Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG).
Die 1964 geborene Klägerin beantragte am 12. Februar 2005 Leistungen nach dem
OEG wegen der gesundheitlichen Folgen eines tätlichen Angriffs durch ihren geschiedenen Ehemann am 30. Dezember 2004. Infolge
des Angriffs leide sie an psychischen Störungen, Traumen, Angstattacken und Schmerzen im Nackenbereich.
Nach den hierzu getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts - Schöffengericht - B Stadt war der geschiedene Ehemann der Klägerin,
nachdem er von einer neuen Partnerschaft der Klägerin erfahren hatte, am 30. Dezember 2004 gegen 22.00 Uhr gewaltsam in die
Wohnung der Klägerin eingedrungen, in der sich zu diesem Zeitpunkt neben der Klägerin eine Verwandte und der jüngere Sohn
der Klägerin aufhielten. Der Täter trat und schlug die Klägerin wiederholt, wodurch es zu multiplen Verletzungen im nahezu
gesamten Körperbereich kam. Die anwesende Verwandte der Klägerin wurde bei dem Versuch, der Klägerin zu Hilfe zu kommen, bewusstlos
geschlagen. Anschließend näherte sich der Täter der Klägerin, schrie, er werde jetzt ihr Blut fließen lassen, und stach mehrfach
mit einem Messer neben den Kopf der Klägerin in die Wand und in eine Tischplatte. Weitere Schläge folgten, außerdem würgte
der Täter die Klägerin auf dem Bett des älteren Sohnes liegend mit erheblicher Kraft, wodurch es zu einem massiven Hämatom
am Kehlkopf kam. Der Angriff konnte erst durch das Einschreiten der herbeigerufenen Polizei beendet werden. Die Klägerin erlebte
Todesangst und ihr Leben war konkret gefährdet. Wegen dieser Tat wurde der geschiedene Ehemann der Klägerin im Urteil des
Amtsgerichts vom 15. Juni 2005 wegen Bedrohung in zwei Fällen, gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und der gefährlichen
Körperverletzung sowie des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von 1 Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Berufung des Täters verwarf das Landgericht Darmstadt mit Urteil vom 31. Oktober
2005.
In einem von dem Beklagten angeforderten Befundbericht teilte der Neurologe und Psychiater Dr. X. am 13. März 2006 mit, bei
der Klägerin bestehe ein Angst- und Panikstörung sowie eine depressive Belastungsstörung nach Tötungsversuch mit schwerer
Körperverletzung. Der behandelnde Dipl.-Psych. QC. berichtete am 3. Juli 2006, die Klägerin stehe bereits seit 10. Juni 2002
mit Unterbrechungen in seiner psychotherapeutischen Behandlung. Ursprünglich sei die Behandlung bis Juni 2003 im Kontext des
kurz vorangegangenen Todes beider Elternteile und einer konflikthaften Ehesituation erfolgt. Der Behandlungsverlauf sei sehr
positiv gewesen, die differenziert- krankheitseinsichtige und engagierte Klägerin habe sich selbst um notwendige Veränderungen
und Neuorientierungen bemüht, innere Autonomie ausgebaut und alltagspraktisch realisiert (u. a. Berufsabschluss als Industriekauffrau
im Juli 2004 mit der Note "sehr gut"; danach Beginn des Aufbaus einer selbständigen beruflichen Tätigkeit trotz Doppelbelastung
als zweifache Mutter). Nach der Gewalttat sei die Klägerin Anfang 2005 wieder in seine Behandlung getreten und habe sich zunächst
relativ erfolgreich bemüht, die depressiven Reaktionen auf das erlittene Trauma zu kompensieren; so sei es ihr ab April/Mai
2005 möglich gewesen, ihre Aktivitäten zur Entwicklung einer selbständigen beruflichen Tätigkeit wieder aufzunehmen und durch
Auslandsreisen den Grundstock für geeignete Handelspartnerschaften zu legen. Kurz nachdem am 31. Oktober 2005 das Landgericht
Darmstadt die Berufung des geschiedenen Ehemanns der Klägerin verworfen habe, sei dieser nach Serbien geflüchtet. Hierauf
sei die Klägerin ausgeprägt depressiv dekompensiert mit Gewichtsverlust, Infektanfälligkeit, Energie- und Aktivitätseinbußen,
Erschöpfungszuständen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie einer pessimistisch-negativen Grundstimmung bei
tendenzieller emotionaler Vertaubung; begleitend seien auch wieder vermehrt Intrusionen des erlebten Traumageschehens aufgetaucht.
Dies verunmögliche es ihr, die schon weit fortgeschrittenen beruflichen Projekte weiter zu verfolgen. Eine vollschichtige
Berufstätigkeit sei derzeit nicht vorstellbar. Es liege eine protrahierte posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer
ängstlich-depressiver Symptomatik, Erschöpfungszuständen und Aktivitätsverlust vor.
Der Beklagte holte ein fachchirurgisches Gutachten von Dr. Y. ein, der im Gutachten vom 15. Januar 2007 ausführte, seitens
seines Fachgebietes seien keine Schädigungsfolgen verblieben. Der weitere von dem Beklagten beauftragte neurologisch-psychiatrische
Sachverständige Dr. S. kam in seinem Gutachten vom 12. Februar 2007 zu dem Ergebnis, bei der Klägerin liege auf seinem Fachgebiet
als Schädigungsfolge eine Anpassungsstörung vor, die mit einer Einzel-MdE von 20 zu bewerten sei. Zwar habe auf psychiatrischem
Gebiet ein Vorschaden im Sinne einer bereits erfolgreich therapeutisch angegangenen ängstlich-phobischen Störung bestanden,
deren Symptomatik jedoch nicht der jetzigen Anpassungsstörung gleichgekommen sei.
Mit Bescheid vom 29. März 2007 erkannte der Beklagte als gesundheitliche Folge der Gewalttat vom 30. Dezember 2004 eine Anpassungsstörung
an. Weitere Folgen einer schädigenden Einwirkung lägen nicht vor. Die Gewährung einer Beschädigtenrente scheide aus, weil
eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 25 v. H. nicht vorliege. Den Widerspruch der Klägerin vom 11. April
2007 wies der Beklagte nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von Dr. S. vom 6. August 2007 mit Widerspruchsbescheid
vom 27. August 2007 zurück.
Die Klägerin hat am 12. September 2007 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und unter Hinweis auf den Befundbericht
des behandelnden Dipl.-Psych. QC. die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigung (GdS) von 40 begehrt.
Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei dem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Dipl.-Psych. C. in
Auftrag gegeben, welches dieser am 6. März 2008 erstattet hat. Er kommt zu dem Ergebnis, entgegen dem Gutachten von Dr. S.
sei nicht von einer (bloßen) Anpassungsstörung auszugehen. Vielmehr sei eine protrahierte posttraumatische Belastungsstörung
mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik nachweisbar. Nach der Gewalttat werde zwar in der Folgezeit im Rahmen der Therapie
zunächst eine Besserung mit Wiederaufnahme der beruflichen Aktivitäten etwa ab Mai 2005 beschrieben, infolge der Flucht des
geschiedenen Ehemannes und der damit erneut implizierten Bedrohung sei es jedoch zu einem Rezidiv der für die posttraumatische
Belastungsstörung typischen Verhaltensmerkmale gekommen. Die MdE betrage 40 v. H. ab November 2005, dem Zeitpunkt der Flucht
des geschiedenen Ehemannes mit der Folge einer deutlich progredienten psychiatrischen Dekompensation der Klägerin.
Der Beklagte ist dem unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. V. vom 9. Mai 2008 entgegengetreten,
der u. a. vorgebracht hat, die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsreaktion seien nur schwerlich nachvollziehbar begründet
und die dargestellten, der psychischen Erkrankung zugeordneten körperlichen Symptome könnten Folgen einer Anämie sein.
Das Sozialgericht hat hierauf eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. C. vom 8. September 2008 eingeholt und ein fachinternistisches
Gutachten bei Dr. DS. veranlasst, welches dieser am 30. Mai 2009 erstattet hat. Dr. DS. führt aus, aufgrund seiner ausführlichen
internistischen Befunderhebung sei eine organische Ursache der beklagten Beschwerden, insbesondere eine Eisenmangelanämie,
auszuschließen. In Übereinstimmung mit Dr. C. sei für die Zeit vom 30. Dezember 2004 bis 31. Oktober 2005 von einer Anpassungsstörung
im Rahmen einer noch kompensierten Phase auszugehen. Das zweite und für die Etablierung des posttraumatischen Belastungssyndroms
entscheidende Ereignis sei die Flucht des Täters gewesen, welche die Bedrohung für die Klägerin unberechenbar und ständig
präsent gemacht habe und zu einem Zusammenbruch der noch wenig gefestigten Bewältigungsstrategien geführt habe. Der Gesamt-GdS
sei in der Zeit vom 30. Dezember 2004 bis 31. Oktober 2005 mit 20 v. H. und ab dem 31. Oktober 2005 mit 40 v. H. einzustufen.
Mit Urteil vom 18. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Selbst wenn man der Einschätzung des Sachverständigen
Dr. C. folge und von einem GdS von 40 ausgehe, fehle es an der erforderlichen Kausalität. Denn nach den übereinstimmenden
Gutachten sei nur ein Teil der psychischen Beschwerden auf die Gewalttat vom 30. Dezember 2004 zurückzuführen. Eine MdE von
40 bestehe erst seit der Flucht des geschiedenen Ehemannes im November 2005 und beruhe auf der Angst der Klägerin, dieser
könne ihr erneut Gewalt antun. Die Flucht des Ehemannes und nicht die Gewalttat vom 30. Dezember 2004 sei somit die entscheidende
Ursache für die Ausweitung der psychischen Störung der Klägerin. Zudem sei die Klägerin bereits seit Juni 2002 in ambulanter
psychotherapeutischer Behandlung bei dem Dipl.-Psych. QC. gewesen, so dass von einem entsprechenden Vorschaden auszugehen
sei, der nicht auf die Gewalttat zurückgeführt werden könne.
Gegen das am 14. April 2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14. Mai 2010 Berufung eingelegt.
Die Klägerin meint, die Kausalitätsbetrachtung des Sozialgerichts sei unzutreffend. Vor der Tat habe kein relevanter psychischer
Schaden bestanden. Die Flucht des Ehemannes und die Ungewissheit über eine mögliche Wiederbegegnung seien Folgen der Straftat,
die damit die wesentliche Ursache für die jetzt noch bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. März 2010 sowie den Bescheid des Beklagten vom 29. März 2007 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. August 2007 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin eine posttraumatische
Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihr ab 1.November 2005
Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einer MdE von 40 vom Hundert zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.
Der Senat hat ein Ergänzungsgutachten bei Dr. C. eingeholt, welches dieser nach erneuter ambulanter Untersuchung der Klägerin
am 14. November 2010 erstattet hat. Er führt aus, eine relevante Vorschädigung sei zu verneinen. Die Klägerin habe bis zu
der Gewalttat Anpassungsfähigkeit und psychische Stärke ohne Hinweis auf eine eigenständige psychische Erkrankung gezeigt.
Erst durch den brutalen körperlichen Übergriff im Dezember 2004 mit demonstrativem Einsatz eines Messers mit Tötungsabsicht
sei es zu einer psychotraumatologischen Störung gekommen, die von einer ganz anderen Qualität gewesen sei als die früheren
psychischen Belastungen durch Eheprobleme oder den Verlust naher Angehöriger. Eine spezielle Prüfungsphobie, wie sie die Klägerin
aus der Vorgeschichte erwähnt habe, sei nur eine sehr spezielle Tatsache und stehe in keinem Vergleich mit dem maßgeblichen
Trauma. Insgesamt sei der Vorschaden mit weniger als 10 von 100 einzustufen. Der Auffassung, dass Auslöser der (erneuten)
psychischen Symptomatik im Oktober 2005 nicht die Gewalttat selbst, sondern die Befürchtung einer weiteren Gewalttat sei,
müsse angesichts der tatbegründenden Entwicklung unter Berücksichtigung der Handlungsweisen schwerstkrimineller Täter widersprochen
werden. Letztlich sei eine Fortsetzung der Gewalthandlungen nicht auszuschließen, weshalb die begründete Erwartungsangst im
vorliegenden Fall nicht von der ursprünglichen Tathandlung getrennt betrachtet werden dürfe. Neuropsychologisch seien die
Auswirkungen einer vitalen Bedrohung auf die Amygdalaregion des Gehirns zu beachten. Dieser Hirnregion werde nach einer Traumatisierung
eine wesentliche Auswirkung auf das Erleben zugeschrieben. Ein massives Ansprechen der Amygdala könne auch durch ein antizipiertes
Trauma (sehr wahrscheinliche Wiederbegegnung mit dem Täter) zu vergleichbaren psychischen Reaktionen führen. Die aktuelle
psychiatrische Überprüfung belege anhand der Berichterstattung und der Verhaltensbeobachtung eine Reaktivierung der psychotraumatologischen
Folgen allerdings geringeren Ausmaßes, wobei durchaus Bewältigungsmechanismen bestünden, die aber nicht die zentrale traumatische
Erlebnisweise verhinderten. Es sei weiterhin von einer stärker behindernden Störung mit einem GdB von 40 auszugehen.
Der Beklagte ist dem Gutachten unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme von Dr. CV. vom 19. Januar 2011 entgegengetreten,
der ausführt, dem Gutachten von Dr. C. sei klar zu entnehmen, dass die PTBS ohne die mögliche Bedrohung durch den geflohenen
Ehemann nicht mehr in relevantem Ausmaß bestehen würde. Die anerkannte Schädigung nach dem Gewaltereignis vom 30. Dezember
2004 werde nun in ihrer Intensität durch eine mögliche Bedrohung verstärkt, die nicht Schädigungsfolge sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte
des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts kann nicht aufrechterhalten
bleiben. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Diese hat
Anspruch auf Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik als Schädigungsfolge
und Gewährung einer Grundrente nach einer MdE von 40 ab dem 1. November 2005.
Gemäß §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG hat Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Klägerin ist durch den vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff ihres
geschiedenen Ehemannes am 30. Dezember 2004 gesundheitlich geschädigt worden, wie es der Beklagte im Bescheid vom 29. März
2007 anerkannt hat. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und des Beklagten steht der Klägerin wegen der gesundheitlichen
Folgen dieser Tat auch eine Grundrente zu.
Maßgeblich sind insoweit §§ 31 Abs. 1 und 2, 30 Abs. 1 BVG in der bis zum 21. Dezember 2007 geltenden Fassung, da der Versorgungsanspruch der Klägerin vor diesem Datum eingetreten
ist. Nach § 31 Abs. 1 BVG a. F. erhalten Beschädigte bei einer MdE um mindestens 30 v. H. eine monatliche Grundrente. Die in Abs. 1 genannten Vomhundertsätze
stellen Durchschnittssätze dar; eine um fünf vom Hundert geringere Minderung der Erwerbsfähigkeit wird von ihnen mit umfasst
(Abs. 2). Gemäß § 30 Abs. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu
beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend,
um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch
die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind. Vorübergehende Gesundheitsstörungen
sind nicht zu berücksichtigen.
Durch das Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom
13. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2904) ist der Begriff "Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)" durch die Bezeichnung "Grad der Schädigungsfolgen (GdS)" ersetzt
worden. Mit der Änderung der Begrifflichkeit hat der Gesetzgeber keine Änderung in der Sache beabsichtigt (vgl. Gesetzentwurf
der Bundesregierung, BR-Drucks. 541/07, S. 68, 80).
Als Grundlage für die Beurteilung der für die Bemessung der MdE erheblichen medizinischen Sachverhalte dienten in der Vergangenheit
die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP), die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene
Sachverständigengutachten eine normähnliche Wirkung hatten (vgl. BSG v. 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 3 m. w. N.). Diese sind auf den vorliegenden Fall anzuwenden, da die auf der Grundlage von § 30 Abs. 17 BVG erlassene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), welche die AHP ersetzt hat, erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getreten
ist.
Nach Ziffer 26.3 AHP 2005 sind leichte psychovegetative oder psychische Störungen mit einer MdE von 0 bis 20 zu bewerten.
Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive,
hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) werden mit
einer MdE von 30 bis 40 bewertet.
Infolge des tätlichen Angriffs vom 30. Dezember 2004 bestand bei der Klägerin zunächst nur eine Anpassungsstörung mit leichteren
sozialen Schwierigkeiten, welche mit einer MdE von 20 zu bewerten war. Wie der Sachverständige Dr. C. darlegt, war die Klägerin
trotz der körperlichen und psychischen Folgen des brutalen Überfalls zunächst in der Lage, mit psychotherapeutischer Hilfe
das vorangegangene Trauma zu bewältigen, die Planung ihrer selbstständigen Tätigkeit wieder aufzunehmen und hierzu Reisen
vorzunehmen. Mit der Flucht ihres geschiedenen Ehemanns nach Serbien im unmittelbaren Anschluss an das Berufungsurteil des
Landgerichts Darmstadt vom 31. Oktober 2005 ist es bei der Klägerin aber zu einer protrahierten posttraumatischen Belastungsstörung
mit schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik gekommen, die als Folge der Gewalttat anzusehen und mit einer MdE von 40 v.
H. zu bewerten ist.
Wie der Sachverständige Dr. C. in überzeugender Weise darlegt, zeigt die Entwicklung des Gesundheitszustands der Klägerin
nach der Flucht des geschiedenen Ehemannes einen schwerwiegenden Einbruch. Die Klägerin leidet, wie sich aus der ausführlichen
Schilderung des Dipl. Psych. QC. im seinem Befundbericht vom 3. Juli 2006 und den Angaben der Klägerin bei ihrer Untersuchung
durch den Sachverständigen Dr. C. ergibt, seit dieser Zeit unter einer ausgeprägten depressiven Dekompensation mit progredienten
Gewichtsverlust und Infektanfälligkeit, Energie- und Aktivitätseinbußen. Die Klägerin klagt glaubhaft über Erschöpfung mit
Schlafstörungen, Verstärkung körperlicher Krankheitssymptome, Magen-Darm-Probleme und Schlafstörungen, für die nach den Feststellungen
des internistischen Sachverständigen Dr. DS. körperliche Ursachen ausgeschlossen werden können; insbesondere hat sich der
Verdacht auf eine Eisenmangelanämie nicht bestätigt. Nach den Darlegungen des Sachverständigen Dr. C. erfüllt diese Kombination
von Schlafstörungen, Albträumen, hypochondrischer Angst und vermehrter Schreckhaftigkeit bei wiederkehrenden Gefühlen der
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung mit suizidalen Phantasien die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung mit
schwerer ängstlich-depressiver Symptomatik. Auch mehr als 6 Jahre nach der Tat ist es dabei, wie sich aus den Nachuntersuchungsergebnissen
von Dr. C. ergibt, bisher nicht zu einer durchgreifenden Besserung gekommen. Zwar verfügt die Klägerin, wie die Befunderhebung
des Sachverständigen zeigt, mittlerweile über bessere Bewältigungsstrategien, es bestehen aber weiterhin Symptome einer posttraumatischen
Belastungsstörung mit klar abgrenzbarer Reaktivierung auf entsprechende Nachfragen. Die Stimmung der Klägerin ist immer noch
thematisch bezogen angespannt, affektlabil, ängstlich und sehr besorgt. Körperliche Beschwerden wie Übelkeit, Magenbeschwerden
und Kopfschmerzen schildert die Klägerin nach wie vor, wobei Dr. C. die Berichterstattung als nachvollziehbar und plausibel
bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es der Klägerin trotz ihrer beruflichen Qualifikation seit
der Tat eine nachhaltige berufliche Integration nicht mehr gelungen ist. Die Bemühungen um eine selbständige berufliche Existenz
musste sie infolge der Zunahme der gesundheitlichen Beschwerden nach der Flucht des Täters aufgeben. Derzeit arbeitet die
Klägerin, wie sie im Erörterungstermin am 18. August 2010 mitgeteilt hat, auf Minijob-Basis in einem Hotel als Rezeptionistin
und im Service und bezieht daneben Leistungen nach dem SGB II; ansonsten befindet sie sich in einem Projekt für Kranke und
Langzeitarbeitslose der ProArbeit B-Stadt. Insgesamt ist es daher überzeugend, wenn Dr. C. die MdE weiterhin mit 40 v. H.
bewertet. Auch der Beratungsarzt des Beklagten hat in seiner letzten Stellungnahme dagegen keine Einwände mehr erhoben.
Dieser gesundheitliche Zustand ist kausal auf den tätlichen Angriff vom 30. Dezember 2004 zurückzuführen. Dabei gilt im Bereich
des
OEG ebenso wie in der Kriegsopferversorgung die Ursachentheorie der "wesentlichen Bedingung". Danach sind Ursachen die Bedingungen,
die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu
einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung
und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem dieser Umstände gegenüber dem anderen
eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand Alleinursache im Sinne des BVG (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, BVG, § 1 Rdnr 9).
Zwar ist es zutreffend, wenn das Sozialgericht darauf hinweist, dass es durch die Flucht des geschiedenen Ehemanns nach Serbien
zu einer wesentlichen Verstärkung der psychischen Störung der Klägerin gekommen ist. Hierdurch ist aber keine neue, eigenständige
und von der ursprünglichen Tat getrennte Kausalkette in Gang gesetzt worden, die unabhängig von dem tätlichen Angriff am 30.
Dezember 2004 gesehen werden könnte. Das
OEG entschädigt die Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen
Folgen der Tat. Die auch von Seiten des Beklagten anerkannte gesundheitliche Schädigung, welche die Klägerin durch die Tat
erlitten hat, bestand in einer - wenngleich zunächst auch durch psychotherapeutische Hilfe ausreichend kompensierten - ängstlich-depressiven
Belastungsstörung. Der Klägerin gelang es jedoch im unmittelbaren Anschluss an die Tat zunächst, das erlittene Trauma zu verdrängen,
insbesondere durch die Wiederaufnahme der Aktivitäten zur Entwicklung einer beruflichen Selbstständigkeit. Damit war die Tat
jedoch offensichtlich nicht bewältigt, sondern wurde in ihren gesundheitlichen Folgen lediglich beherrscht. Durch die Flucht
des geschiedenen Ehemannes Anfang November 2005 nach Serbien rückte dieses Geschehen für die Klägerin dann wieder in den Vordergrund.
Die Flucht des Täters war damit zwar der Auslöser für eine Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin, nicht aber
die Ursache einer neuen und von der Gewalttat unabhängigen Gesundheitsstörung. Denn bei der Klägerin lag bereits vorher eine
tatbedingte traumatische Störung vor. Sie litt, wie Dipl. Psych. QC. eingehend beschrieben hat, schon vor der Flucht des Täters
an (wenn auch leichteren) Depressionen und Ängsten als Folge des lebensbedrohlichen Angriffs, die sich u.a. in häufigen spontanen
Intrusionen (also dem Wiedererleben der Tat) ausdrückten. Mit der Flucht des Täters aus Deutschland brachen dann die Kompensationsmechanismen
der Klägerin zusammen. Die Situation unterscheidet sich insoweit nicht von anderen Fallgestaltungen, in denen für das Opfer
die erneute Konfrontation mit der Tat und/oder dem Täter - etwa im Rahmen einer Gerichtsverhandlung oder aus Anlass seiner
Haftentlassung - zu einem Wiederaufleben oder einer Verstärkung der durch die Tat verursachten psychischen Verletzung kommt,
ohne dass hierin ein neues, opferentschädigungsrechtlich relevantes Geschehen läge. Eine derartige Betrachtungsweise würde
den Schutzzweck des
OEG verfehlen, welches auf einen Ausgleich der durch die Tat verursachten dauerhaften Gesundheitsstörungen zielt und deshalb
auch Verschlechterungen des durch die Tat bedingten Leidens entschädigt. Aus der Kausalitätsbetrachtung scheiden daher nur
solche von außen kommenden Ursachen aus, die mit der ursprünglichen Schädigung in keinem Zusammenhang stehen (Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner,
Kommentar zum
OEG, 5. Aufl., Anhang I Rn. 28 m. w. N.). Die Flucht des Täters vor der Strafvollstreckung ist jedoch von der ursprünglichen
Tat nicht zu trennen und die hierdurch verursachte Zunahme von Angst und Depression bei der Klägerin eine ebenso nachvollziehbare
wie kausal auf die Tat zurückzuführende Folge.
Daher geht auch die Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. CV. fehl, die posttraumatische Belastungsstörung würde ohne die
mögliche Bedrohung durch den geflohenen Ehemann nicht mehr in relevantem Ausmaß bestehen. Mit dieser Auffassung verkennt Dr.
CV. den Entschädigungsgedanken des
OEG. Das Gesetz entschädigt für die gesundheitlichen Folgen, wie sie bei dem Opfer aufgrund der Tat eingetreten sind. Dazu gehört
aber auch eine durch die Tat ausgelöste nachvollziehbare Angst vor möglichen Wiederholungen. Dass die psychischen Leiden der
Klägerin möglicherweise geringer wären, wenn es den Täter nicht mehr gäbe, ist hypothetisch und lässt den durch die Tat entstandenen
Versorgungsanspruch der Klägerin nicht entfallen. Für die Kausalitätsbetrachtung ist maßgeblich, dass der heutige Gesundheitszustand
der Klägerin ohne die Tat nicht denkbar wäre und durch das nachfolgende Geschehen lediglich akzentuiert worden ist.
Der gesundheitliche Schaden der Klägerin ist nicht wegen eines Vorschadens niedriger zu bewerten. Der dahingehende Hinweis
des Sozialgerichts, dass die Klägerin bereits seit Juni 2002 in psychotherapeutischer Behandlung bei Dipl. Psych. QC. gestanden
hat, trägt diese Annahme nicht. Wie Dr. C. zu Recht ausführt, gibt es keinen Anhaltspunkt für eine ernsthafte psychische Erkrankung
der Klägerin vor dem schädigenden Ereignis. Die verhaltenstherapeutische Behandlung bei Dipl. Psych. QC. erfolgte zwischen
Juni 2002 und Juni 2003 wegen des kurz vorangegangenen Todes beider Elternteile und einer konflikthaften Ehesituation, fern
wegen einer seit 10 Jahren bestehenden, spezifischen sozialen Phobie (Prüfungsangst), die zum damaligen Zeitpunkt allerdings
subakut war. Der Behandlungsverlauf war nach Mitteilung von Dipl. Psych. QC. sehr positiv, die differenziert- krankheitseinsichtige
und engagierte Klägerin hatte sich selbst um notwendige Veränderungen und Neuorientierungen bemüht, innere Autonomie ausgebaut
und alltagspraktisch realisiert (u. a. Berufsabschluss als Industriekauffrau im Juli 2004 mit der Note "sehr gut"; danach
Beginn des Aufbaus einer selbständigen beruflichen Tätigkeit trotz der zusätzlichen Belastung als zweifache Mutter). Angesichts
dessen ist Dr. C. zuzustimmen, dass die Klägerin vor der Gewalttat Anpassungsfähigkeit und innere Stärke ohne Hinweis auf
eine eigenständige psychische Erkrankung gezeigt hat.
Die Versorgung ist ab dem 1. November 2005 zu leisten. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat.
Vorliegend waren die Anspruchsvoraussetzungen zugunsten der Klägerin im November 2005 erfüllt. Denn das für den Eintritt der
protrahierten posttraumatischen Belastungsstörung maßgebliche Ereignis war die Flucht des Ehemannes nach Serbien im unmittelbaren
Anschluss an das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 31. Oktober 2005. Hiervon hat die Klägerin, wie sich aus ihren Angaben
bei den Sachverständigen ergibt, kurz darauf erfahren, was Auslöser der Verschlechterung des Gesundheitszustandes war.
Gründe für die Zulassung der Revision lagen nicht vor.