Kostenübernahme für eine minimalinvasive adipositas-chirurgische Maßnahme in Form eines Magenbypasses
Eingriffe in ein an sich gesundes Organ
Gravierende Adipositas
BMI von mindestens 40 kg/qm
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger gegenüber der Beklagten Anspruch auf Kostenübernahme einer minimalinvasiven
adipositas-chirurgischen Maßnahme in Form eines Magenbypasses hat.
Der 1956 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert und leidet seit seiner Kindheit an Übergewicht. Am 3. Juli
2012 beantragte er bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine operative Behandlung des Übergewichts, zuletzt in Form eines
Magenbypasses. Dr. F. vom Agaplesion Hochstift bescheinigte dem Kläger unter dem 20. Juni 2012 einen Bodymaßindex (BMI) von
53 kg/qm. Zudem leide der Kläger an Diabetes mellitus, Dyspnoe, Gelenkbeschwerden beim Laufen und zunehmend Rückenbeschwerden.
Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft. Eine bleibende Gewichtsreduktion sei nur mit der Operation
möglich. Das Operationsrisiko halte er für abschätzbar. Eine regelmäßige Nachbetreuung könne durch ihn durchgeführt werden.
Der Kläger legte auf Anforderung der Beklagten dar, welche Maßnahmen er bereits zur Gewichtsreduktion durchgeführt habe.
Nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Hessen (MDK) lehnte die Beklagte mit Bescheid
vom 25. Mai 2013 die Kostenübernahme mit der Begründung ab, dass das geforderte konservative Behandlungsregime noch nicht
erfüllt sei. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und verwies auf die sogenannte S3-Leitlinie "Chirurgie der Adipositas"
und legte weitere Befundberichte vor. Prof. Dr. G. (Krankenhaus Sachsenhausen) diagnostizierte unter dem 30. Januar 2013 über
Diabetes mellitus hinaus Hypertonie, Gicht und Kniearthrose. Nach Einholung weiterer MDK-Gutachten wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 28. Januar 2014 den Widerspruch als unbegründet zurück. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien noch nicht erschöpft.
Eine primäre Indikation zur Durchführung einer adipositaschirurgischen Maßnahme liege nicht vor.
Am 25. Februar 2014 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben. Nach der S3-Leitlinie "Chirurgie der Adipositas"
sei in Sonderfällen, in welchem der BMI den Wert von 40 kg/qm deutlich überschreite, auch dann eine Magenverkleinerungsoperation
zu bewilligen, wenn die Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zu einem 6- bis 12-monatigen
multimodalen und ärztlich geleiteten Therapiekonzept entsprächen. Bei ihm liege der BMI über 50 kg/qm. Ferner liege ein adipositas-assoziierter
Diabetes mellitus vom Typ II vor. Konservative Therapien hätten keine Aussicht auf Erfolg. Die Beklagte hat die Auffassung
vertreten, dass nach wie vor die konservativen Maßnahmen zur Behandlung der Adipositas nicht ausgeschöpft worden seien.
Das Sozialgericht hat Befundberichte des Krankenhauses Sachsenhausen, der Diabetologin Dr. H., der Nervenärztin Dr. J., des
Hausarztes Dr. K. sowie des Kreiskrankenhauses Weilburg eingeholt.
Mit Urteil vom 11. Februar 2015 hat das Sozialgericht unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 28. Januar 2014 die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine minimalinvasive adipositas-chirurgische Maßnahme in Form eines
Magenbypasses im zugelassenen Krankenhaus zu gewähren. Der Anspruch sei gemäß §
27 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) begründet. Bei einem BMI von wenigstens 30 kg/qm liege eine behandlungsbedürftige Krankheit vor. Dies gelte erst recht,
wenn infolge der Adipositas sich - wie beim Kläger - bereits Sekundärkrankheiten entwickelt hätten. Maßnahme im Bereich des
gesunden Magens, die unmittelbar auf die Reduktion der Adipositas abzielten, kämen zwar nur als ultima ratio in Betracht.
Dies sei jedoch im Falle des Klägers anzunehmen, da die besonderen Umstände eine Ausnahmesituation rechtfertigten. Die Adipositas
habe bereits seit früher Jugend bestanden, er habe immer wieder erfolglos auf Eigeninitiative vielfältige Bemühungen unternommen,
um sein Körpergewicht zu reduzieren. Es sei zu beachten, dass die Erfolgsaussichten einer rein konservativen Therapie mit
dem Ausmaß der Adipositas in einer Wechselwirkung stünden. Dies wirke sich auf das Maß der Anforderungen aus, welche an die
Durchführung einer vorherigen konservativen Therapie zu stellen seien. Liege der Wert des BMI deutlich über 40 kg/qm, sei
eine Magenverkleinerungsoperation auch dann zu bewilligen, wenn die hinreichend glaubhaften und ernsthaften eigeninitiativen
Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zur Gewichtsreduktion entsprächen, das Operationsrisiko
tolerabel sei und keine manifeste psychiatrische Krankheit als Kontraindikation vorliege. Zudem biete das vom Kläger ausgewählte
Krankenhaus die Möglichkeit einer auch längerfristig angelegten Nachsorge. Die Angaben des Klägers zur Entwicklung der Adipositas
in der frühen Kindheit sowie zur den erfolglosen Therapieversuchen und den stationären Rehabilitationsaufenthalten seien glaubhaft.
Zudem habe er nachgewiesen, dass er an einer betrieblich angebotenen Ernährungsberatung teilgenommen habe und ständiger Teilnehmer
einer Selbsthilfegruppe zur Gewichtsreduktion sei. Dennoch habe er sein Gewicht nicht reduzieren können. Die Beklagte habe
dem Kläger ein ärztlich geleitetes multimodales Therapiekonzept nicht angeboten. Ein Bewegungstraining könne aufgrund der
beidseitigen Knie-TEP-Operationen keinen Erfolg haben. Zu einem mehrwöchigen stationären Aufenthalt sei der Kläger aufgrund
seiner familiären Situation (dialysepflichtige und an MS leidende Ehefrau sowie einen minderjährigen Sohn) nicht in der Lage.
Schließlich belege die Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" vom April 2014, dass eine chirurgische Therapie
auch primär, ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden könne, wenn die konservative Therapie ohne Aussicht
auf Erfolg sei oder der Gesundheitszustand des Versicherten keinen Aufschub eines operativen Eingriffs erlaube. Ob bereits
bei einem BMI von über 50 kg/qm immer ein Anspruch auf adipositas-chirurgische Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ohne vorherige
erfolgslose präoperative konservative Therapie bestehe, könne dahinstehen, da bei dem Kläger mehrere, eine Ausnahmesituation
begründende Umstände zusammentreffen würden.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 12. März 2015 zugestellte Urteil am 9. April 2015 vor dem Hessischen Landessozialgericht
Berufung eingelegt und die Aussetzung der Vollstreckung beantragt. Der MDK sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen
für die Leistungsgewährung nicht vorlägen. Insbesondere bestehe keine Ultima-ratio-Situation, wie sie bei einem Eingriff in
ein gesundes Organ nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefordert werde. Das Sozialgericht habe es versäumt, ein Gutachten
einzuholen. Dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. D. und Dr. L. sei nicht zu folgen. Der Kläger habe
keinen BMI von über 50 kg/qm aufgewiesen. Auch lägen keine besonders schweren Begleit- und Folgeerkrankungen vor. Der Diabetes
mellitus könnte medikamentös behandelt werden. Die Kniearthrose sei erfolgreich behandelt worden. Die arterielle Hypertonie
stelle keine besonders schwere Begleit- oder Folgeerkrankung dar. Zudem sei davon auszugehen, dass sich die persönlichen Verhältnisse
des Klägers stabilisiert hätten. Ferner sei keine multimodale Therapie durchgeführt worden. Es sei auch nicht davon auszugehen,
dass konservative Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg hätten. Der Kläger habe bereits einmal 50 kg abgenommen. Soweit die
Sachverständigen behaupteten, dies sei erfolglos gewesen, sei darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine aufgrund persönlicher
Lebensumstände abgebrochene Maßnahme gehandelt habe. Damit seien die in der S3-Leitlinie genannten Voraussetzungen für eine
primäre chirurgische Therapie, die kumulativ erfüllt sein müssten, bei dem Kläger nicht erfüllt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 11. Februar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Mit Beschluss vom 20. Mai 2015 hat der Senat den Aussetzungsantrag abgelehnt. Die Berufung sei nicht offensichtlich begründet.
Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Sozialgericht kein Gutachten eingeholt habe, da es sich auf die qualifizierten Auskünfte
der behandelnden Fachärzte habe stützen können.
Nachdem die Beklagte sich vorläufig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bereit erklärt hat, die Kosten zu übernehmen,
ist am 7. Juli 2015 bei dem Kläger das bariatrisch-chirurgische Verfahren durchgeführt worden.
In dem gemäß §
106 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingeholten internistisch-diabetologischen Fachgutachten vom 29. Februar 2016 nach ambulanter Untersuchung (22. Oktober
2015) haben Prof. Dr. D. und Dr. L. (Medizinische Hochschule Hannover) ausgeführt, dass bei dem Kläger bereits Folgeerkrankungen
im Sinne eines Diabetes mellitus und eines schwer einstellbaren arteriellen Hypertonus vorlägen. Die bestehenden arthrotische
Gelenkveränderungen hätten einen Kniegelenkersatz beidseitig erforderlich gemacht. Es bestünden allenfalls marginale Erfolgsaussichten
eines nicht bariatrischen Therapiekonzepts der bei dem Kläger bestehenden ausgeprägten Adipositas. Daher sei die durchgeführte
bariatrische Chirurgie aus medizinischen Gründen sinnhaft und zweckmäßig, um das Ziel einer deutlichen Gewichtsreduktion auch
langfristig etablieren zu können. Kontraindikationen lägen nicht vor.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung konnte durch die Berichterstatterin und ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser
Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, §§
155 Abs.
3 und
4,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine minimalinvasive
adipositas-chirurgische Maßnahme in Form eines Magenbypasses im zugelassenen Krankenhaus zu gewähren.
Im Zeitpunkt der Durchführung der Operation waren die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf Gewährung derselben
als Sach- oder Dienstleistung gemäß §
27 Abs.
1 Satz 1 und
2 Nr.
5, §
39 Abs.
1 Satz 2
SGB V erfüllt. Die grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung zu erbringende Krankenbehandlung, zu der auch die stationäre Behandlung
in einem Krankenhaus rechnet, setzt das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Krankheit voraus. §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V sieht ferner vor, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Darüber hinaus stehen die Leistungen
unter dem Vorbehalt des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§
2 Abs.
1 Satz 1
SGB V). Daraus folgt, dass Versicherte nur die notwendigen bzw. ausreichenden Leistungen beanspruchen können. Diese müssen zweckmäßig
und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen bzw. Ausreichenden nicht überschreiten (§
12 Abs.
1 SGB V). Daher geht die Rechtsprechung allgemein davon aus, dass Eingriffe in ein an sich gesundes Organ regelmäßig ausgeschlossen
sind. Chirurgische Maßnahmen im Bereich des gesunden Magens, die mittelbar auf eine Reduzierung der Adipositas zielen (Verfahren
der bariatrischen Chirurgie) kommen daher nur als"ultima ratio" und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe weiterer
Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen. Die Rechtsprechung hat hierzu folgende Grundsätze entwickelt: Die Adipositas
muss so gravierend sein, dass ihr Krankheitswert zukommt. Hiervon ist bei einem BMI von mindestens 40 kg/qm stets auszugehen.
Beträgt der BMI "lediglich" 35 kg/qm bis unter 40 kg/qm, kann dies nur bei erheblichen Begleiterkrankungen angenommen werden.
Darüber hinaus wird regelmäßig verlangt, dass die konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Hiervon ist auszugehen,
wenn der Versicherte über einen längeren Zeitraum (sechs bis zwölf Monate) an einem ärztlich überwachten bzw. koordinierten
multimodalen Therapiekonzept, welches unter anderem Diätmaßnahmen, Schulungen, Bewegungs- und Psychotherapie umfasst, erfolglos
teilgenommen hat. Darüber hinaus dürfen keine wesentlichen medizinischen Kontraindikationen gegen die Durchführung dieser
Operation bestehen. So dürfen keine manifesten psychiatrischen Erkrankungen vorliegen und eine lebenslange medizinische Nachbetreuung
des Versicherten muss gewährleistet sein. Schließlich dürfen an der Motivation des Versicherten zur Einhaltung der ärztlichen
Vorgaben für das Ernährungsverhalten nach Magenverkleinerung keine ernsthaften Zweifel bestehen. Wegen der medizinischen Grundlagen
der chirurgischen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion wird hierbei regelmäßig auf die entsprechende interdisziplinäre Leitlinie
Bezug genommen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008, B 1 KR 2/08 R und Beschluss vom 17. Oktober 2006,B 1 KR 104/06 B; Hessisches LSG, Urteile vom 24. Mai 2012, L 8 KR 290/10, 20. Juni 2013, L 8 KR 91/10 und 22. Mai 2014, L 8 KR 7/11, juris; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 1. März 2011, L 11 KR 3560/09).
Aufgrund der besonderen Umstände der Adipositaserkrankung des Klägers ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen zum
Zeitpunkt der streitbefangenen bariatrischen Operation vorgelegen haben. Der Kläger hat zum Zeitpunkt des Eingriffs sowie
bereits seit seiner Kindheit an einer hochgradigen Adipositas gelitten. Der BMI lag in den letzten Jahren vor dem streitigen
Eingriff zwischen 47 kg/qm und 53 kg/qm. So hat Prof. Dr. G. unter dem 30. Januar 2013 einen Wert von 51,3 kg/qm festgestellt.
Dr. M. hat in dem MDK-Gutachten vom 17. Mai 2013 einen BMI-Wert von 51,8 kg/qm angeführt. Die Internistin und Diabetologin
Dr. H. hat unter dem 23. April 2013 einen BMI-Wert von 50,03 kg/qm genannt. Dr. F. vom Agaplesion Hochstift in Worms hat unter
dem 20. Juni 2012 ein BMI von 53 kg/qm beschrieben. Entsprechend ist auch die Beklagte in dem streitigen Widerspruchsbescheid
von einem BMI von ca. 50 kg/qm bis 53 kg/qm ausgegangen. Dem stehen geringfügig niedriger Werte gegenüber. Das Kreiskrankenhaus
Weilburg hat unter dem 12. August 2014 ein Gewicht von 141 kg bei einer Körpergröße von 172 cm angegeben. Dies entspricht
einem BMI von 47,7 kg/qm. Im Reha-Entlassungsbericht der MEDIAN Hohenfeld-Kliniken Bad Camberg vom 1. Oktober 2012 ist ein
BMI von 47 kg/qm ausgewiesen. Die Gerichtsgutachter haben einen präoperativen BMI von 49 kg/qm angeführt. Damit ist davon
auszugehen, dass der BMI regelmäßig im oberen Bereich lag und den Wert von 40 kg/qm sehr deutlich überschritten und in den
letzten Jahren vor der Operation im Durchschnitt eher über 50 kg/qm gelegen hat.
Darüber hinaus leidet der Kläger unter einem Diabetes mellitus Typ II, einer schwer einstellbaren arteriellen Hypertonie sowie
arthrotische Gelenkveränderungen, die einen Kniegelenkersatz beidseits erforderlich gemacht haben. Soweit die Beklagte hinsichtlich
der arteriellen Hypertonie darauf verweist, dass bei einem systolischen Wert ab 160 mmHg von einer Hypertonie Grad 2 auszugehen
sei, übersieht sie, dass die Sachverständigen einen systolischen Wert zwischen 160 und 200 mmHg beschrieben haben. Zudem haben
sie ausgeführt, dass trotz umfangreicher antihypertensiver Kombinationstherapie mit bis zu sechs Wirkstoffen in eskalierter
Dosis keine befriedigende Blutdruckeinstellung erreicht worden sei. Darüber hinaus beschreiben sie präoperativ eine nicht
befriedigend eingestellte mittlere Glukosestoffwechsellage.
Dass der Kläger in den fetzten 6 bis 12 Monaten vor der Magenbypass-Operation nicht die klassischen konservativen Behandlungsmöglichkeiten
in Form von ärztlich angeleiteter und begleiteter Ernährungs-, Bewegungstherapie und Psychotherapie in Anspruch genommen und
intensiv durchgeführt hat, steht seinem Anspruch auf Gewährung einer bariatrischen Operation nicht entgegen. Es ist zu berücksichtigen,
dass der Kläger bereits seit seiner Kindheit bzw. frühen Jugend eine Adipositas aufweist und er immer wieder - wenngleich
erfolglos - in Eigeninitiative vielfältige Bemühungen unternommen hat, sein Körpergewicht zu reduzieren. Dass solche Konstellationen
auftreten und die Art und Ausprägung einer Adipositas per magna in Einzelfällen dazu führen kann, dass eine konservative Therapie
von vornherein als ohne Aussicht auf Erfolg angesehen werden muss, wird auch in der S3 Leitlinie "Chirurgie der Adipositas"
vom Juni 2010 unter Abschnitt 3.2 Unterpunkt 4 'Primäre Indikation' hervorgehoben. Darin heißt es: "Lassen Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen, dass eine chirurgische
Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen
auch primär eine chirurgische Therapie durchgeführt werden; die Indikation hierzu ist durch einen in der Adipositastherapie
qualifizierten Arzt und einen bariatrischen Chirurgen gemeinsam zu stellen. Damit hat die Leitlinienkommission ein weiteres
Beurteilungskriterium nach eingehender Diskussion präzisierend in die neuen Leitlinien aufgenommen, nämlich den Begriff der
geringen Erfolgsaussicht der konservativen Therapie". Auf diese Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften kann abgestellt werden,
da diese eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen darstellt. Auch
wenn diese rechtlich nicht bindend ist, gibt sie doch wichtige Entscheidungshilfen, zumal sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen
und auf in der Praxis bewährten Verfahren beruht. Die Klassifizierung als "S3 Leitlinie" bringt zum Ausdruck, dass diese auf
der Grundlage einer formellen oder systematischen Evidenzrecherche erstellt wurde und alle Elemente einer Systematischen Entwicklung
(Logik-, Entscheidungs- und Outcomeanalyse, Bewertung klinischer Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung)
beinhaltet. Dass diese Leitlinie, deren Gültigkeit bis zum 1. Juni 2015 begrenzt war, zur Zeit überarbeitet wird (s. www.awmf.org/leitlinien/detail/II/088-001.html),
steht der Heranziehung vorliegend nicht entgegen. Der Ablauf der Gültigkeit führt nicht dazu, dass die Feststellungen und
Empfehlungen der Leitlinie nunmehr fehlerhaft sind. Darüber hinaus wird auch in der S3 Leitlinie "Prävention und Therapie
der Adipositas" (Stand: 30. April 2014, gültig bis 30. April 2019) empfohlen, dass bei extremer Adipositas ein chirurgischer
Eingriff erwogen werden soll, wenn die konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind (Nr. 5.42, 5.44). Ferner wird
empfohlen, dass eine chirurgische Therapie auch primär ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden kann,
wenn die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist und der Gesundheitszustand des Patienten keinen Aufschub eines
operativen Eingriffs zur Besserung durch Gewichtsreduktion erlaubt. Dies sei unter folgenden Umständen gegeben: "Besondere
Schwere von Begleit- und Folgekrankheiten der Adipositas, BMI > 50 kg/qm, persönliche psychosoziale Umstände, die keinen Erfolg
einer Lebensstiländerung in Aussicht stellen" (Nr. 5.45). Als Hintergrund ist aufgeführt, dass die chirurgische adipositasspezifische
Therapie bei der Mehrheit der Patienten zu einer substanziellen Besserung und Normalisierung von Hyperglykämie, Dyslipidämie,
Blutdruck, obstruktiver Schlafapnoe sowie der Lebensqualität führt. Bei Patienten mit gestörter Glukosetoleranz kann die Konversion
zum manifesten Diabetes mellitus drastisch gesenkt werden (Seite 69 der Richtlinie). Zudem wird angegeben, dass unabhängig
davon, ob Patienten mit Adipositas III (BMI > 40 kg/qm) an einem präoperativen multimodalen Programm zur Reduktion teilnähmen
oder nicht, zwölf Monate nach Magenbypass keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des absoluten Gewichtsverlustes bestünden.
Eine multimodale präoperative Therapie habe bei Patienten mit Adipositas III keinen positiven Effekt auf den postoperativen
Gewichtsverlaust und die Reduktion der Komorbiditäten (Seite 71 der Richtlinie). Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Erfolgsaussichten
einer rein konservativen Therapie mit dem Ausmaß der Adipositas in einer Wechselbeziehung stehen. Daher sind bei einer vergleichsweise
geringen Adipositas an die Durchführung einer vorherigen konservativen Therapie strenge Anforderungen zu stellen. Je höher
aber der BMI ist, desto schwieriger wird es erfahrungsgemäß, alleine durch eine Umstellung der Ernährung, Bewegungs- und Psychotherapie
sowie sonstige konservative Maßnahmen eine ausreichende Gewichtsreduktion in angemessener Zeit zu bewerkstelligen. Daher ist
es angemessen, wenigstens in den Sonderfällen, in denen der BMI im oberen Bereich liegt und den Wert von 40 kg/qm deutlich
überschreitet, eine Magenverkleinerungsoperation krankenversicherungsrechtlich auch dann zu bewilligen, wenn die hinreichend
glaubhaften und ernsthaften eigeninitiativen Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben
zu einem sechs- bis zwölfmonatigen multimodalen und ärztlich geleiteten bzw. überwachten Therapiekonzept entsprechen (vgl.
Hess. LSG, Urteil vom 22. Mai 2014, L 8 KR 7/11, juris; Sozialgericht Mannheim, Urteil vom 17. Januar 2013 - S 9 KR 491/12, juris). Ob - wie von der Beklagten angeführt - die in Nr. 5.45 der Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" aufgeführten
Umstände "Besondere Schwere von Begleit- und Folgekrankheiten der Adipositas, BMI > 50 kg/qm, persönliche psychosoziale Umstände,
die keinen Erfolg einer Lebensstiländerung in Aussicht stellen" bei der rechtlichen Beurteilung, ob die operative Maßnahme
von der gesetzlichen Krankenkasse zu gewähren ist, stets kumulativ vorliegen müssen, ist bereits deshalb fraglich, weil die
Leitlinien insoweit rechtlich nicht bindend sind. Jedenfalls aber sind an die in der Leitlinie aufgeführten "Umstände" keine
übermäßig hohen Erfordernisse zu stellen. Bei einem durchschnittlichen BMI von 50 kg/qm, den bei dem Kläger vorliegenden Begleit-
und Folgekrankheiten, den erfolglosen Versuchen zur Gewichtsreduktion sowie seiner familiären Belastung ist zudem vom Vorliegen
der unter Nr. 5.45 der Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" genannten Umstände auszugehen.
Es besteht darüber hinaus vorliegend kein Anlass, die Angaben des Klägers über seine langjährigen erfolglos gebliebenen Bemühungen
zur Gewichtsreduktion in Zweifel zu ziehen. Auch die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. L. sind davon ausgegangen, dass
der Kläger mehrfach diätische Anläufe unternommen hat, um eine langfristige Gewichtsreduktion zu erzielen. Dokumentiert sind
diese für die Jahre 1971 bis 2011. Die Sachverständigen sind daher zu dem Ergebnis gelangt, dass im Fall des Klägers ein nicht
bariatrisches Therapiekonzept allenfalls marginale Erfolgsaussichten biete. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger
einmalig im Jahre 2000 sein Gewicht um 50 kg hat reduzieren können. Zum einen hat er das reduzierte Gewicht in der Folgezeit
nicht halten können. Zum anderen konnte er nach der MS-Erkrankung seiner Ehefrau (2000) und der Geburt des Sohnes (2002) präoperativ
nicht erneut sein Gewicht in diesem Maße reduzieren.
Es ist davon auszugehen, dass im Falle des Klägers die durchgeführte Magenbypassoperation deutlich erfolgreicher ist und nachhaltiger
wirkt als eine leitliniengerechte konservative Adipositastherapie. Dies geht aus dem Sachverständigengutachten vom 29. Februar
2016 eindeutig hervor. Auch bestanden nach Auffassung der Gutachter bei dem Kläger keine Kontraindikationen. Damit ist davon
auszugehen, dass die durchgeführte Magenbypass-Operation aus medizinischen Gründen sinnhaft und zweckmäßig ist, um das Ziel
einer deutlichen Gewichtsreduktion auch langfristig etablieren zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.