Leistungen nach dem AsylbLG
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner in Aufnahmeeinrichtungen,
Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbaren Unterkünften
Gründe
I.
Der 1999 geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger von Guinea. Er ist im Besitz einer Duldung und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft
in A-Stadt. Vom Antragsgegner erhält er Leistungen nach §
2 Abs.
1 Asylbewerberleistungsgesetz.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller rückwirkend laufende Leistungen gemäß §
2 Abs.
1 Asylbewerberleistungsgesetz ab dem 1. Januar 2021 in Höhe von monatlich 343,98 €, wobei der Antragsgegner den Regelbedarf nach der Bedarfsstufe 2 (von
401,- € monatlich) zu Grunde legte. Hiergegen erhob seine Prozessbevollmächtigte am 25. Februar 2021 Widerspruch.
Ebenfalls am 25. Februar 2021 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (SG) A-Stadt gestellt. Er sei alleinstehend, lebe in einer Gemeinschaftsunterkunft und wirtschafte alleine. Er habe Anspruch
auf Leistungen in Höhe des Regelbedarfs für Alleinstehende (Bedarfsstufe 1) in Höhe von 446,- € monatlich. Die Regelung des
§
2 Abs.
1 Satz 4 Nr.
1 Asylbewerberleistungsgesetz sei verfassungswidrig. Sie verletze das durch Art.
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art.
20 Abs.
1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
(Art.
3 Abs.
1 GG). Der Gesetzgeber habe den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen. Er habe keinerlei Ermittlungen
hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten gemäß §
2 Abs.
1 Satz 4 Nr.
1 Asylbewerberleistungsgesetz angestellt. Der Bedarf von Leistungsberechtigten weiche nicht signifikant von dem Bedarf anderer alleinstehender erwachsener
Leistungsberechtigter ab. Der Gesetzgeber gehe einfach davon aus, dass bei einer Gemeinschaftsunterkunftsunterbringung sich
für die Bewohner solcher Unterkünfte Einspareffekte ergäben, die denjenigen von Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien.
Der Grund für die Leistungsreduzierung solle nach der Gesetzesbegründung eine behauptete „Solidarisierung in der Gemeinschaftsunterbringung“
und sich daraus ergebende Synergie – und Einspareffekte sein. Hiervon könne nicht ausgegangen werden. Tatsächlich profitierten
Personen, die gemeinsam untergebracht seien, nicht von Einspareffekten, die mit denen von Paarhaushalten vergleichbar seien,
weil sie nicht gemeinschaftlich wirtschafteten. Von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammenlebten, könne
erwartet werden, dass sie „aus einem Topf“ wirtschafteten. Empirische Grundlagen hätten eine damit einhergehende Einsparung
belegen können. Hingegen sei ein mit der Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften einhergehendes Einsparungspotenzial empirisch
nicht belegt und auch nicht plausibel. Die Annahme, dass bei Fremden, deren einzige Verbindung es sei, in der Anonymität von
Gemeinschaftsunterkünften leben zu müssen, durch eine vermeintliche „Schicksalsgemeinschaft“ eine Solidarisierung erfolge,
aus der sich für die Bewohner finanzielle Synergie-Effekte ergäben, werde der Realität in Flüchtlingsunterkünften nicht gerecht.
Voraussetzung für ein gemeinsames Wirtschaften sei ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen. Ob sich dies zwischen Fremden
unter diesen Rahmenbedingungen entwickeln könne, sei mehr als zweifelhaft. Der Gesetzgeber könne damit Leistungsberechtigte
nicht auf Einsparmöglichkeiten verweisen, die diese nicht realisieren könnten. Die Begründung der neuen Regelbedarfsstufe
sei wohl eher in den finanziellen Auswirkungen des Gesetzes zu finden. Die neue Regelbedarfsstufe solle offenbar die 3 Jahre
lang unterlassene Anpassung der Grundleistungen finanzieren. Hinzu komme, dass unklar sei, welche Leistungen die anderen Mitbewohner
des Antragstellers tatsächlich bezögen. Es sei nicht auszuschließen, dass sie abgesenkte Leistungen nach §
3 Asylbewerberleistungsgesetz bezögen oder Anspruchseinschränkungen nach §
1a Asylbewerberleistungsgesetz hinnehmen müssten.
Es werde auf die Entscheidungen des Landessozialgerichts (LSG) Mecklenburg–Vorpommern vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER,
vom 21. Januar 2021 – L 9 AY 27/20 B ER – sowie vom 21. Januar 2021 – L 9 AY 32/20 B ER – hingewiesen.
Der Antragsteller hat schriftsätzlich beantragt,
Antragsgegner hat schriftsätzlich beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Er habe dem Antragsteller letztmals mit Bescheid vom 18. Februar 2021 Leistungen gemäß §
2 Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe der Regelbedarfstufe 2 (401,- €) abzüglich der in der Gemeinschaftsunterkunft gestellten Sachleistungen (57,02 €)
in Höhe von monatlich 343,98 € gewährt. Der Antragsteller habe damit die ihm gesetzlich zustehenden Leistungen erhalten. Einen
Anordnungsanspruch habe der Antragsteller damit nicht glaubhaft gemacht. Im Übrigen weise er auf den Beschluss des LSG Niedersachsen–Bremen
vom 9. Juli 2020 – L 8 AY 52/20 B ER hin – sowie auf den Beschluss des LSG Baden–Württemberg vom 13. Februar 2020 – L 7 AY
4273/19 ER-B –. Weiterhin verweise er auf den Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2020 – 1 BvR 1106/20 –. Diese Entscheidung interpretiere der Antragsgegner als Appell an die Fachgerichte, die Verfassungsmäßigkeit der Regelung
des §
2 Abs.
1 Satz 4
Asylbewerberleistungsgesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen und nicht die zulässigen Grenzen einer richterlichen Rechtsfortbildung
zu überschreiten.
Auch liege ein Anordnungsgrund mangels Dringlichkeit nicht vor. Dem Antragsteller sei ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens
zumutbar, da vorliegend die Leistungsdifferenz nur knapp 10 % ausmache.
Mit Beschluss vom 5. März 2021 hat das SG A-Stadt den Eilantrag abgelehnt. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, es mangele an einem Anordnungsanspruch. Es folge nicht der Rechtsauffassung des 9. Senats des
LSG Mecklenburg-Vorpommern, sondern schließe sich der Rechtsprechung des LSG Niedersachsen–Bremen (Beschluss vom 9. Juli 2020
– L 8 AY 52/20 B ER) an. Soweit das LSG Mecklenburg-Vorpommern bei seiner vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung von
§
3a Asylbewerberleistungsgesetz bzw. §
2 Abs.
1 Satz 4 Nummer
1 Asylbewerberleistungsgesetz als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmale die tatsächliche und von der Behörde nachzuweisende bzw. darzulegende gemeinschaftliche
Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen Mitbewohnern in der Gemeinschaftsunterkunft verlange, würden hierdurch
die zulässigen Grenzen einer richterlichen Rechtsfortbildung überschritten.
Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller am 10. März 2021 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er sich auf die bereits
erstinstanzlich benannten Beschlüsse des LSG Mecklenburg–Vorpommern bezogen. Vorliegend habe der Antragsgegner keine konkreten
Anhaltspunkte dafür benannt, dass der Antragsteller tatsächlich gemeinsam mit anderen Mitbewohnern der Gemeinschaftsunterkunft
wirtschafte. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich aus der grundrechtsrelevanten Kürzung der Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen
Existenzminimums.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
der Beschluss des Sozialgerichts A-Stadt wird aufgehoben und der Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen
nach §
2 Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 100 % des Regelsatzes ab dem 25. Februar 2021 zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält den Beschluss des SG A-Stadt für zutreffend und hat sich vollumfänglich auf seine erstinstanzlichen Ausführungen bezogen.
II .
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere nicht gemäß §
172 Abs.
3 Nummer
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ausgeschlossen, weil in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte (§
144 Abs.
1 SGG). Zwar ist nur eine monatliche Differenz in Höhe von 45,- € streitig. Der Antragsgegner hat jedoch mit dem Bescheid vom 18.
Februar 2021 einen Dauerverwaltungsakt auf unbestimmte Zeit erlassen (§
144 Abs.
1 Satz 2
SGG).
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil das SG A-Stadt den Eilantrag des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt hat. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch
als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (vergl. §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 ZPO).
Der Antragsteller ist nach §
2 Asylbewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigter und hat – wie vom Senat bereits mehrfach in Eilverfahren zu §
3 Asylbewerberleistungsgesetz (vergl. den Beschluss des Senats vom 21. Januar 2021 – L 9 AY 27/20 B ER –, veröffentlicht in juris) aber auch zu §
2 Asylbewerberleistungsgesetz (vergl. den Beschluss des Senats vom 16. Februar 2021 – L 9 AY 3/21 B ER –) entschieden – auch als volljähriger Alleinstehender,
der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, Anspruch auf Leistungen nach der Bedarfsstufe 1. Insoweit verweist der Senat auf
die Ausführungen in seinen Beschlüssen vom 23. Juli 2020 – L 9 AY 3/20 B ER – sowie vom 24. November 2020 – L 9 AY 21/19 B
ER – sowie insbesondere in seinem Beschluss vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER –, veröffentlicht in juris.
Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass die Vorschrift des §
3a Abs.
1 Nr.
2b Asylbewerberleistungsgesetz bzw. hier die Vorschrift des §
2 Abs.
1 Satz 4 Nr.
1 Asylbewerberleistungsgesetz nur aufgrund verfassungskonformer Auslegung als verfassungsgemäß angesehen werden kann, wenn die Bedarfsstufe 2 als ungeschriebenes
Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen
in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzt, wobei die objektive Beweislast (im Eilverfahren die Darlegungslast) beim
Leistungsträger (hier: dem Antragsgegner) liegt (vergl. Beschluss des Senats am 23. Juli 2020 – L 9 AY 3/20 B ER –).
Für ein gemeinsames Wirtschaften des Antragstellers mit anderen in der Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Personen hat
der Antragsgegner nichts vorgetragen und ist auch nach Aktenlage nichts ersichtlich.
Der Hinweis des Sozialgerichts auf den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 9. Juli 2020 – L 8 AY 52/20 B ER – veranlasst
den Senat nicht, von seiner bisherigen Rechtsprechung – jedenfalls in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – abzuweichen,
zumal auch das LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Beschluss Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen
Normen deutlich macht. So heißt es unter Rn. 31 (zitiert nach juris): „Ob der Gesetzgeber bei der Bemessung der lebensunterhaltssichernden
Geldleistungen nach §
3a Abs.
1 Nr.
2b, Abs.
2 Nr.
2b Asylbewerberleistungsgesetz die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums
(Art.
1 Abs.
1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs.
1 GG) richtig erfasst und auch im Übrigen die Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an ein inhaltlich transparentes
und sachgerechtes Verfahren folgerichtig ausgerichtet nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht,
beachtet hat, ist [...] in besonderer Weise zweifelhaft.“
Die Auslegung der einschlägigen Vorschriften durch den Senat überschreitet auch nicht die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung.
Zu den anerkannten Auslegungsmethoden gehört neben der Auslegung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und
Sinn und Zweck der Gesetzesregelung auch eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung. Zwar findet diese in der Tat ihre
Grenze dort, wo sie mit Wortlaut und klar erkennbarem Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde. Wenn allerdings von
mehreren möglichen Deutungen eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Dabei gehört auch eine
sog. teleologische Reduktion von Vorschriften entgegen ihrem Wortlaut zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden
Auslegungsgrundsätzen (vergl. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 35, 263, 279 f.; 88, 14, 166 f.). Der Senat hat in seinen Entscheidungen dargelegt, dass er die Vorschrift im Sinne einer teleologischen
Reduktion für auslegungsfähig hält und damit die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Da damit ein verfassungswidriges
Ergebnis vermeidbar ist, ist diese Auslegung geboten und führt auch dazu, dass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht
vermieden werden kann (vergl. BVerfGE 86, 71, 77). Die Prüfung möglicher verfassungskonformer Auslegung und Vermeidung von Vorlagen des Bundesverfassungsgerichts ist
gerade primäre Aufgabe der Instanzgerichte. Dieser Verantwortung gilt es auch in einem Eilverfahren gerecht zu werden und
nicht erst in einem Hauptsacheverfahren, da ansonsten kein effektiver vorläufiger Rechtsschutz garantiert ist. Der verfassungsrechtliche
Justizgewährungsanspruch fordert vom Richter, den Rechtsstreit so zu behandeln, dass eine Verzögerung durch Anrufen des Bundesverfassungsgerichts
nach Möglichkeit vermieden wird (vergl. BVerfGE 78,165, 178).
Der Senat ist auch der Auffassung, dass vorliegend ein Anordnungsgrund besteht. Die Bejahung des Anordnungsgrundes beruht
auf der Erwägung, dass die Anforderungen an den Anordnungsgrund bei dieser existenzsichernden Leistung nicht übertrieben hoch
angesetzt werden dürfen. Die Anforderungen an den Anordnungsgrund sind hier gering zu bemessen, da der Senat den Anordnungsanspruch
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als gegeben ansieht. Der Senat teilt nicht die vom Antragsgegner vertretene Rechtsauffassung,
der Unterhalt sei durch die niedrigeren laufenden Leistungen gesichert und einem Hauptsacheverfahren dürfe nicht vorgegriffen
werden. Dies würde angesichts der üblichen sozialgerichtlichen Verfahrenslaufzeiten eine Verweigerung effektiven vorläufigen
Rechtsschutzes bedeuten. Die hier streitige monatliche Differenz von 45,- €, die mehr als 10 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs
ausmacht, genügt jedenfalls, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen.
Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich vorliegend um ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren handelt, hat die
abschließende Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Vorschriften dem Hauptsacheverfahren vorbehalten zu bleiben.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG anfechtbar.