Versorgung mit dem Arzneimittel Dronabinol als Rezeptursubstanz
Ceroid-Lipofuszinose
Therapie mit einem nicht empfohlenen Rezepturarzneimittel
Ausnahmefälle
Positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung der 1988 geborenen, bei der Beklagten in der Gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) versicherten Klägerin mit dem Arzneimittel Dronabinol streitig.
Die Klägerin leidet seit Jahren an einer neuronalen Ceroid-Lipofuszinose (NCL) mit juveniler Verlaufsform. Sie lebt an den
Werktagen in einer Wohngruppe für Schwerstbehinderte und wird an den Wochenenden von ihren Eltern versorgt. Bei der NCL-Krankheit
handelt es sich um eine bislang unheilbare, stetig voranschreitende Hirnabbaukrankheit, die mit Sehverlust bis zur vollständigen
Blindheit, Krampfanfällen und einem Verlust sämtlicher Fähigkeiten einhergeht. Die bei Geburt gesunden Kinder entwickeln ca.
zu Beginn des Schulalters eine zunehmende Sehstörung. Im weiteren Verlauf der Erkrankung treten dann meist schwer einstellbare
Krampfanfälle und ein stetiger Verlust aller Fähigkeiten hinzu. Die Kinder verlieren die Fähigkeit zu laufen, zu sprechen,
können nicht mehr eigenständig essen und müssen im Endstadium zumeist mit einer Sonde ernährt werden. Es tritt eine Rollstuhlpflichtigkeit
sowie Demenz und im weiteren Verlauf der Krankheit dann eine vollständige Pflegebedürftigkeit ein. Durch die voranschreitende
Neurodegeneration kommt es häufig zu ausgeprägten Unruhe- und Angstzuständen mit Schlaflosigkeit und äußerst schmerzhaften
spastischen Krisen sowie Halluzinationen und epileptischen Anfällen. Eine kurative Behandlung der NCL ist nach dem derzeitigen
medizinischen Wissensstand nicht möglich. Jede NCL-Erkrankungsform führt unweigerlich zum Tode.
Die NCL-Erkrankung der Klägerin ist sehr weit fortgeschritten. Bei ihr besteht eine weitgehende Bewegungsunfähigkeit mit schwerer
Spastik und Epilepsie. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen, fast vollständig erblindet und hat ihre Sprache verloren. Die
Klägerin wird seit Jahren medikamentös unter anderem mit Dronabinol-Tropfen behandelt, welche ihr der Kinder- und Jugendarzt,
Arzt für Neuropädiatrie mit epileptologischer Schwerpunktpraxis Dr. D. verordnete. Auch der Oberarzt des Zentrums für Kinderheilkunde
und Jugendmedizin, Abteilung Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie der Universitätsmedizin Göttingen, Prof. Dr. Dr.
E., befürwortete die Behandlung der Klägerin mit Dronabinol-Tropfen, weil hierdurch bei der Klägerin die Frequenz von krisenhaften
Schmerzzuständen und Unruhephasen sowie die Anzahl der stationären Aufenthalte deutlich reduziert werden hätte können. Auch
hätten sich die Spastik und die Stimmungslage deutlich verbessert und der Appetit habe gesteigert werden können (Attest vom
13. Mai 2010).
Dronabinol (bekannt auch als Tetrahydrocannabinol - THC) ist ein synthetisch gewonnener Wirkstoff, der mit dem wichtigsten
psychotrop wirksamen Inhaltsstoff der Hanfpflanze (Cannabis sativa) identisch ist. Der Wirkstoff hat Auswirkungen auf das
zentrale und periphere Nervensystem und bewirkt z. B. Glücksgefühle, Entspannung und Analgesie (Schmerzlinderung). Er wird
in Deutschland von Pharmaunternehmen produziert. Dronabinol wird von Apotheken als Wirkstoff zur Herstellung von Dronabinol-Kapseln
oder öligen Dronabinol-Tropfen nach offiziellen Rezepturvorschriften verwendet. Dronabinol ist verkehrs- und verschreibungsfähig
(Anlage III zu § 1 Betäubungsmittelgesetz - BtMG). Dronabinolhaltige Fertigarzneimittel sind in Deutschland nicht zugelassen. In den USA und in Kanada ist unter dem Handelsnamen
Marinol® ein Fertigarzneimittel in Kapselform zur Behandlung von Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten und von Übelkeit und Erbrechen
bei Krebs im Rahmen einer Chemotherapie zugelassen. Des Weiteren ist in Kanada ein solches Arzneimittel unter dem Handelsnamen
Sativex® zur begleitenden Behandlung von neuropathischen Schmerzen bei Patienten mit multipler Sklerose (MS) zugelassen. Dieses
enthält die gleiche Menge der Drogen THC und Cannabinol (CBD). Diese Arzneimittel können gemäß den Regeln des § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) mit Erlaubnis der Einfuhr durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) importiert werden.
Am 30. Mai 2011 hatte die Klägerin über ihre sie betreuenden Eltern bei der Beklagten beantragt, die Kosten für ihre weitere
Versorgung mit Dronabinoltropfen zu übernehmen und auf das ärztliche Attest des Prof. Dr. Dr. E. vom 13. Mai 2010 verwiesen.
Weiter war eine Stellungnahme des Dr. med. D. vom 20. Oktober 2010 vorgelegt worden. Darin heißt es, die Klägerin stehe seit
1989 in seiner Behandlung. Ihre Grunderkrankung sei zwischenzeitlich sehr weit fortgeschritten. Er behandle sie seit vielen
Jahren mit Cannabis. Diese Behandlung, die in der Neuropädiatrie zunehmend etabliert sei, habe der Klägerin wenigstens einen
kleinen Teil ihres schweren Leidens erleichtern können. So habe die Verabreichung von Dronabinol-Tropfen zu einer Besserung
der Spastik geführt, die Klägerin habe ihre Stimmungslage verbessert, den Appetit vermehrt und es sei möglicherweise zu einem
positiven Einfluss auf die quälenden Myoklonien gekommen. Anfangs habe er die Klägerin zu Lasten der GKV behandelt. Als dies
nicht mehr möglich gewesen sei, seien Sponsoren eingetreten. Nun habe dieses Sponsoring ein Ende. Da alle in Frage kommenden
Medikamente in seiner fachärztlich neuropädiatrischen Praxis eingesetzt worden seien, könne er feststellen, dass Cannabis
die einzige Substanz sei, mit der die o.a. Wirkungen hätten erzielt werden können. Dronabinol ersetze eine Vielzahl anderer
Medikamente, die nebenwirkungsreicher seien.
Die Beklagte hatte hierauf den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) eingeschaltet. Für diesen hatte
Dr. med. F. in seiner nach Aktenlage gefertigten Stellungnahme vom 10. Juni 2011 unter Zugrundelegung der Ausführungen von
Prof. Dr. Dr. E. und Dr. D. zum Krankheitsbild der Klägerin ausgeführt, die Wirksamkeit von Dronabinol sei indikationsbezogen
bislang nicht anhand einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Fällen aufgrund wissenschaftlich einwandfrei
geführter Statistiken nachgewiesen. Die Frage, ob Cannabinoide ein klinisch sinnvoll zu nutzendes schmerzlinderndes Potential
hätten, sei weiterhin unzureichend untersucht. Die vorliegenden Studienergebnisse seien widersprüchlich. Dronabinol sei in
die Anlage III der 10. Betäubungsmittel-Änderungsverordnung aufgenommen worden und seit 1. Februar 1998 auf einem Betäubungsmittel-Rezept
verordnungsfähig. Die Verordnungshöchstmenge sei dabei auf 500 mg Dronabinol innerhalb von 30 Tagen festgelegt. Ein Dronabinol-Fertigarzneimittel
stehe auf dem deutschen Markt nicht zur Verfügung. Apotheken könnten Dronabinol aber als Ausgangsstoff zur Herstellung von
Rezepturarzneimitteln beziehen. Für Rezepturarzneimittel seien gemäß gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die gleichen Voraussetzungen einer Leistungspflicht der GKV zu fordern wie für so genannte "neue" Behandlungsmethoden. Solche
Methoden dürften in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame
Bundesausschuss (GBA) auf Antrag Empfehlungen über die Anerkennung des diagnostischen therapeutischen Nutzens der neuen Methode
sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit auch im Vergleich bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten
Methoden abgegeben habe, es sei denn, dass die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember
2005 (1 BvR 347/98) heranzuziehen seien. Neben weiteren Voraussetzungen müsse die neue Behandlungsmethode dann eine auf Indizien gestützte,
nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
versprechen. Weiter müsse nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf
innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraumes mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde. Das Bundessozialgericht
habe mit Urteil vom 27. März 2007 (B 1 KR 30/60 R) einen Anspruch eines gesetzlich Krankenversicherten mit Querschnittslähmung und einem chronischen Schmerzsyndrom auf die
Versorgung mit einem cannabinoidhaltigen Rezepturarzneimittel wie auch mit einem cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel verneint.
Der hier vorliegende Fall sei mit dem Vorstehenden vergleichbar. Die Erkrankung der Klägerin sei nicht als eine lebensbedrohliche
oder regelmäßig tödlich endende Erkrankung mit notstandsähnlichem Charakter einzustufen. Es komme hinzu, dass für die Behandlung
der Symptomatik andere verordnungsfähige Medikamente zur Verfügung stünden. Eine qualifizierte Studienlage, welche eine klinisch
relevante Wirksamkeit bei vertretbarem Risiko belege, liege nicht vor. Als vertragliche Behandlungsmöglichkeiten stünden bei
einer schmerzhaften Spastik die Maßnahmen der modernen Schmerztherapie zur Verfügung, u.a. auch die Gabe von Muskelrelaxantien
wie Benzodiazepinen, Baclofen, ggf. auch intrathekal, Dantrolen und Tizanidin. Den Unterlagen sei nicht zu entnehmen, dass
solche etablierten und im vertragsärztlichen Rahmen verfügbaren Maßnahmen lege artis eingesetzt und ausgeschöpft worden wären.
Mit Bescheid vom 3. August 2011 hatte die Beklagte den Antrag unter Bezugnahme auf die Ausführungen in der MDK-Stellungnahme
abgelehnt. Hiergegen hatten die Eltern der Klägerin für diese Widerspruch erhoben. Diesen hatte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 2. November 2011 als unbegründet zurückgewiesen. Darin wird ausgeführt, nach §
27 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (
SGB V) hätten Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig sei, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln umfasse
nach §
31 Abs.
1 SGB V apothekenpflichtige Arzneimittel, die in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig und nicht nach §
34 SGB V ausgeschlossen seien. Fertige Arzneimittel dürften im Rahmen der GKV nur verordnet werden, soweit sie nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassen seien. Für cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel sei weder in Deutschland noch in einem zentralen europäischen
Zulassungsverfahren eine Zulassung erteilt worden. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG falle ein Arzneimittel erst dann in die Leistungspflicht der GKV, wenn die Zulassung erteilt worden sei, d.h., Qualität,
Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in einem dafür vorgesehenen Verfahren nachgewiesen worden seien (BSG, Urteil vom 18. Mai 2004, B 1 KR 21/02 R). Das Fertigarzneimittel "Marinol" mit inhaltsgleichem Wirkstoff sei in den USA zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen
bei Chemotherapie und zur Appetitanregung bei Aids-Patienten zugelassen. Damit sei es gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 AMG erlaubt, dieses Mittel im Einzelfall in geringer Menge und auf besondere Bestellung über eine Apotheke nach Deutschland einzuführen.
Das BSG habe insoweit mit dem vorgenannten Urteil entschieden, dass die im Einzelfall mögliche rechtmäßige Arzneimittelbeschaffung
aus dem Ausland jedoch nicht geeignet sei, eine zulassungsähnliche Wirkung herbeizuführen. Eine Leistungspflicht der Krankenkassen
für so beschaffte Präparate bestehe nicht.
Ebenfalls stelle das BSG klar, dass seine Rechtsprechung zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen bei Einsatz von Arzneimitteln außerhalb
ihres Zulassungsbereichs (Urteil vom 19. März 2002, B 1 KR 37/00 R) auf derartige Präparate nicht anwendbar sei. Ein im Ausland zugelassenes Arzneimittel sei krankenversicherungsrechtlich
nicht so zu behandeln wie ein im Inland bereits zulässigerweise im Handel befindliches Medikament, das außerhalb seines arzneimittelrechtlich
festgelegten Zulassungsrahmens verordnet und verwendet werden solle. Werde Dronabinol als Rezepturarzneimittel verwendet,
so richte sich die rechtliche Beurteilung nach den Grundsätzen für so genannte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden.
Diese dürften nur dann über die GKV abgerechnet werden, wenn sie in ihrer Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen würden. Hierüber habe nach §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V der GBA zu entscheiden. Die Abrechnung einer nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode sei grundsätzlich ausgeschlossen,
solange sich der GBA zur Notwendigkeit und zum therapeutischen Nutzen der Methode nicht geäußert habe. Zumindest solche Pharmakokotherapien
seien der Kontrolle durch den GBA zu unterwerfen, bei denen das eingesetzte Medikament keiner arzneimittelrechtlichen Zulassung
bedürfe, weil andernfalls die Qualitätsprüfung bei neuen Behandlungsmethoden lückenhaft bliebe und die gesetzliche Regelung
teilweise leerliefe (BSG, Urteil vom 28. März 2000, B 1 KR 11/98 R). Eine Empfehlung des GBA zur Anwendung von Dronabinol bei der von der Klägerin bestehenden Erkrankung liege nicht vor.
Eine grundrechtsorientierte Auslegung entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) führe zu keinem anderen Ergebnis. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse eine notstandsähnliche Fallkonstellation vorliegen (Urteil vom 14. Dezember 2006, B 1 KR 12/06 R). Speziell zur Kostenübernahme von cannabinoidhaltigen Fertig- oder Rezepturarzneimitteln zur Schmerztherapie habe das BSG mit seinem Urteil vom 27. März 2007 (B 1 KR 30/06 R) entschieden, dass die vom BVerfG aufgestellten Ausnahmegrundsätze auch unter einer grundrechtsorientierenden Auslegung des
SGB V nicht erfüllt seien. Ein chronisches Schmerzsyndrom könne - so das BSG - nicht mit einer tödlich verlaufenden Erkrankung oder einem nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans gleichgestellt
werden. Eine Leistungspflicht der GKV für Dronabinol sei daher verneint worden. Eine Kostenerstattung ebenso wie eine zukünftige
Kostenübernahme sei folglich auch hiernach nicht möglich. Dementsprechend habe der MDK in seiner Stellungnahme eine Kostenübernahme
nicht empfehlen können und stattdessen alternativ die Verordnung zugelassener Arzneimittel zur Behandlung der schmerzhaften
Spastiken empfohlen.
Die Klägerin erhob am 23. November 2011 durch ihre Prozessbevollmächtigten fristwahrend Klage zum Sozialgericht Kassel. Sie
hielt an ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren fest und bezog sich auf das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg
vom 22. September 2010 (L 9 KR 268/06), in dem ein Anspruch auf Versorgung mit Dronabinol bei einer Versicherten bejaht worden war, bei der durch erheblichen Blutdruck
die Gefahr des Eintritts einer erneuten Gehirnblutung mit Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs bestand. Weiter trug die Klägerin
vor, ihr seien seit der Antragstellung bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Kosten für die Beschaffung der auf Privatrezept
ärztlich verordneten öligen Dronabinol-Tropfen in Höhe von insgesamt 2.201,04 Euro entstanden. Sowohl die vorgerichtlich vorgelegten
ärztlichen Unterlagen als auch die vom Gericht beigezogenen Befundberichte und Krankenunterlagen bestätigten, dass bei ihr
eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliege, die in absehbarer Zeit tödlich verlaufen werde. Allgemeine, dem medizinischen
Standard entsprechende Behandlungen stünden nicht zur Verfügung. Die Klägerin beantragte, die Beklagte zu verurteilen, ihr
die für die Vergangenheit durch die Verordnung von Dronabinol entstandenen Kosten in Höhe von 2.201,04 Euro zu erstatten sowie
sie für die Zukunft auf ärztliche Verordnung im Rahmen ihres Sachleistungsanspruchs mit dem Arzneimittel Dronabinol zu versorgen.
Das Sozialgericht zog Befundberichte und Krankenunterlagen des Dr. med. D. und der Universitätsmedizin Göttingen sowie die
Schwerbehindertenakten zur Klägerin bei. Nach durchgeführter mündlicher Verhandlung wies es die Klage als unbegründet ab.
Die Beklagte habe den geltend gemachten Anspruch aus den Gründen der angefochtenen Bescheide heraus zu Recht abgelehnt. Es
bestehe weder der für die Vergangenheit geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch noch der für die Zukunft geltend gemachte
Versorgungsanspruch. Es mache sich die Ausführungen der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden und in der gutachterlichen
Stellungnahme des MDK zu Eigen. Zu Recht habe die Beklagte auch das ausnahmsweise Vorliegen eines Versorgungsanspruchs unter
Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dessen Beschluss vom 6. Dezember 2005 verneint. Mit der bereits
von der Beklagten in Bezug genommenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung sei dabei mit dem Kriterium einer Krankheit, die
zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist,
eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung
eines so genannten Off-Label-Use formuliert sei. Maßgeblich sei somit, ob die Gefahr des Eintritts eines tödlichen Krankheitsverlaufs
schon in näherer und nicht erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit drohe, also eine notstandsähnliche Situation
im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik bestehe.
Letztlich könne dies dahingestellt bleiben. Zwar spreche einiges für das Vorliegen einer Erkrankung im vorgenannten Sinne.
Jedoch sollten die Dronabinol-Tropfen nicht zur Behandlung der Grunderkrankung der Klägerin, sondern zu den mit dieser verbundenen
Folgen, hier konkret zur Behandlung der Spastiken und der Schmerzzustände eingesetzt werden. Insoweit stünden dann jedoch
unstreitig aber auch andere, medizinischem Standard entsprechende Behandlungsmethoden zur Behandlung dieser Krankheitsfolgen
zur Verfügung. Auch wenn diese nebenwirkungsreicher sein sollten und in höherer Dosierung zur Anwendung gelangen müssten,
mache dies ihre Verabreichung nicht unzumutbar. Dies umso mehr, als nach den vorgelegten und beigezogenen ärztlichen Unterlagen
die streitige Behandlung nicht eine herkömmliche dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung der Klägerin ersetze.
Es sei nicht so, dass es für die Klägerin keine allgemein anerkannte - also nach dem AMG und
SGB V zulässige -, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung gäbe. In der MDK-Stellungnahme sei dies nachvollziehbar
dargelegt worden.
Gegen das ihr am 14. Juni 2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin durch ihre Eltern am 4. Juli 2013 Berufung eingelegt und
ihr erstinstanzliches Vorbringen vertieft. Weiter hat sie eine Stellungnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf,
Zentrum für Kinder und Jugendmedizin vom 20. Februar 2014, unterzeichnet von der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin,
Palliativmedizin, Spezialambulanz für neurodegenerative Krankheiten, G. vorgelegt.
In dieser Stellungnahme heißt es:
"Die o.g. Patientin erfüllt alle gesetzlichen Voraussetzungen zur Leistungspflicht nach Art.2 Abs.2 Satz 1
GG (lebensbegrenzende Krankheit, Ausschöpfen von Behandlungsmethoden, Aussicht auf spürbare positive Einwirkung auf Krankheitsverlauf)
die einen Therapieversuch mit Dronabinol rechtfertigen. Unter der Therapie mit Dronabinol war die Beherrschung der Spastik
mit Vermeidung von Schmerzphasen und eine kontinuierliche Stimmungsstabilisation zufriedenstellend möglich, ebenfalls zeigte
die Therapie einen positiven Einfluss auf die Anregung des Appetits und die Vermeidung einer Sondenanlage sowie eine Stimmungsanhebung,
so dass psychotische Krisen, welche ansonsten im Rahmen dieser Krankheit zu sehen sind, bislang nicht auftraten. Letztendlich
dient somit die (kostengünstige) Therapie mit Dronabinol dazu weitaus kostenintensivere, langandauernde, stationäre Aufenthalte
und Medikationen mit weitaus mehr Nebenwirkungen aufgrund der multipharmakologischen Therapien zu vermeiden. Wir möchten somit
noch einmal darauf hinweisen das es sich im Fall der o.g. Patientin um eine curativ nicht therapierbare fortschreitende neurodegenerative
Krankheit handelt. Die Patientin benötigt eine umfassende palliativtherapeutische Behandlung und erfüllt sowohl alle rechtlichen
Voraussetzungen der Ausnahmeregelungen vom AMG welche auch einen individuellen Heilversuch rechtfertigen. Somit kann in diesem Fall eine Kostenerstattung im Rahmen eines
individuellen Heilversuches durchaus erfolgen. Ein Versuch das Dronabinol aus der Therapie zu entfernen ging mit einer deutlichen
Verschlechterung des Krankheitszustandes einher, so dass ein Verzicht hierauf aktuell nicht möglich ist. Wir bitten somit
nochmals dringlich um Kostenübernahme".
Hierauf hat die Beklagte beim MDK eine Stellungnahme vom 24.März 2014 eingeholt und vorgelegt, welche der Arzt für Allgemeinmedizin,
Sozialmedizin und Apotheker Dr. H. erstellt hat. Dieser führt aus, die juvenile NCL sei selten, aber nicht singulär. Es seien
Studien zur Behandlung dieser Erkrankung - allerdings nicht mit Dronabinol - veröffentlicht, bei denen bis zu 36 NCL-Patienten
einbezogen gewesen seien. Die Behandlungsempfehlung für Dronabinol stütze sich nur auf Kasuistiken (z.B. in den neuroendocrinology
letters 2002, 23 (5/6), 387-390). Selbst kleine vergleichende Kohortenstudien ließen sich bei einer orientierenden Medline
Recherche nicht identifizieren. Dass eine notstandsähnliche Konstellation bei der Klägerin bestehe, gehe aus den Unterlagen
nicht klar hervor. Die beschriebenen neurologischen Ausfälle (Hirnabbau, Blindheit, Krampfanfälle, Immobilität, Sprach-, Schluckstörung,
Angstzustände, Schlafstörungen) seien schwerwiegend. Da es keine kausale, gegen die Erkrankungsursache gerichtete Behandlungsmöglichkeit
gebe, stehe die palliative, symptomorientierte Therapie im Vordergrund. Bei Krampfanfällen verordne man Antiepileptika wie
Valproat, Lamotrigin. Baclofen und Tizandin wirkten antispastisch. Bei starken Schmerzen könnten Opiode indiziert sein. Manchmal
müsse auch die Ernährung über eine PEG Sonde erfolgen. Bei dauerndem Erbrechen stünden im vertragsärztlichen Rahmen neben Dexamethason mehrere 5-HT3-Antagonisten
sowie die Neurokinin-1-Rezeptorantagonisten Aprepitant und Metoclopramid evtl. zur Verfügung. Bei dem Einsatz von Dronabinol-Tropfen
handele es sich hier um eine symptomatische und keine kausal gegen die Erkrankungsursache selbst gerichtete Therapie. Nach
den BSG-Entscheidungen vom 13.Oktober 2010 zur Behandlung der Tumorkachexie mit Dronabinol (B 6 KA 47/09 R und B 6 KA 48/09 R) müsse zur Annahme einer notstandsähnlichen Situation im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom 06. Dezember 2005 feststellbar
sein, dass das Arzneimittel auf die lebensbedrohliche Erkrankung als solche einwirke. Dies sei nach diesen BSG-Urteilen aber nicht der Fall gewesen, denn in den entschiedenen Fällen habe sich der Einsatz von Dronabinol allein gegen
die im Endstadium der Krebserkrankung häufig vorkommende Kachexie (Appetitlosigkeit mit der Folge körperlicher Auszehrung)
gerichtet.
Hierzu hat sich die Fachärztin G. vom Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Kinder und Jugendmedizin auf Ersuchen
des Berufungsgerichts unter dem 07. Mai 2014 wie folgt geäußert:
"1. Es liegt eine seltene Erkrankung vor.
2. Es besteht zwar keine akut lebensbedrohliche aber sehr wohl eine definitiv tödlich verlaufende Grundkrankheit bei welcher
der frühe Tod sich mit absoluter Sicherheit in einem überschaubaren Zeitraum ereignen wird.
3. Das konkrete und realistische Therapieziel bei dieser nicht kausal therapierbaren Krankheit besteht in einer symptomorientierten
palliativen Therapie der Begleitsymptome von Spastik, Schmerzzuständen, Unruhe- und Angstzuständen, Psychose, Schlafstörung,
Epilepsie und Erhalt des Appetits um eine drohende Sondenernährung weitmöglichst hinauszuzögern.
4. Zur Erreichung dieses Therapiezieles stehen im Bereich der anerkannten medizinischen Therapien (welche die Patientin erhält)
Anfikonvulsiva (Lamotrigin, Zonegran, Lorazepam), Antipsychotika und sedierende Medikamente (Lorazepam, Chloralhydrat) sowie
Analgetika (Katadolon, Buscopan als Spasmolytikum bei schmerzhaftem Harnverhalt) zur Verfügung. Eine antispastische Therapie
mit Baclofen und Tizanidin ist bei NCL-Krankheiten individuell oft hilfreich in der Therapie der Spastik, unserer Erfahrung
nach jedoch (als eines der grössten Zentren für NCL-Krankheiten weltweit) bei der CLN3 oft auch frustran. Hier ist immer eine
individuelle Entscheidung zu treffen, um die nötige Multipharmakotherapie möglichst schmal zu halten. Erbrechen tritt im Rahmen
dieser Grundkrankheit in der Regel nicht auf, eine Kachexie entsteht in der Regel erst durch anhaltende Schluckprobleme mit
Verschlucken und daraus folgendem Fehlen einer oralen Ernährbarkeit. In diesem Stadium wird meist eine Ernährung per Sonde
notwendig. Mit einer Tumorkachexie ist dies nicht vergleichbar, insofern sind hier keine Vergleiche zu ziehen. Durch die Gabe
von Dronabinol war es möglich mit einem Einzelmedikament auf mehrere Symptome gleichzeitig positiv einzuwirken, ohne gravierende
Nebenwirkungen in Kauf nehmen zu müssen:
- Einen deutlich positiven Effekt auf Schmerzzustände und Spastische Krisen und somit das Einsparen von Morphinpräparaten
mit deren Folgen von Obstipation, Müdigkeit, Gewöhnung und Abhängigkeitspotential in einem frühen Krankheitsstadium welche
das Risiko für langandauernde stationäre Aufenthalte enorm erhöht.
- Ebenfalls einen deutlich positiven Effekt auf die Stimmung und somit stabilisierend gegenüber Psychotischer Krisen, Einsparung
von Neuroleptika und eine deutliche Erhöhung der Lebensqualität. Dies führte ebenso zu einem geringeren Risiko führ langandauernde
stationäre Aufenthalte.
- Der positive Effekt auf den Erhalt des Appetits und somit bislang das Vermeiden einer Notwendigkeit der Sondenernährung.
5. Naturgemäss kann sich bei dieser seltenen Krankheit eine Behandlungsempfehlung NUR auf Kasuistiken UND die Erfahrungen
von spezialisierten Zentren stützen, da bei diesen seltenen Krankheiten Studien (auch kleinere Kohortenstudien) auch als Mulitcenterstudien
realistisch nicht durchführbar sind.
Im Rahmen eines individuellen Heilversuches können und werden auch bereits bei anderen Patienten die Kosten einer medikamentösen
Therapie mit Dronabinol im Rahmen von Einzelfallentscheidungen von den Kaisen übernommen. Diese Therapie ist kostengünstig
und es ist nicht nachvollziehbar, dass bei einer Patientin welche sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen zur Leistungspflicht
nach Art.2, Abs.2, 1GG erfüllt, diese Kostenerstattung solche Probleme aufwirft. Falls eine Erstattung nicht erfolgt, muss
die Patientin sehr wahrscheinlich in einem mehrwöchentlichen stationären Aufenthalt versucht werden auf Antipyschotika und
ggf. eine dauerhafte Schmerztherapie umzustellen, was aufgrund der erschwerten Einschätzbarkeit bei der Schwere der Grundkrankheit
große Folgeprobleme aufbringen könnte. Dies ist bei einer Palliativpatientin, welche bereits schwerst beeinträchtigt ist,
ethisch schwer zu rechtfertigen, zumal mit der Therapie mit Dronabinol eine nicht nur "auf Indizien gestützte" sondern eine
im klinischen Verlauf durchaus messbare "positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" durchaus gegeben ist..".
Schließlich hat die Klägerin noch einen Entlassungsbericht des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Station 3 Neurologische
Schwerpunktstation vom 30. Juni 2014 über ihre erneute dortige stationäre Behandlung vorgelegt. Darin werden folgende Diagnosen
gestellt:
Aktuelle Diagnose: Verlaufskontrolle im Rahmen der Grundkrankheit zur Evaluation und Optimierung der Palliativtherapie
Dauerdiagnosen:
CLN3-Krankheit (Neuronale Ceroidlipofuszinose) mit juveniler Verlaufsform:
- Visusverlust
- Epilepsie
- Demenz
- Kleinhirnatrophie
- Fortgeschrittene Entwicklungsregression mit vollständiger Pflegebedürftigkeit
- Störung des Schlaf- Wachrhythmus
- Ernährungsschwierigkeiten bei Schluckstörung
- unklare psychomotorische Unruhezustände
- rez. Episoden mit Harnverhalt
- Hypertrophe Cardiomyopathie
solitäre Nierenzyste links
Gallenstein
Die Medikationsliste bei Entlassung führt an dritter Stelle von 10 ständig einzunehmenden Medikamenten Dronabinol 2,5 % auf.
Die Klägerin beantragt nunmehr,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 15. Mai 2013 sowie des Bescheides vom 3. August in
der Fassung des Widerspruchbescheides vom 2. November 2011 zu verurteilen, sie für die Zukunft auf ärztliche Verordnung im
Rahmen ihres Sachleistungsanspruchs mit dem Arzneimittel Dronabinol zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist auf die Stellungnahme des MDK vom 24. März 2014.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte
verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerechte Berufung ist zulässig. Sie hat hinsichtlich des im Berufungsverfahren beschränkten Anspruchsbegehrens
in der Sache auch Erfolg.
Der Klägerin steht ein Anspruch auf zukünftige Versorgung mit Dronabinol entsprechend ärztlicher Verordnung zu. Der dies verneinende
Bescheid der Beklagten vom 03. August 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 02. November 2011 und das Urteil des
Sozialgerichts vom 15. Mai 2013 sind deshalb unter Verpflichtung der Beklagten zur Erbringung der streitigen Leistung abzuändern.
Nach §
31 Abs.
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §
34 SGB V oder durch Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ausgeschlossen sind. Fertigarzneimittel sind grundsätzlich nur dann von der Leistungspflicht der GKV umfasst, wenn ihnen
die nach § 21 Abs. 2 AMG erforderliche Zulassung erteilt worden ist. Dronabinol wird zwar in den USA unter der Bezeichnung Marinol als Fertigarzneimittel
vertrieben und ist dort zur Behandlung der Übelkeit bei Chemotherapie sowie zur Therapie der Kachexie und zur Appetitstimulation
bei Aids-Patienten zugelassen. Diese Zulassung entfaltet aber keinerlei Rechtswirkungen für Deutschland (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R ).
Gegenstand des Rechtsstreits ist indessen die Versorgung der Klägerin mit Dronabinol als Rezeptursubstanz. Eine solche ist
nach § 73 Abs. 3 AMG und unter Beachtung der Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (§ 13 BtMG und Anlage III zu Abs. 1 BtMG) grundsätzlich zulässig (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R -). Leistungsrechtlich dürfen die Krankenkassen aber nach der Rechtsprechung des BSG eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) noch nicht empfohlen worden
ist, eigentlich nicht gewähren, weil sie an das sich aus §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V ergebende Verbot und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R -). Für die hier in Rede stehende symptomorientierte palliative Therapie der NCL-Erkrankung hat der GBA bislang keine Empfehlung
für den Einsatz von Dronabinol erteilt.
Eine Durchbrechung der Vorgaben des §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V ist jedoch unter bestimmten wenn auch engen - Voraussetzungen zulässig, so bei einem sogenannten "Seltenheitsfall" (BSGE
93, 236), beim sogenannten "Systemversagen" (BSG, Urteil vom 07. November 2006, Az. B1 KR 24/06 R) und im Wege der sogenannten grundrechtsorientierten Auslegung leistungseinschränkender
Normen aus dem Bereich der GKV, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 06. Dezember 2005 ( 1 BvR 347/98) grundlegend aufgezeigt hat.
Der so genannte Seltenheitsfall ist gegeben bei einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt und die deshalb im
nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/02 R - = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1). Diese Voraussetzungen liegen bei der NCL nicht vor, wie Dr. H. in seiner für den MDK erstellten
Stellungnahme unter Hinweis auf die Existenz von Fallstudien zur Behandlung der NCL nachvollziehbar dargelegt hat. Ein Systemversagen
ist zu bejahen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist,
dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen
nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist die in §
135 Abs.
1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss dann die Möglichkeit bestehen, das
Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27. März 2007, a.a.O.). Anhaltspunkte dafür, dass sich die antragsberechtigten Stellen (Kassenärztliche Bundesvereinigung,
Kassenärztliche Vereinigung oder Spitzenverband der Krankenkassen) oder der GBA aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen
mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, sind nicht ersichtlich und wurden von der Klägerin auch nicht vorgetragen.
Gleichwohl besteht unter den besonderen individuellen Verhältnissen der Klägerin ein Anspruch auf Versorgung mit dem Rezepturarzneimittel
Dronabinol. Dabei ist von den Grundsätzen auszugehen, welche das Bundesverfassungsgericht zur Frage, welche Folgen sich gemäß
Art.
2 Abs.
1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip aus dem in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Versicherungszwang
ergeben, wenn es um die Versorgung mit einer neuen Behandlungsmethode im Fall einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen
Krankheit geht und für die Behandlung dieser Krankheit eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung
nicht zur Verfügung steht (vgl. BVerfGE 115, 25 <49>), entwickelt hat. Der Gesetzgeber hat die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen mit Wirkung ab dem
1. Januar 2012 in §
2 Abs.
1a SGB V einfachgesetzlich niedergelegt. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard
entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine
nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Im Gesetzgebungsverfahren ist zur Begründung der in Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember
2005 (BVerfGE 115, 25) eingeführten Regelung des §
2 Abs.
1a SGB V angeführt worden, es werde sowohl für die lebensbedrohliche als auch für die regelmäßig tödliche Erkrankung eine notstandsähnliche
Situation gefordert, die nur dann vorliege, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls drohe, dass sich der tödliche
Krankheitsverlauf beziehungsweise der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorganes oder einer herausgehobenen
Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums wahrscheinlich verwirklichen werde (vgl. BTDrucks 17/6906,
S. 53). Diese Begründung liegt auf der Linie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, welches die Auffassung vertreten
hat, eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen sei nur dann gerechtfertigt, wenn eine notstandsähnliche
Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliege, wie sie für einen zur Lebenserhaltung
bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch sei. Dies bedeute, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen
müsse, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer
Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde (vgl. etwa BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 8; Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 15/07 R - SozR 4-2500 § 13 Nr. 16).
Eine notstandsähnliche Situation muss aber auch bei solchen Sachverhalten angenommen werden, die dadurch gekennzeichnet sind,
dass der Versicherte an einer Erkrankung leidet, die als solche regelmäßig tödlich ist, weil sie generell mit einer erheblich
verkürzten Lebenserwartung einhergeht. Davon ist auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 06.
Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25) zur grundrechtsorientierten Auslegung leistungseinschränkender Bestimmungen des Rechts der GKV ausgegangen. Der damalige
Kläger und Verfassungsbeschwerdeführer litt nämlich an einer Duchenne"schen Muskeldystrophie, bei der ein baldiger Todeseintritt
nicht absehbar, aber eine erheblich verkürzte Lebenserwartung gewiss war.
So liegt es auch im Falle der Klägerin. Nach den allgemeinen medizinischen Erkenntnissen zu der bei ihr bestehenden NCL versterben
die daran erkrankten Personen in der Regel spätestens im frühen Erwachsenenalter. Der Krankheitsprozess der 26jährigen Klägerin
ist weit fortgeschritten. Nach den Angaben des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf in dessen Entlassungsbericht vom 30. Juni 2014
haben die Eltern der Klägerin entsprechend den dortigen ärztlichen Empfehlungen bereits eine spezialisierte ambulante Palliativversorgungseinrichtung
eingeschaltet, damit die palliative Betreuung alsbald intensiviert werden kann, wenn eine Ernährbarkeit der Klägerin infolge
des weiteren Voranschreitens des Krankheitsprozesses nicht mehr gewährleistet ist. Für das Vorliegen einer echten Notstandssituation
sprechen weiter die Schwere und die Anzahl der neurologischen Ausfälle in Form von massivem Hirnabbau, Blindheit, Immobilität,
Sprach- und Schluckstörung, Krampfanfällen, Angstzuständen, Schlafstörungen. Dass diese massiven Gesundheitsstörungen, die
zudem einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig i.S.d. §
2 Abs.
1a SGB V vergleichbar sind, bei der Klägerin vorliegen, wird auch in der MDK-Stellungnahme vom 24. März 2014 zugestanden. Angesichts
dessen ist dem Senat die MDK-Beurteilung, eine akut notstandsähnliche Konstellation gehe aus den Krankenunterlagen "nicht
klar" hervor, nicht nachvollziehbar.
Entgegen den der MDK-Beurteilung vom 24. März 2014 zu Grunde liegenden Annahmen zur Rechtslage steht einem Anspruch auf Versorgung
mit Dronabinol nicht entgegen, dass im Falle der Klägerin keine kurative, kausal gegen die Erkrankungsursache gerichtete Therapie,
sondern nur eine palliative, symptomorientierte Therapie möglich ist und auch nur letztere durchgeführt wird. Die MDK-Beurteilung
stützt sich auf zwei Entscheidungen des sechsten Senats des BSG vom 15. Oktober 2010 (B 6 KA 47/09 R und B 6 KA 48/09 R, jeweils veröffentlicht in juris) zu Fällen, in denen es um die Rechtmäßigkeit eines Arzneikostenregresses gegenüber einem
zur vertragsärztlichen Versorgung ermächtigten Chefarzt des onkologischen Schwerpunktes eines Krankhauses ging. Dieser hatte
an Bronchialkrebs oder Karzinomen der Thoraxorgane in fortgeschrittenem Stadium leidenden männlichen Patienten wegen der damit
einhergehenden Tumorkachexien (Auszehrung) das Fertigarzneimittel Megestat - dieses war nach dem AMG nur für die Anwendung gegen die bei Brust- und Gebärmutterkrebs in fortgeschrittenem Stadium eintretende Kachexie zugelassen
- und das Rezepturarzneimittel Dronabinol verordnet. Das BSG hatte den Arzneimittelregress für rechtens angesehen. Hinsichtlich des Fertigarzneimittels Megastet, seien die Voraussetzungen
für die Bejahung eines zulässigen Off-Label-Use nicht gegeben, da es an Phase III-Studien für den hier streitigen Anwendungsbereich
fehle. Das Rezepturarzneimittel Dronabinol habe nicht zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen, da keine positive Empfehlung
des GBA im Sinne des §
135 Abs.
1 SGB V für eine Behandlungsmethode unter Einsatz von Dronabinol vorgelegen habe. In beiden Fallkonstellationen sei kein Raum für
die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht für lebensbedrohliche Erkrankungen abgeschwächten Anforderung einer nicht ganz
fern liegenden Aussicht auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Nach dessen Rechtsprechung könnten im
Falle lebensbedrohlicher und vergleichbar schwerer Erkrankungen - zur Realisierung einer letzten Hoffnung auf Heilung oder
zumindest auf positive Einwirkung auf die Krankheit - Ansprüche auch auf solche Therapien bestehen, die der Bundesausschuss
nicht gemäß §
135 Abs.
1 SGB V anerkannt hat, oder auf die Versorgung mit solchen Arzneimitteln, die nicht - oder jedenfalls nicht für die in Frage stehende
Therapie - nach dem AMG zugelassen sind. Diese Ausnahmen von dem System des AMG bzw. des §
135 Abs.
1 SGB V, das die Eignung und Unbedenklichkeit von Therapiemethoden und Arzneimitteln gewährleisten solle, erstreckten sich nach dem
Ansatz des Bundesverfassungsgerichts aber nur auf solche Therapiemethoden bzw. Arzneimittel, die kausal auf die lebensbedrohliche
Erkrankung als solche einwirkten. Das verordnete Megestat habe indessen nicht kausal auf die Krebserkrankung als solche eingewirkt.
Der Umstand, dass die bekämpfte Kachexie die Folge der lebensbedrohlichen Erkrankung ist, reiche nach dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts
nicht aus, um auch insoweit eine Ausnahme von dem System des AMG anerkennen und den abgeschwächten Maßstab anwenden zu können. Nichts anderes gelte für die Verordnungen von Dronabinol. Für
dieses Rezepturarzneimittel habe weder die dafür grundsätzlich erforderliche Methodenanerkennung gemäß §
135 Abs.
1 SGB V vorgelegen, noch habe es ausreichende Belege für dessen Eignung und Unbedenklichkeit bei Thorax- und Bronchialkrebserkrankungen
gegeben. Wörtlich führt das BSG zur Begründung seiner Nichtanwendung der Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 aus:
"Entgegen der Ansicht des Klägers kommt es hier nicht darauf an, ob durch den Einsatz von Megestat und Dronabinol der Appetit
von Patienten, die er wegen eines Bronchialkarzinoms oder eines Karzinoms der Thoraxorgane behandelte, wiederhergestellt und
ob dadurch eine günstigere Prognose hinsichtlich der diesen noch verbleibenden Lebenszeit erreicht werden konnte. Nach dem
Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33) soll dem Patienten bildlich gesprochen - der Strohhalm der Hoffnung auf Heilung, an
den er sich klammert, nicht wegen Fehlens wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verweigert werden. Hoffnungen in diesem Sinne
kann ein Patient aber nur mit Behandlungsmethoden verbinden, die darauf gerichtet sind, auf seine mutmaßlich tödlich verlaufende
Grunderkrankung als solche einzuwirken. Für Behandlungsverfahren, die dies nach ihrem eigenen methodischen Ansatz nicht leisten,
gelten die reduzierten Wirksamkeitsanforderungen der Rechtsprechung des BVerfG von vornherein nicht. Soweit mit dem in §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V genannten Behandlungsziel "Krankheitsbeschwerden zu lindern" jede Verbesserung der Lebensqualität eines schwerkranken Patienten
verbunden wird, ist dieses Ziel nicht von der Ausweitung der Leistungsansprüche der Versicherten gemäß dem Beschluss des BVerfG
vom 6.12.2005 erfasst. Allein die Hoffnung einer - unter Umständen ganz geringen - Chance auf Heilung der Krankheit oder auf
nachhaltige, nicht nur wenige Tage oder Wochen umfassende, Lebensverlängerung rechtfertigt es, die Voraussetzungen an den
Nachweis der Wirksamkeit von Behandlungsmethoden so weit zu reduzieren, wie das in dem Beschluss des BVerfG erfolgt ist. Dem
wird die Ansicht des Klägers nicht gerecht, jede Verbesserung des Appetits des Patienten könne dessen subjektive Lebensqualität
verbessern und so mittelbar - ungeachtet des dadurch nicht beeinflussten Wachstums des Tumors - eine (geringfügige) Lebensverlängerung
bewirken. Nicht jede Verbesserung der Lebensqualität - zumal wenn diese in der Gesamtschau mit den möglichen vielfältigen
und schwerwiegenden Nebenwirkungen zweifelhaft erscheint -, sondern nur die Erfüllung der Hoffnung des Patienten auf eine
rettende Behandlung in einer aussichtslosen gesundheitlichen Situation indiziert die vom BVerfG beschriebene notstandsähnliche
Lage, in der (nahezu) jeder Behandlungsansatz auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung möglich sein soll.."( BSG Urteil vom 13. Oktober 2010, B 6 KA 48/09 R, juris Rn 34; gleichlautend BSG Urteil vom 13. Oktober 2010, B 6 KA 47/09 R, juris Rn 30).
Diese sehr restriktive Definition einer notstandsähnlichen Situation ist vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Arzneimittelkostenregresses
zu sehen. Dem sechsten Senat des BSG ist erkennbar daran gelegen, die Risiken für Vertragsärzte, einem Arzneimittelregress ausgesetzt zu werden, hoch anzusetzen.
Darauf deuten folgende Ausführungen des BSG in seinen beiden Urteilen hin: "Bei allem ist schließlich darauf hinzuweisen, dass der Kläger das Risiko eines Regresses,
wie er ihm gegenüber festgesetzt worden ist, hätte vermeiden können: Er hätte - worauf der Senat in ständiger Rechtsprechung
hinweist -, für den Versicherten ein Privatrezept ausstellen und es diesem überlassen können, sich bei seiner KK (Krankenkasse)
um Erstattung der Kosten zu bemühen. Ermöglicht der Vertragsarzt indessen nicht auf diese Weise eine Vorab-Prüfung durch die
KK, sondern stellt er ohne vorherige Rückfrage bei dieser eine vertragsärztliche Verordnung aus und löst der Patient diese
in der Apotheke ein, so sind damit die Arzneikosten angefallen und die KK kann nur noch im Regressweg geltend machen, ihre
Leistungspflicht habe nicht bestanden. Verhindert der Vertragsarzt durch diesen Weg der vertragsärztlichen Verordnung bei
einem medizinisch umstrittenen Arzneieinsatz ohne dementsprechende Zulassung eine Vorab-Prüfung durch die KK und übernimmt
er damit das Risiko, dass später die Leistungspflicht der KK verneint wird, so kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet
werden..." (B 6 KA 47/09 R, juris Rn 33, B 6 KA 48/09 R, juris Rn 37).
Für Fallkonstellationen außerhalb des speziellen Bereichs des Arzneimittelkostenregresses ist diese Rechtsprechung dagegen
nicht in vollem Umfang anwendbar. Es ist weder mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch mit der daran anknüpfenden
Regelung in §
2 Abs.
1a SGB V zu vereinbaren, eine Notstandssituation, welche zu einer grundrechtsorientierten Auslegung leistungsbegrenzender Vorschriften
des Krankenversicherungsrechts verpflichtet, nur dann zu bejahen, wenn es um Behandlungsmaßnahmen geht, welche auf eine unmittelbare
Einwirkung auf die Grunderkrankung als solche abzielen. Die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember
2005 bezog sich auf eine Erkrankung - die Duchenn"sche Muskelatrophie - für die nach medizinischer Erkenntnis keine Behandlungsmethoden
zur Verfügung standen, welche eine unmittelbare positive Einwirkung auf die Grunderkrankung ermöglichten. Dennoch hat das
Bundesverfassungsgericht dem Versicherten einen Anspruch auf solche Behandlungsmaßnahmen zugesprochen, bei denen eine nicht
ganz entfernte Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf - unabhängig von den konkreten Wirkungszusammenhängen
- bestehe (vgl. Penner/Bohmeier, Off-Label-Use in der ambulanten Palliativmedizin: Keine Würde auf Rezept?, GesR 2011, 525,
533).
Auch in seinen Folgeentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder als tragenden Grund seiner Rechtsprechung
hervorgehoben, Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung
und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall seien die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit
aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG. Zwar folge aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung
bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung
habe sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter
des Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG zu stellen. Insofern könnten diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten
Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Dies gelte insbesondere in Fällen der
Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stelle einen Höchstwert innerhalb
der grundgesetzlichen Ordnung dar. Behördliche und gerichtliche Verfahren müssten dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf
Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen
Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2014, 1 BvR 2415/13 m.w.N., juris Rn. 11). Wenn aber das Recht auf Leben maßgeblich ist, ist es ohne Belang, mit welchen medizinischen Maßnahmen
es geschützt wird. Dem entspricht ein primär erfolgsorientierter Ansatz (vgl. Penner/Bohmaier, aaO S. 533). Daran hat auch
der Gesetzgeber bei der Formulierung des §
2 Abs.
1a SGB V angeknüpft.
Hierbei darf der Wert einer Leidensminderung durch medizinische Maßnahmen der palliativ symptomorientierten Therapie nicht
gering bewertet und als vernachlässigbar angesehen werden. Gerade für Menschen, die wegen der Schwere ihrer Grunderkrankung
eine erheblich verkürzte Lebenserwartung haben, ist es von maßgeblicher Bedeutung, die stark verkürzte Lebenszeit möglichst
"leidensarm" zu verbringen. Dem hat auch der Gesetzgeber mit der Kodifizierung eines Anspruchs auf spezialisierte ambulante
Palliativversorgung in §
37b Abs.
1 SGB V Rechnung getragen. Nach Satz 3 dieser Norm umfasst die spezialisierte ambulante Palliativversorgung insbesondere Leistungen
zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle und zielt darauf ab, die Betreuung der Versicherten in der vertrauten Umgebung des
häuslichen oder familiären Bereichs zu ermöglichen. Anspruch auf diese Leistungen haben Versicherte mit einer nicht heilbaren,
fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige
Versorgung benötigen (§
37b Abs.
1 Satz 1
SGB V).
Schließlich ist es bei komplexen und schweren Krankheitsbildern sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, zu differenzieren
und abzuschichten, welche Therapie/Verordnung der Behandlung der Grunderkrankung (Medikation dann grundsätzlich verordnungsfähig)
und welche der palliativen Behandlung von Begleitsymptomen (Medikation dann grundsätzlich nicht verordnungsfähig) dient. Erforderlich
ist allerdings zumindest ein mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Therapiegrund/Verordnungsgrund und der Haupterkrankung
sowie dass der Therapiegrund/Verordnungsgrund einen bedeutenden Faktor im Gesamtrisikoprofil darstellt. Auf den letzten Gesichtspunkt
hat das Bundesverfassungsgericht bei der Frage der Zulässigkeit der "Apheresebehandlung" (BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.
Februar 2007, 1 BvR 3101/06) abgestellt. Für die Verordnungsfähigkeit eines nicht zugelassenen Medikaments kann nichts anderes gelten (vgl. Sozialgericht
München, Urteil vom 12. Februar 2014, S 38 KA 188/13 juris Rn. 32, zu einem Arzneikostenregress wegen der Verordnung von Dronabinol).
Nach den nachvollziehbaren Angaben des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in dessen Stellungnahmen und dem Entlassungsbericht
vom 30. Juni 2014 werden mit der Gabe von Dronabinol die Therapieziele einer symptomorientierten palliativen Behandlung der
Begleitsymptome von Spastik, Schmerzzuständen, Unruhe- und Angstzuständen, Psychose, Schlafstörung, Epilepsie und Erhalt des
Appetits zwecks Hinauszögerung einer sonst notwendigen Sondenernährung verfolgt. Damit ist ein innerer Zusammenhang mit Behandlungsmaßnahmen
bezüglich der NCL gegeben.
Aus dem Entlassungsbericht und der dort aufgeführten Medikation bei Entlassung ist zu entnehmen, dass die weitere Medikation
auf Antiepileptika und ein Mittel gegen Unruhezustände zur Nacht reduziert werden konnte. Auf die vom MDK als Alternativen
zu Dronabinol angeführten antispastisch und schmerzlindernd wirkenden Mittel konnte in der Dauermedikation verzichtet werden.
Das vom MDK ebenfalls zum Dauereinsatz als indiziert angesehene Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine zur Behandlung
von Angst- und Panikstörungen konnte auf eine Anwendung bei speziellem Bedarf reduziert werden. Dabei steht Dronabinol an
dritter Stelle der Medikamentenliste, was ausweist, dass ihm von den behandelnden Ärzten des Universitätsklinikums ein großer
Stellenwert eingeräumt wird. Auch sprechen die ausführlichen Angaben in dem Entlassungsbericht vom 30. Juni 2014 zur medikamentösen
Behandlung der Klägerin für die Richtigkeit der Ausführungen der Fachärztin G. in deren Stellungnahme vom 7. Mai 2014. Darin
heißt es, mittels der Gabe von Dronabinol sei es im Falle der Klägerin möglich, auf mehrere Symptome positiv einzuwirken.
Dadurch könne in erheblichem Maße auf eine zusätzliche multipharmakologische Therapie, die weitere Nebenwirkungen verursachen
würde, verzichtet werden. Somit kann von einem erheblichen Zusatznutzen der Verabreichung von Dronabinol im Rahmen der bei
der Klägerin erforderlichen symptomorientierten palliativen Therapie ausgegangen werden.
Für die Einsatzfähigkeit von Dronabinol reicht es im Anwendungsbereich des §
2 Abs.1a
SGB V aus, dass eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine wenigstens spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf
vorhanden ist. Dass diese Voraussetzung im Falle der Klägerin jedenfalls im Falle zukünftiger ärztlicher Verordnungen erfüllt
sind, ergibt sich zur Überzeugung des Senats schon daraus, dass zwei Universitätskliniken, die Zentren für die Behandlung
von NCL sind, die Gabe von Dronabinol bei dem Krankheitsbild der Klägerin unter Angabe von ausführlichen und nachvollziehbaren
Gesichtspunkten befürwortet haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision entsprechend §
160 Abs.
2 SGG sind nicht gegeben. Insbesondere weicht der Senat nicht von Rechtssätzen ab, welche das BSG zur Beurteilung eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Rezepturarzneimittel aufgestellt hat. Die Frage, ob eine lebensbedrohende
Erkrankung vorliegt, ist hier maßgeblich von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles abhängig; ihre Beantwortung kann
demnach nicht zur Zulassung der Revision führen.