrennte
Bescheide ergangen seien. Die höchstrichterliche Rechtsprechung habe für diese Konstellation entschieden, dass zwischen den
weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen ein innerer Zusammenhang gegeben sei, also ein einheitlicher Auftrag und
ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit vorliege. Für ein Tätigwerden "in derselben Angelegenheit" könne es im
gerichtlichen Verfahren regelmäßig schon genügen, dass die Begehren mehrerer Auftraggeber einheitlich in demselben Verfahren
geltend gemacht würden und zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang bestehe. Das Bundessozialgericht führe weiter aus, dass
sogar grundsätzlich mehrere Aufträge von verschiedenen Auftraggebern "dieselbe Angelegenheit" sein könnten. Im vorliegenden
Fall würden nur ein Auftraggeber und nur ein Streitgegenstand existieren. Zwar seien getrennte Bescheide erlassen worden,
gegen die selbstständig Widersprüche eingelegt worden seien. Jedoch beruhten die Widerspruchsverfahren auf einem vollständig
einheitlichen Lebenssachverhalt, nämlich die Ablehnung von häuslicher Krankenpflege in Form der Dekubitusversorgung. Es bestehe
daher eindeutig ein innerer Zusammenhang; es lägen ein einheitlicher Auftrag und ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen
Tätigkeit vor.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Januar 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie
die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Januar 2016 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 27.
Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014 zu verurteilen, an den Kläger weitere 151,72 € zu zahlen.
Der Kläger hat am 20. Juni 2016 gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen Anschlussberufung eingelegt.
Im Rahmen der Berufungserwiderung verweist der Kläger auf seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus: Die Voraussetzungen
des § 16 RVG für "eine Angelegenheit" lägen nicht vor. Es fehle schon ein einheitlicher Auftrag. Insbesondere habe zwischen ihm und seinem
Prozessbevollmächtigten keine Einigkeit darüber bestanden, dass die Aufträge gemeinsam behandelt werden sollten. Auch spielte
sich die Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten nicht "im gleichen Rahmen" ab. Die verschiedenen Ansprüche seien weder in einem
Schriftsatz behandelt worden, noch habe eine Verpflichtung der Beklagten bestanden, die Widerspruchsverfahren verfahrensrechtlich
zusammenzufassen. Entsprechend wäre es auch zu zwei getrennten Klageverfahren gekommen, wenn die Beklagte den Widerspruchsverfahren
nicht abgeholfen hätte. Beide Bescheide seien getrennt voneinander auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft worden, so dass Einleitung,
Verlauf und Ausgang der Widerspruchsverfahren völlig unterschiedlich hätten verlaufen können. Schließlich habe der behandelnde
Arzt auch zwei getrennte Verordnungen ausgestellt, denn ggf. hätte sich die medizinische Notwendigkeit ändern können. Schließlich
bestehe auch kein innerer Zusammenhang, denn wären zwei separate Widerspruchsbescheide erlassen worden, dann hätte er zwei
getrennte Klagen erhoben. So wie mehrere gerichtliche Verfahren immer getrennte gebührenrechtliche Angelegenheiten seien,
müsse dies auch bei Widerspruchsverfahren bejaht werden. Zudem sei kein einheitlicher Lebensvorgang anzunehmen, denn die Bescheide
beruhten auf unterschiedlichen Verordnungen für unterschiedliche Zeiträume. In der Entscheidung vom 21. November 2002 (B 3 KR 13/02 R) lehne das Bundessozialgericht die Anwendung des §
96 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf Folgebescheide im Bereich der häuslichen Krankenpflege ab. Dies bedeute, dass über jeden Verordnungszeitraum gesondert
zu entscheiden sei. Bestätigt werde dies durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17. März 2015 (B 3 KR 35/04 R). Die zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 2. April 2014 (B 4 AS 27/13 R) sei zum SGB II und dort zum Vorliegen "derselben Angelegenheit" im konkreten Einzelfall ergangen. Außerdem verkenne die Beklagte, dass allein
das Vorliegen eines inneren Zusammenhangs noch nicht die Annahme "derselben Angelegenheit" begründe.
Zur Begründung der Anschlussberufung trägt der Kläger vor: Die von seinen Prozessbevollmächtigten bestimmte Geschäftsgebühr
in Höhe der Schwellengebühr (Geschäftsgebühr 50,- € bis 640,- €; Schwellengebühr: 300,- €) sei keinesfalls unbillig. Der Umfang
der anwaltlichen Tätigkeit sei in dem hier noch streitigen Widerspruchsverfahren als zumindest durchschnittlich einzustufen.
Unter Umständen könne sogar eine überdurchschnittliche Schwierigkeit anzunehmen sein, denn bei der Bewilligung von häuslicher
Krankenpflege handele es sich um eine Spezialmaterie. Beim zweiten Widerspruchsverfahren habe der gleiche Schwierigkeitsgrad
wie beim ersten Widerspruchsverfahren zugrunde gelegen. Auch die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger sei als überdurchschnittlich
einzustufen, wenn man bedenke, dass es bei der Dekubitusbehandlung um die Abwehr konkreter Gesundheitsschädigungen gegangen
sei. Insbesondere habe die Gefahr bestanden, dass sich der Kläger stationär hätte behandeln lassen müssen. Aber selbst wenn
man den Umfang der anwaltlichen Tätigkeit wegen der Berücksichtigung von Synergieeffekten als unterdurchschnittlich einstufe,
sei die Geschäftsgebühr nach den Regeln der sogenannten Kompensationstheorie allein wegen der überdurchschnittlichen Bedeutung
der Angelegenheit für den Kläger sowie angesichts der überdurchschnittlichen Schwierigkeit insgesamt in Höhe der Schwellengebühr
anzusetzen. Weiter sei zu berücksichtigen, dass einem Rechtsanwalt bisher von der Rechtsprechung bei der Bestimmung des Gebührenansatzes
ein Ermessen in Höhe von 20 % zugestanden worden sei. Da sich das Sozialgericht hiermit nicht auseinandergesetzt habe, werde
angeregt ein entsprechendes Gebührengutachten der Rechtsanwaltskammer einzuholen. Ergänzend legt der Kläger verschiedene sozialgerichtliche
Entscheidungen zu den Fragen "dieselbe Angelegenheit" und Gebührenhöhe vor.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten
und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Gründe
Die gemäß §
143 SGG statthafte und gemäß §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig; das Sozialgericht hat die Berufung
in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 20. Januar 2016 ausdrücklich zugelassen (vgl. Leitherer in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG-Kommentar 11. Auflage, §
144 Rn. 39).
Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig. Für die Zulässigkeit der Anschlussberufung gelten im sozialgerichtlichen Verfahren
gemäß §
202 Satz 1
SGG die Regelungen in § 524 Abs. 1, Abs.
2 Satz 1 und Abs.
4, 1. und 2. Var.
Zivilprozessordnung (
ZPO). Für die Anschlussberufung gilt die Berufungsfrist des §
151 Abs.
1 und
2 SGG nicht (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 - B 6 KA 6/09 R - juris, Rn. 18). Die Anschlussberufung muss den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung des Berufungsklägers
betreffen (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 - B 6 KA 6/09 R - juris, Rn. 18 m.w.N.; Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Januar 2011 - L 8 AL 474/07 - juris, Rn. 52). Dies ist hier der Fall. Denn während sich die Beklagte gegen die mit Urteil des Sozialgerichts zugesprochene
Zahlung von Rechtsanwaltsgebühren wendet, begehrt der Kläger die Zahlung weiterer Rechtsanwaltsgebühren über den erstinstanzlich
zugesprochenen Umfang hinaus
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Das Sozialgericht Gießen hat der Klage mit Urteil vom 20. Januar 2016 zu Recht teilweise stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten
27. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2014 ist teilweise rechtwidrig und verletzt den Kläger
in seinen Rechten. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
notwendigen Aufwendungen im Zusammenhang mit der Erhebung des Widerspruchs vom 9. September 2013 gegen den ablehnenden Bescheid
der Beklagten vom 27. August 2013, denn hierbei handelt es sich nicht um eine weitere Angelegenheit im Sinne des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
Der Anspruch des Klägers auf Erstattung weiterer Aufwendungen beruht dem Grunde nach auf § 63 SGB X. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X erstattet der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben
hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen. Der Beklagte hat insofern
mit dem angefochtenen Bescheid bindend entschieden, dass die Kosten des ersten Vorverfahrens ohne eine Quotelung dem Grunde
nach zu erstatten sind (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und 3 Satz 1 SGB X) und auch anerkannt, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts notwendig war.
Rechtsgrundlage der Festsetzung von Aufwendungen für das zweite Widerspruchsverfahren sind nach § 63 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB X regelmäßig die Gebühren und Auslagen, die ein Rechtsanwalt seinem Mandanten, hier dem Kläger, in Rechnung stellt (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R). Der i.S. des § 63 Abs. 3 Satz 1 SGB X erstattungsfähige Betrag bemisst sich nach dem RVG (§ 1 Abs. 1 Satz 1 RVG), wobei sich dessen konkrete Höhe nach dem Vergütungsverzeichnis der Anlage 1 (VV RVG) zum RVG (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG) bestimmt.
Nach § 15 Abs. 1 RVG entgelten die Gebühren die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit. Ein Rechtsanwalt
kann die Gebühren nach § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG "in derselben Angelegenheit" jedoch grundsätzlich nur einmal fordern. Wann dieselbe Angelegenheit im gebührenrechtlichen
Sinne vorliegt, ist im RVG nicht abschließend geregelt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2007 - B 6 KA 4/07 R). Die anwaltlichen Tätigkeitskataloge des § 16 RVG ("dieselbe Angelegenheit") und des § 17 RVG ("verschiedene Angelegenheiten") benennen nur Regelbeispiele. § 16 RVG bestimmt als "dieselbe Angelegenheit" z.B. in Nr. 1 das Verwaltungsverfahren auf Aussetzung oder Anordnung der sofortigen
Vollziehung sowie über einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte Dritter und jedes Verwaltungsverfahren auf Abänderung
oder Aufhebung in den genannten Fällen, in Nr. 2 das Verfahren über die Prozesskostenhilfe und das Verfahren, für das die
Prozesskostenhilfe beantragt worden ist oder in Nr. 13 das Rechtsmittelverfahren und das Verfahren über die Zulassung des
Rechtsmittels. Zu § 16 RVG soll § 17 RVG ("Verschiedene Angelegenheiten") das Gegenstück bilden. Hier werden Fälle abschließend aufgeführt, bei denen es ohne diese
Vorschrift zumindest zweifelhaft wäre, ob sie verschiedene Angelegenheiten darstellen (vgl. BT-Drs. 15/1971 S. 191 [Zu § 17]),
wie z.B. in Nr. 1a jeweils das Verwaltungsverfahren, das einem gerichtlichen Verfahren vorausgehende und der Nachprüfung des
Verwaltungsakts dienende weitere Verwaltungsverfahren (Vorverfahren, Einspruchsverfahren, Beschwerdeverfahren, Abhilfeverfahren).
An "dieselbe Angelegenheit" knüpft der Gesetzgeber auch in § 7 Abs. 1 RVG an, wonach der Rechtsanwalt, wenn er in derselben Angelegenheit für mehrere Auftraggeber tätig wird, die Gebühren nur einmal
erhält. Die Auftraggebermehrheit in derselben Angelegenheit hat gemäß Nummer 1008 VV RVG eine Erhöhung der Verfahrens- oder Geschäftsgebühr für jede weitere Person zur Folge.
Trotz der wiederholten Erwähnungen werden weder der Begriff "Angelegenheit" noch der Begriff "dieselbe Angelegenheit" im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz definiert. Die abschließende Klärung hat der Gesetzgeber der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2007 - B 6 KA 4/07 R). Bei der Auslegung ist zu beachten, dass es sich bei "derselben Angelegenheit" um einen gebührenrechtlichen Begriff handelt,
der sich mit dem prozessrechtlichen Begriff des (Verfahrens-)Gegenstandes decken kann, aber nicht decken muss (vgl. Hartmann,
Kostengesetze Kommentar, 2017, § 15 RVG Rdnr. 12 m. w. N.; BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 - VI ZR 73/10 - NJW 2011, 3167 ff. juris, Rdnr. 10). Der Begriff "Angelegenheit" dient gebührenrechtlich zur Abgrenzung desjenigen anwaltlich zusammengehörenden
Tätigkeitsbereiches, der mit einer Pauschgebühr abgegolten werden soll (vgl. Hartmann, a. a. O. m. w. N.). Während also die
Angelegenheit den für den Einzelfall definierten Rahmen der konkreten Interessenvertretung bezeichnet, umschreibt der Begriff
des Gegenstandes inhaltlich die Rechtsposition, für deren Wahrnehmung die Angelegenheit den äußeren Rahmen abgibt (Schnapp/Volpert
in: Schneider/Wolff, AnwK RVG, 6. Aufl. 2012, RdNr. 21 f).
Die Frage, ob von einer oder von mehreren Angelegenheiten auszugehen ist, lässt sich daher nicht allgemein, sondern nur im
Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände beantworten, wobei insbesondere der Inhalt des erteilten Auftrages
maßgebend ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2011, a. a. O., Rdnr. 9 m. w. N.). "Dieselbe Angelegenheit" im Sinne von § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG ist in der Regel gegeben, wenn ein einheitlicher Auftrag, ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit und ein innerer
Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gegenständen vorliegt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2011, a. a. O., Rdnr. 10 m. w.
N.)
Nach Auffassung des Senats handelt es sich bei dem am 6. September 2013 erhobenen Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid
vom 13. August 2013 und bei dem Widerspruch vom 9. September 2013 gegen den ablehnenden Bescheid vom 27. August 2013 nicht
um "dieselbe Angelegenheit" im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG, so dass der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen
im Zusammenhang mit der Erhebung des Widerspruchs vom 9. September 2013 gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 27.
August 2013 hat.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß §
153 Abs.
2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils; sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden
Aspekte vollständig.
Ergänzend ist anzumerken:
Nach Auffassung des Senats ist bei der Prüfung, ob es sich bei den Widersprüchen gegen Folgebescheide im Bereich der häuslichen
Krankenpflege um "dieselbe Angelegenheit" handelt, die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu §
96 SGG zur Thematik "häusliche Krankenpflege" durchaus heranzuziehen. Das Bundessozialgericht führt in seiner Entscheidung vom 21.
November 2002 (B 3 KR 13/02 R, bestätigt durch Urteil vom 17. März 2005 - B 3 KR 35/04 R) aus:
".... Es ist vielfach und auch hier im Bereich der häuslichen Krankenpflege, die von mannigfachen Voraussetzungen abhängt,
nicht von vornherein erkennbar, ob es um in allen wesentlichen Punkten gleich gelagerte Sachverhalte geht und sich ausschließlich
dieselbe Rechtsfrage stellt. Dies wäre aber unabdingbare Voraussetzung, damit die den Verwaltungsakt erlassende Behörde schon
bei der Erstellung des Bescheides entscheiden kann, ob sie bei laufendem Klageverfahren gegen einen gleichartigen früheren
Bescheid erneut eine Rechtsbehelfsbelehrung nach § 36 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über die Möglichkeit des Widerspruchs zu erteilen oder nunmehr einen Hinweis auf §
96 SGG über die Einbeziehung des Verwaltungsakts in das laufende Klageverfahren zu geben hat. Auch der Adressat des Bescheides und
das Gericht müssten im Falle eines Hinweises nach §
96 SGG sofort bei Kenntnisnahme entscheiden können, ob entgegen diesem Hinweis ein Widerspruchsverfahren durchzuführen bzw. der
Hinweis auf die Einbeziehung in das Klageverfahren zu Recht erfolgt ist. Um dieser Unsicherheit vorzubeugen, ist eine entsprechende
Anwendung des §
96 Abs.
1 SGG auf Folgebescheide für spätere Zeiträume auch im hier betroffenen Bereich der (quartalsweise verordneten) häuslichen Krankenpflege
(§
37 SGB V) generell abzulehnen."
Im Urteil vom 17. März 2005 (B 3 KR 35/04 R) heißt es ergänzend:
"Dies gilt umso mehr, als es sich bei häuslicher Krankenpflege um Leistungen handelt, die in tatsächlicher Hinsicht im Verlaufe
der Zeit erheblichen Änderungen unterliegen können. Die Leistungen werden deshalb auch nicht wie eine Rente im Regelfall auf
Dauer bewilligt, sondern nur von Quartal zu Quartal, damit die Notwendigkeit einer Weitergewährung in kurzen Abständen vom
verordnenden Arzt und von der bewilligenden Krankenkasse überprüft werden kann."
Gerade weil sich die gesundheitliche Situation im Falle häuslicher Krankenpflege nahezu täglich verändern kann, ist bei Ablehnung
einer erneuten Verordnung für einen anderen Zeitraum auch von einer neuen Angelegenheit im Sinne der §§ 15 ff. RVG auszugehen.
Im vorliegenden Fall war bei Einlegung des Widerspruchs am 9. September 2013 gegen den Bescheid vom 27. August 2013 gerade
nicht klar, inwieweit sich der Dekubitus infolge des Heilungsfortschritts und der Behandlung verbessert oder infolge der Nichtbehandlung
(wegen vorausgegangener Leistungsablehnung) verschlechtert hat, so dass die tatsächliche und rechtliche Beurteilung in den
sich anschließenden Widerspruchsverfahren durchaus unterschiedlich ausfallen konnte. Dies spricht aus Sicht des Senats deutlich
gegen einen einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit und gegen einen inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen
Gegenständen.
Hingegen kann nach Auffassung des Senats die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Frage "derselben Angelegenheit" bei
Bedarfsgemeinschaften im Anwendungsbereich des SGB II (z.B. Urteil vom 2. April 2014, B 4 AS 27/13 R) nicht herangezogen werden, denn bei den einzelnen Bescheiden an die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft für den identischen
Bewilligungszeittraum handelt es sich um einen vollständig einheitlichen Lebenssachverhalt.
Die Anschlussberufung des Klägers ist ebenfalls unbegründet.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 20. Januar 2016 die Höhe des Gebührenanspruchs zu Recht auf die Hälfte der Mittelgebühr
zuzüglich der Pauschale für Telekommunikation und Mehrwertsteuer begrenzt, denn die Geltendmachung einer Geschäftsgebühr in
Höhe der Schwellengebühr ist unbillig.
In sozialrechtlichen Angelegenheiten außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens, für die wie hier - bei Durchführung eines gerichtlichen
Verfahrens das GKG nicht anzuwenden wäre, entstehen danach Betragsrahmengebühren (§ 3 Abs. 2 RVG), die sich nach dem VV der Anlage 1 zum RVG bestimmen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG). Sie umfassen nach Nr. 2302 VV RVG (idF des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts <2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz - 2. KostRMoG> vom 23.7.2013,
BGBl I 2586) eine Geschäftsgebühr u.a. für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Diese Geschäftsgebühr
bestimmt sich in der hier geltenden Fassung innerhalb eines Betragsrahmens von 50,- € bis 640,- €, wobei eine Gebühr von mehr
als 300 € (sogenannte Schwellengebühr) nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Die Mittelgebühr
beträgt demgemäß 345,- € (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. März 2016, L 19 AS 374/16 B).
Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen
Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem
Ermessen (§ 14 Abs. 1 Satz 1 RVG) und unter Berücksichtigung auch des Haftungsrisikos (§ 14 Abs. 1 Satz 3 RVG). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich,
wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass über die Bestimmung dessen, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten
hat, leicht Streit entstehen kann. Solchen Streit will der Gesetzgeber möglichst vermeiden, indem er dem Rechtsanwalt ein
Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt hat, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist. Die Literatur und ihr folgend die Rechtsprechung gesteht dem Rechtsanwalt darüber hinaus
einen Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze) zu, der von dem Dritten wie auch von den Gerichten zu beachten ist (BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B4 AS 21/09 R).
Das Sozialgericht hat unter Berücksichtigung dieser Grundsätze zutreffend beanstandet, dass die ursprüngliche Kostennote des
Bevollmächtigten des Klägers vom 13. Februar 2013 mit einer Geschäftsgebühr nach Nr. 2302 VV RVG in Höhe der Schwellengebühr von 300 € unbillig ist. Anders, als der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit dem Gebührenansatz
zugrunde gelegt, entspricht die mit ihm abgerechnete anwaltliche Tätigkeit - von der Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger
abgesehen - nach keinem der übrigen in § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG angeführten Gesichtspunkte derart einem durchschnittlichen sozialrechtlichen "Normal"-Widerspruchsverfahren, dass sie die
Erhebung einer Geschäftsgebühr von 300 € rechtfertigen könnte.
Vielmehr waren insbesondere der Umfang der abgerechneten anwaltlichen Tätigkeit, also der benötigte Zeitaufwand unterdurchschnittlich
und die Schwierigkeit, also die Intensität der Arbeit, ebenfalls allenfalls unterdurchschnittlich.
Das Widerspruchsvorbringen vom 9. September 2013 erschöpfte sich vollständig im Wiederholen des Vortrags aus dem vorangegangenen
Widerspruchsverfahren. Die Widerspruchsbegründung ist wortgleich, lediglich die Betreffzeile ist aktualisiert. Zur Begründung
des zweiten Widerspruchs bedurfte es konkret auch keiner weiteren Gespräche mit dem Mandanten. Dass dies ein aufwändiges Aktenstudium
oder die Anforderung weiterer Unterlagen oder die Prüfung schwieriger Rechtsfragen erfordert hätte, ist nicht zu erkennen.
Nach Auffassung des Senats handelt es sich bei der Ablehnung von häuslicher Krankenpflege durch eine Krankenkasse auch nicht
um eine besonders schwierige Angelegenheit mit Fragen auf entlegenem Spezialgebiet, die noch wenig geklärt wären. Der Sachverhalt
ist bekannt und unstreitig; die Gesetzessystematik des §
37 SGB V ist unkompliziert und die Streitfrage beschränkte sich auf die medizinische Notwendigkeit der verordneten Behandlungsfrequenz.
Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers liegen nicht vor und können daher nicht berücksichtigt werden.
Ein besonderes Haftungsrisiko des Prozessbevollmächtigten ist nicht erkennbar.
Allenfalls die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger kann aus Sicht des Senats als durchschnittlich betrachtet werden.
Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass es im Falle der häuslichen Krankenpflege grundsätzlich um medizinisch notwendige
Pflegemaßnahmen geht, die in der Regel keinen zeitlichen Aufschub dulden und die bei Nichtgewährung zu einer Verschlechterung
der Leiden führen.
Unter Abwägung aller Kriterien des § 14 RVG, die überwiegend als unterdurchschnittlich zu bewerten sind, kommt dem zweiten Widerspruchsverfahren insgesamt eine unterdurchschnittliche
Bedeutung zu, so dass der Ansatz einer Geschäftsgebühr in Höhe einer halben Mittelgebühr (172,50 €) als gerechtfertigt erscheint.
Hinzu kommen die Auslagenpauschale für Post und Telekommunikation nach Nr. 7002 VV RVG und die Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG, woraus sich der vom Sozialgericht errechnete Vergütungsanspruch für das zweite Widerspruchsverfahren in Höhe von 229,08
€ ergibt.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist die als Geschäftsgebühr geltend gemachte Schwellengebühr auch nicht durch eine dem
Rechtsanwalt im Rahmen seines Ermessens zustehende Toleranzgrenze gedeckt.
Im Urteil des BSG vom 1. Juli 2009 - B4 AS 21 / 09 R heißt es unter Rn. 19 zur Toleranzgrenze:
"Die Literatur und ihr folgend die Rechtsprechung gesteht dem Rechtsanwalt darüber hinaus einen Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze)
zu, der von dem Dritten wie auch von den Gerichten zu beachten ist (...). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist
die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Absatz 1 S. 4 RVG)."
Den Ausführungen des Bundessozialgerichts entnimmt der Senat, dass die Überschreitung der Toleranzgrenze allein bereits die
Unbilligkeit begründet. Dies ist hier der Fall: Die als angemessen erscheinende Geschäftsgebühr in Höhe von 172,50 € liegt
auch zuzüglich einer 20%igen Toleranz mit 207,- € noch deutlich unter der beanspruchten Schwellengebühr in Höhe von 300,-
€. Damit hat der Prozessbevollmächtigte die Toleranzgrenze bei weitem überschritten; der Ansatz der Geschäftsgebühr in Höhe
von 300,- € ist unbillig.
Der Senat ist im Übrigen nicht gemäß § 14 Abs. 2 RVG gehalten, ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer einzuholen. Denn eine solche Verpflichtung besteht nur in
den Fällen, in denen die Gebühr zwischen Rechtsanwalt und Mandanten streitig ist, es sich also um einen echten Honorarstreit
handelt (Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19.10.2004 - VII B 1/04 - zu § 12 Abs. 2 BRAGO, Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.08.2005 - 6 C 13/04 - zu § 12 Abs. 2 BRAGO; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2007 - L 1 AL 54/06 - und Urteil vom 14.11.2007 - L 10 KA 24/07 -).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt das jeweilige Unterliegen in Berufung und Anschlussberufung.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.