Abzweigung
Unterhaltsansprüche
Düsseldorfer Tabelle
Anwendbarkeit auch bei SGB II-Beziehern
Kein geringerer Selbstbehalt
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer sog. Abzweigung nach §
48 Abs.
1 Erstes Buch des Sozialgesetzbuches (
SGB I) von Leistungen, die der Kläger nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) erhält.
Mit Bescheid vom 06.02.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 836,90 Euro für die Zeit vom 01.02.2007 bis zum 30.06.2007. In diesen Leistungen war ein befristeter
Zuschlag in Höhe von 160,00 Euro nach § 24 Abs. 3 Nr. 1 SGB II a. F. (= Fassung vom 20.07 2006, BGBl. I S. 2954) enthalten. Seinem im April 1994 geborenen Sohn leistete der Kläger Unterhalt in Höhe von 170,00 EUR monatlich.
Am 01.03.2007 zeigte die Landeshauptstadt D. an, dass sie Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz für die im September 2006 geborene Tochter des Klägers erbringe. Die Stadt beantragte daher bei dem Beklagten, SGB II-Leistungen des Klägers nach §
48 Abs.
1 S. 4
SGB I an sie auszuzahlen. Der Beklagte gab diesem Antrag am 16.05.2007 statt und erstellte am gleichen Tag einen Änderungsbescheid
zulasten des Klägers. Danach wurden für den Bewilligungszeitraum vom 01.04.2007 bis zum 30.06.2007 Leistungen des Klägers
in Höhe von 63,00 Euro monatlich an die Landeshauptstadt D. ausgezahlt.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 25.05.2007 Widerspruch ein, der von dem Beklagten mit Widerspruchsbescheid
vom 15.08.2007 zurückgewiesen wurde.
Gegen diese Bescheide hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13.11.2007, eingegangen am 16.11.2007, Klage beim Sozialgericht Hannover
erhoben. Das Gericht hat mit Urteil vom 24.04.2009 den Bescheid des Beklagten vom 16.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 15.08.2007 aufgehoben, soweit damit mehr als 26,16 Euro monatlich zugunsten der Landeshauptstadt D. abgezweigt werden.
Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass eine Unterhaltspflicht nach Bürgerlichem Recht nur im Rahmen der Leistungsfähigkeit
des Unterhaltspflichtigen bestehe. Diese sei nach familienrechtlichen Grundsätzen nach der Düsseldorfer Tabelle zu bestimmen,
die einen Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen von 770,00 Euro vorsehe. Da das Einkommen des Klägers (SGB II Leistungen in Höhe von 836,90 Euro) diesen Selbstbehalt um nur 66,90 Euro übersteige, könne nur dieser Betrag für eine Abzweigung
verwendet werden. Dieser Betrag sei anteilig auf die Unterhaltsansprüche beider Kinder nach der Düsseldorfer Tabelle zu verteilen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 31.03.2009, eingegangen am 06.04.2009, Beschwerde wegen Nichtzulassung
der Berufung beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen eingelegt. Das Landessozialgericht hat hierauf die Berufung mit
Beschluss vom 12.08.2007 zu Aktenzeichen L 9 AS 405/09 NZB zugelassen.
Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Düsseldorfer Tabelle vorliegend nicht anwendbar sei. Vielmehr sei im Rahmen des SGB II der Selbstbehalt durch die Höhe der Regelleistungen definiert, die das notwendige Existenzminimum gesetzlich festlegen würden.
Hierzu gehöre jedoch nicht der befristete Zuschlag nach § 24 III Nr. 1 SGB II a. F., der daher im vollen Umfang nach §
48 SGB I abgezweigt werden dürfe. Dies entspreche der Regelung des §
850 d Zivilprozessordnung (
ZPO). Diese Regelung werde vom Bundessozialgericht in Fällen, in denen ein Unterhaltstitel vorliege, angewendet. Dies müsse auch
dann gelten, wenn kein Unterhaltstitel vorliege.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 22.02.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 22.02.2009 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter einverstanden erklärt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand
der Verhandlung und Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 24.04.2009 ist rechtmäßig. Der Bescheid des Beklagten vom 16.05.2007 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2007 ist rechtswidrig, soweit damit mehr als 26,16 Euro monatlich zugunsten der Landeshauptstadt
D. abgezweigt werden, und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Beklagte hat mit der Abzweigung in Höhe von 63,00 Euro monatlich die gesetzlichen Grenzen des §
48 Abs.
1 SGB I überschritten.
Eine Abzweigung nach §
48 Abs.
1 SGB I setzt die Verletzung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht voraus. Die Abzweigung kann daher nicht weiter gehen als die konkrete
Unterhaltsverpflichtung. Der Kläger hat vorliegend seine Unterhaltspflicht nach §
1601 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) verletzt. Er hat seiner Tochter keinen Unterhalt gewährt, obwohl sie eine Verwandte in gerader Linie ist, die außerstande
war, sich selbst zu unterhalten (§
1602 BGB), sondern auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz angewiesen war. Der Unterhaltsanspruch besteht aber nach §
1603 Abs.
1 BGB nur, wenn (und soweit) der Unterhaltspflichtige bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen nicht außerstande ist,
ohne Gefährdung seines (eigenen) angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren.
Dieser gesetzliche Rahmen wird in der zivilrechtlichen Praxis durch die Vorgaben der Düsseldorfer Tabelle ausgefüllt. Hieraus
bestimmt sich der Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht, an die §
48 Abs.
1 SGB I anknüpft. Eine abweichende Bestimmung der Unterhaltspflicht nach den Leistungen des SGB II ist im Bürgerlichen Recht nicht vorgesehen und vom Gesetzgeber auch nicht gewollt oder anerkannt worden. Eine Abweichung
von den Vorgaben für die Höhe der Unterhaltsansprüche nach Altersstufen und den Selbstbehalten der Düsseldorfer Tabelle ausschließlich
für Leistungsbezieher nach dem SGB II ist rechtlich nicht zu rechtfertigen. Die Anwendung der Düsseldorfer Tabelle sichert die Einheitlichkeit und Vorhersehbarkeit
der Rechtsanwendung, die Gleichbehandlung der Unterhaltsberechtigten und aber auch der Unterhaltsverpflichteten. Eine Abweichung
kann daher nur in besonderen Fällen erfolgen, wenn die pauschalen Tabellenwerte zu keinen sachgerechten Ergebnissen führen.
Dies ist aber in Bezug auf Leistungsberechtigte nach dem SGB II nicht der Fall. Vielmehr würde eine abweichende und niedrigere Bestimmung der Selbstbehalte zulasten der nach dem durch das
SGB II gesicherten Leistungsberechtigten im Rahmen der Sicherung des Existenzminimums und des notwendigen Selbstbehaltes erst zu
unsachgemäßen Ergebnissen und zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung führen. Diese würde dazu führen,
dass ausgerechnet besonders leistungsschwache und schutzbedürftige Personen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, höhere
Unterhaltsleistungen erbringen müssten und ihnen ein geringerer Selbstbehalt verbliebe. Dies würde dazu führen, dass Unterhaltsberechtigte
von Leistungsberechtigten nach dem SGB II einen höheren Unterhalt erhalten würden als Unterhaltsberechtigte von Nichthilfebedürftigen. Derjenige, der schon weniger
hat, müsste in diesem Fall auch noch mehr leisten. Sozialleistungsempfänger würden damit unsachgemäß benachteiligt.
Das durch das Sozialrecht zu gewährleistende Existenzminimum kann außerhalb eines Vollstreckungsverfahrens ohne Unterhaltstitel
nicht über §
850 d ZPO ausgehebelt werden. Insbesondere kann nicht das unterhaltsrechtliche Erkenntnisverfahren mit der Prüfung des Unterhaltsbedarfs
und der Leistungsfähigkeit und der Berücksichtigung des Selbstbehaltes des Verpflichteten mit den maßgeblichen Vorschriften
des Vollstreckungsrechts vermengt werden. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 17.09.2009, Aktenzeichen B 14 AS 34/07 R (zitiert nach Juris) ist die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen nur dann nach den Regelungen über den Pfändungsschutz
zu bestimmen, wenn ein vollstreckbarer Unterhaltstitel vorliegt (Leitsatz, Rz. 17 f.). Eine Anwendung der Düsseldorfer Tabelle
hat das BSG in dem von ihm entschiedenen Verfahren nur deshalb verneint, weil bei Vorliegen eines vollstreckbaren Titels keine materiell-rechtliche
Prüfung mehr stattzufinden hat, womit nicht mehr der Maßstab des Erkenntnisverfahrens - Anwendung des Düsseldorfer Tabelle
-, sondern das Vollstreckungsverfahren - Vollstreckungsschutz nach §
850 d ZPO - einschlägig ist.
In dem vorliegenden Verfahren liegt noch kein vollstreckbarer Unterhalttitel vor. Hier hat ein Erkenntnisverfahren noch gar
nicht stattgefunden. Insoweit können die vollstreckungsrechtlichen Regelungen über Pfändungsschutz, die das Vorliegen eines
Titels voraussetzen, nicht angewendet werden. Die Heranziehung des §
850 d ZPO ist insoweit unstatthaft und systemwidrig. Diese Regelung ist erst dann anwendbar, wenn die Leistungsfähigkeit im Erkenntnisverfahren
- nach den Maßstäben der Düsseldorfer Tabelle - geprüft und festgestellt ist.
Zum Zweiten stellt das BSG zwar darauf ab, dass es für den Unterhaltsberechtigten keinen Unterschied machen kann, ob er aus einem vollstreckbaren Titel
oder nach §
48 SGB I vorgeht (aaO.). Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Unterhaltsberechtigte einen vollstreckbaren Titel innehat, aus dem er
vollstrecken kann. Liegt indes kein Unterhaltstitel vor, ist der Unterhaltsanspruch dem Grunde und der Höhe nach materiell-rechtlich
zu prüfen und hierbei der Selbstbehalt des Verpflichteten nach der Düsseldorfer Tabelle zu berücksichtigen mit der Folge,
dass dem Verpflichteten und somit auch dem Kläger ein Betrag von 770,00 Euro als Selbstbehalt verbleiben muss.
Abzüglich dieses Selbstbehalts von 770,00 Euro nach der Düsseldorfer Tabelle vom Einkommen des Klägers von 836,90 Euro kommt
danach für eine Abzweigung nur der Restbetrag von 66,90 Euro in Betracht. Der Bedarf der beiden Kinder des Klägers liegt nach
der Düsseldorfer Tabelle bei 509,00 Euro. Aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder nach ihrem jeweiligen Alter
entfallen auf den Sohn 310,00 Euro (= 60,9 Prozent der Gesamtsumme) und auf die Tochter 199,00 (= 39,1 Prozent der Gesamtsumme).
Da beide Kinder unterhaltsrechtlich - unter Berücksichtigung ihres altersbedingt unterschiedlichen Bedarfs - gleichzustellen
sind, hat die Tochter einen Anspruch auf 39,1 Prozent der Verteilungssumme von 66,90 Euro. Dies entspricht einem Betrag von
26,16 Euro. Die Abzweigung eines höheren Betrages war wegen des Fehlens einer titulierten Forderung auch im Rahmen des §
48 SGB I nicht zulässig.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision hat nicht vorgelegen (§
160 Abs.
2 SGG).