Beschädigtenrente und Heilbehandlung nach dem OEG und BVG
Rüge der fehlerhaften Besetzung des Gerichts
Glaubhaftmachung und Beweismaßstab im KOVVfG
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente und Heilbehandlung gemäß §
1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.
Die im Oktober 1949 geborene Klägerin beantragte im Juni 1999 beim Versorgungsamt Braunschweig (Außenstelle Hildesheim) Beschädigtenversorgung.
Zur Begründung gab sie wörtlich an: "Am 9.9. um 22.45 Uhr klingelten zwei Männer an meiner Wohnungstür, wiesen sich als Kripo
aus und sagten, ich solle mitkommen zur Klärung eines Sachverhaltes. Im Auto wurden mir die Augen verbunden und im Gefängnis
die Binde abgenommen. Schlimme Verhöre mit Folter, Misshandlung und Vergewaltigung erfolgten. 3-4 Männer fast rund um die
Uhr. Ich wäre Staatsfeind weil keine Jugendweihe und FDJ-Mitgliedschaft der Kinder. Ausreiseantrag gestellt. Am 13.9. Entlassung."
Tatort sei das I. -Gefängnis in J. gewesen. An Schädigungsfolgen seien u. a. psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten.
Die Krankenkasse übernehme keine Therapiekosten mehr, sie sei jedoch dringend auf eine Therapie angewiesen.
Das Versorgungsamt leitete den Antrag der Klägerin an das für die beantragte Leistung zuständige Versorgungsamt Chemnitz weiter.
Dieses zog bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungsakten (Az.: 812 Js 10933/98) bei. Aus den Ermittlungsakten ergab sich Folgendes: Die Klägerin hatte am 16. Oktober 1997 gegen den Beschuldigten/Tatverdächtigen
K. Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 gestellt und hierzu angegeben, dass sie
in der UHA des MfS L. durch mehrere Bedienstete und den Beschuldigten vergewaltigt und sexuell genötigt worden sei. In ihrer
Vernehmung durch die Staatsanwältin M. am 15. Oktober 1997 hatte die Klägerin angegeben, im Tatzeitraum in N. im Erzgebirge
gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem damals 16jährigen Sohn O. gewohnt zu haben. Es seien schlechte Wohnverhältnisse gewesen
und sie habe schon immer an den Rat des Kreises geschrieben und sich danach erkundigt, wann sie eine andere Wohnung bekommen
könnten. Trotz diverser Nachfragen und Eingaben habe sich absolut nichts getan. Nachdem sie 1987 einen Ausreiseantrag gestellt
habe, sei sie arbeitslos geworden. Zuvor sei sie im Universitätskinderklinikum in P. als Kinderkrankenschwester tätig gewesen.
1986 habe sie in einer Lederwarenfabrik in Q. eine Tätigkeit im Betriebsschutz (Pförtner mit Telefondienst) aufgenommen und
dort sei auch ihr damaliger Vorgesetzter K. gewesen, gegen den sie Anzeige erstatten wolle. Sie sei dann arbeitslos geworden
und zweimal in der Woche von verschiedenen Leuten der Staatssicherheit besucht worden, die gesagt hätten "entweder du arbeitest
für uns oder du findest überhaupt keine Arbeit mehr". Dann sei ihr 1989 gesagt worden "dich kriegen wir auch noch klein".
Nachdem sie dann noch einmal einen Antrag auf eine neue Wohnung gestellt habe und sich erneut in dieser Hinsicht nichts getan
hätte, sei sie am 9. September 1989 abends um dreiviertel elf abgeholt worden. Sie sei aufgefordert worden, zur Klärung eines
Sachverhalts mitzukommen. Sie sei dann nach J. in das Gefängnis auf dem I. gefahren worden und ihr sei vorgeworfen worden,
Geheimnisse, die ihre Mutter als Sekretärin im Rathaus bei Ratssitzungen erfahren habe, in den Westen weitergegeben zu haben.
An dem Abend seien zwei Leute gekommen. In dem Gefängnis sei sie zunächst von zwei anderen Männern verhört worden. Insgesamt
seien es vier Männer gewesen, die sie rund um die Uhr fertig gemacht hätten, einer davon sei K. gewesen. In der ersten Nacht
sei sie von zwei Männern oral vergewaltigt worden; ihr seien Bierflaschen in die Scheide gestoßen worden. Sie sei mehrfach
von verschiedenen Personen oral vergewaltigt worden und als sie nicht mehr habe mitmachen wollen, seien ihr die Zähne eingeschlagen
worden. Am 10. September seien morgens früh drei Männer von der ersten Nacht gekommen und da sei auch K. dabei gewesen. Dann,
als K. gekommen sei, seien ihr noch einmal Bierflaschen in die Scheide gestoßen worden, wobei eine kaputt gewesen sei und
alles zerschnitten habe. Da sei K. dabei gewesen. Dieser habe sie dann auch rektal vergewaltigt. Sie sei immer wieder vergewaltigt
worden, sowohl oral, vaginal als auch rektal. Am letzten Abend, als es dunkel geworden sei, seien zwei andere Männer gekommen,
die sie zuvor noch nicht gesehen habe. Sie habe dann etwas unterschreiben müssen, dass sie mit niemandem darüber spreche und
sei dann mit dem Wartburg nach Hause gefahren worden. Die letzte Strecke sei sie praktisch auf allen Vieren nach Hause gekrochen
und spät abends um 23.30 Uhr dort angekommen. Sie sei dann über ein halbes Jahr nicht beim Arzt gewesen und habe sich zunächst
auch an die Anweisung gehalten, mit niemandem über das Erlebte zu sprechen. Erstmals habe sie 1992 gegenüber ihrer Psychologin
Frau R. von dem Erlebten erzählt.
Nach Vernehmung der Klägerin hat die Staatsanwaltschaft die Beiziehung von Krankenunterlagen der Klägerin veranlasst und eine
Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
eingeholt. Darüber hinaus hat sie den Beschuldigten K. im Juni 1999 vernommen, der im Wesentlichen den Tatvorwurf als "absurd"
bezeichnet hat und nicht erklären konnte, wie die Klägerin auf einen solchen Vorwurf gekommen war. Der Zeuge hat ausgesagt,
bei der VEB Lederwarenfabrik in seiner Funktion als Sicherheitsinspektor und Betriebsjurist der Vorgesetzte der Klägerin gewesen
zu sein. Nach Auswertung der Unterlagen hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 3. November 1999 das Ermittlungsverfahren
gegen den Beschuldigten K. eingestellt und hierfür im Wesentlichen zur Begründung angeführt, dass der Beschuldigte bestritten
habe, intime Kontakte zu der Geschädigten gehabt zu haben. Auch habe er keine beruflichen oder persönlichen Kontakte zum Ministerium
für Staatssicherheit gehabt und sei nie in der Untersuchungshaftanstalt auf dem I. gewesen. Nach Auskunft des Bundesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes seien zu der Person der Geschädigten keine MfS-Unterlagen erfasst, die Person
des Beschuldigten S. sei ebenfalls nicht erfasst. Zur Ermittlung des Geschehens sei nunmehr die Befragung des damaligen Hausarztes
der Geschädigten, Dr. T. erforderlich, den die Geschädigte jedoch ausdrücklich nicht von der Schweigepflicht entbinde. Mangels
weiterer Ermittlungsansätze sei das Verfahren deshalb gemäß §
170 Abs.
2 StPO einzustellen.
Auf die von der Klägerin hiergegen eingelegte Beschwerde hat die Staatsanwaltschaft weitere ärztliche Unterlagen über die
Klägerin beigezogen und mit Bescheid vom 22. März 2000 die Beschwerde der Klägerin gegen die Verfügung vom 3. November 1999
zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht Dresden hat mit Beschluss vom 13. September 2000 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung
gegen den die Erhebung der öffentlichen Klage ablehnenden Bescheid vom 22. März 2000 als unbegründet verworfen. Zur Begründung
hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Beschuldigte jemals offizieller oder
inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei. Darüber hinaus hätten die Ermittlungen keinen
Hinweis darauf erbracht, dass sich die Anzeigeerstatterin tatsächlich in der Zeit vom 9. bis zum 13. September 1989 in der
Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem I. befunden habe. Vielmehr habe die einzig feststellbare Verbindung
zwischen der Anzeigeerstatterin und dem Beschuldigten darin bestanden, dass der Beschuldigte in der Lederwarenfabrik in Q.
als Justitiar beschäftigt und in den Jahren 1985 bis 1987 Vorgesetzter der Geschädigten gewesen sei. Der Beschuldigte habe
im Rahmen eines Arbeitsgerichtsprozesses die Lederwarenfabrik vertreten und der Anzeigeerstatterin im Rahmen der Entlassung
eine für sie ungünstige Abschlussbeurteilung verfasst. Auch aus den von der Staatsanwaltschaft beigezogenen umfangreichen
Krankenakten der Anzeigeerstatterin ergäben sich keine Hinweise für einen hinreichenden Tatverdacht. Zwar habe sie bereits
im März 1991 und auch 1992 gegenüber Ärzten von Misshandlungen im Stasigewahrsam berichtet. Zu keinem Zeitpunkt aber habe
sie hierbei den Namen des Beschuldigten genannt. Auch enthielten die ärztlichen Berichte keine Hinweise auf Verletzungen der
Anzeigeerstatterin, die sie entsprechend ihrer Anzeige erlitten haben müsste. Insbesondere hätten sich die Angaben der Antragstellerin
nicht bestätigt, wonach sie im Jahr 1990 von einem Arzt gefragt worden sei, "was sie gemacht habe, da man Glassplitter aus
ihrer Scheide geholt habe". Nach einem entsprechenden ärztlichen Schreiben habe sich bei der Untersuchung weder ein Hinweis
auf eine Verletzung der Scheide, noch auf das Vorhandensein eines Fremdkörpers gefunden.
Außer den Ermittlungsakten zog das Versorgungsamt Chemnitz Unterlagen der behandelnden Ärzte der Klägerin bei und betrieb
das Verfahren dann zunächst im Hinblick auf Ansprüche der Klägerin nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG). In diesem Zusammenhang wies es die Klägerin darauf hin, dass der Eingang des Antrages nach dem
OEG im Juni 1999 als Antrag nach dem StrRehaG angesehen werde, für die Bearbeitung sei deshalb das Versorgungsamt Hildesheim zuständig. Darüber hinaus informierte es die
Klägerin darüber, dass sie zunächst einen Antrag auf Rehabilitierung beim Landgericht Chemnitz stellen müsse. Der Rehabilitierungsbeschluss
sei dann dem Versorgungsamt Hildesheim zu übersenden.
Das Versorgungsamt Braunschweig - Außenstelle Hildesheim - hat im Rahmen der Bearbeitung des Antrages nach dem StrRehaG Unterlagen von den Justizvollzugsanstalten U., I. und V., der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und dem Bundesarchiv bezüglich der Klägerin angefordert. Die Bundesbeauftragte
hat mitgeteilt, dass die Klägerin durch den Staatssicherheitsdienst auf einer Karteikarte erfasst gewesen sei. Ob überhaupt
aufgrund dieser Erfassung Unterlagen geführt und diese vernichtet worden seien, sei nicht feststellbar. Hinweise zur Inhaftierung
der Klägerin in der Untersuchungshaftanstalt der BV J. könnten nicht gefunden werden. In dieser Angelegenheit sei bereits
mehrfach, leider ohne Ergebnis, recherchiert worden. Nach Auskunft des Bundesarchives habe in der zentralen Gefangenenkartei
des Bundesarchivbestandes DO 1 Ministerium des Inneren der DDR keine Karteikarte für die Klägerin ermittelt werden können.
Mit Beschluss vom 23. August 2002 hat die Rehabilitierungskammer des Landgerichtes Chemnitz den Antrag der Klägerin auf Rehabilitierung
hinsichtlich der Inhaftierung im Zeitraum vom 9. bis 13. September 1989 zurückgewiesen (Az.: BSRH 346/01) und zur Begründung
im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht erkennbar sei, dass die Inhaftierung der politischen Verfolgung gedient habe. Die gegen
diese Entscheidung von der Klägerin eingelegte Beschwerde hat das Oberlandesgericht Dresden mit Beschluss vom 17. Dezember
2002 als unbegründet verworfen (Az.: 4 Ws 132/02). Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Verbindung des Sicherheitsinspektors K. zum Staatssicherheitsdienst
der DDR nicht ersichtlich sei. Mit Bescheid vom 14. Januar 2003 lehnte das Versorgungsamt Braunschweig den Antrag der Klägerin
auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem StrRehaG ab und übersandte sodann den Vorgang erneut an das Versorgungsamt Chemnitz zur (Weiter-)Bearbeitung des
OEG-Antrages.
Mit Bescheid vom 22. April 2003 lehnte das Versorgungsamt Chemnitz den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung ab und
führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass nach Würdigung der Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft Dresden, den
Feststellungen des Oberlandesgerichts Dresden einschließlich der Unterlagen des Landgerichts Chemnitz das schädigende Ereignis
nicht nachgewiesen sei. Den Widerspruch der Klägerin wies das Landesversorgungsamt Chemnitz mit Widerspruchsbescheid vom 12.
Januar 2004 zurück. Im Rahmen der Amtsermittlungspflicht seien alle Möglichkeiten der Beweiserhebung ausgeschöpft worden,
dabei habe sich der behauptete Sachverhalt nicht durch Nachweise bestätigen lassen. Weder im Bundesarchiv noch im Archiv der
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR hätten Unterlagen über die Inhaftierung
aufgefunden werden können.
Mit ihrer zum Sozialgericht Hildesheim erhobenen Klage hat die Klägerin das Ziel der Gewährung von Leistungen nach dem
OEG weiter verfolgt, dabei ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft und sich für ihren Vortrag auf
zahlreiche von ihr vorgelegte Unterlagen und schriftliche Stellungnahmen ihrer behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten bezogen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie die Schwerbehindertenakte der Klägerin vom Versorgungsamt
Hildesheim (GZ.: 33 100 17 - 00479 4) beigezogen. Darüber hinaus hat es ärztliche Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung
Mitteldeutschland (Vers.Nr.: 09 161049 B 545) und die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Dresden (Az.: 812 Js 10933/98) beigezogen und eine Begutachtung der Klägerin durch die Psychiaterin und Neurologin Dr. W. veranlasst.
Diese Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12. Dezember 2007 die Diagnosen "andauernde Persönlichkeitsänderung nach
extremen Belastungen mit massivem verletzenden Verhalten und multiplen funktionellen Störungen, anhaltende somatoforme Schmerzstörung,
rezidivierend depressive Störung, Analgetika-Abusus, Zustand nach mehrmaligen Subileus-Operationen, Zustand nach Nephrektomie
rechts 1992, nach selbstinduzierten Verletzungen" gestellt.
Gegenüber dieser Sachverständigen hat die Klägerin erklärt, dass alles 1989 - noch vor der Grenzöffnung - passiert sei. Nach
der Haft habe sie bis zum Tod ihrer Mutter 1991 durchgehalten; sie habe niemanden zum Reden gehabt, niemandem vertrauen können
und auch vertraut. 1992 habe sie erfahren, dass ihre beste Freundin sie an die Stasi verraten und bespitzelt habe. Während
der Inhaftierung seien alte Bilder durch den Missbrauch durch den Onkel hochgekommen. Sie sei als neunjährige von einem Großonkel,
72 Jahre alt, ein Jahr lang jeden Samstag vergewaltigt worden. Der Onkel habe sie ans Bett gefesselt und oral zum Verkehr
gezwungen. 1994 habe ihr Sohn O. ihr mitgeteilt, er hätte der Stasi wohl mehr erzählen sollen, dann hätte man sie richtig
verrecken lassen und dass sie vom Schnüffelgeld gelebt hätten. Der Sohn habe vor vier Jahren geheiratet und habe sie nicht
zur Hochzeit eingeladen, da sie kaputt aussehe; ihr Sohn habe vor zweieinhalb Jahren einen schweren Suizidversuch unternommen
und im Koma gelegen. Im letzten Jahr habe er wohl seine Ehefrau und sein dreijähriges Kind krankenhausreif geschlagen. Zu
ihrem Sohn bestehe kein Kontakt mehr, nachdem er sie bei seiner Hochzeit ausgeladen habe. Zu ihrem Ehemann befragt, hat die
Klägerin gegenüber der Sachverständigen erklärt, am 9. März 1974 geheiratet zu haben und wieder schwanger [Anmerk: mit O.]
geworden zu sein. Daraufhin habe ihr Mann sie vor die Wahl gestellt, sich entweder für ihn zu entscheiden oder für das Kind.
Dann habe sich der Ehemann am 3. Juni 1974 suizidiert, durch Gas. Den Grund wisse sie bis heute nicht. Am 7. Juni 1974 sei
seine Einäscherung gewesen, sie habe seinen Leichnam nicht sehen dürfen.
Die Sachverständige Dr. W. ist sodann zu der zusammenfassenden Einschätzung gelangt, dass die andauernde Persönlichkeitsänderung
nach Extrembelastung möglicherweise nach der von der Klägerin angegebenen Inhaftierung richtungsgebend verschlechtert worden
sei. Durch den sexuellen Missbrauch in der Kindheit sei es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, auch mit selbstverletzendem
Verhalten gekommen. Danach habe die Klägerin jedoch weiter funktioniert. Die Ereignisse, die sie in der Haft habe erleben
müssen, seien so schwerwiegend gewesen, dass sie bei den vorliegenden Vorbelastungen durchaus die Störung mit verursacht hätten.
Sie reichten jedoch auch alleine aus, um eine schwere Störung wie die andauernde Persönlichkeitsänderung auszulösen. Inwieweit
die Erinnerungen an die Folter in der Haft und selbstverletzenden Ereignisse und die Folgen des sexuellen Missbrauchs in der
Kindheit auseinander gehalten würden, bleibe offen. Die Klägerin habe mehrfach geschildert, dass sie sich in tranceähnlichem
Zustand auch Messer oder andere Gegenstände in die Vagina ramme oder sich auch infizierte Sachen in die Blase spritze.
Seit dem 1. August 2008 ist durch gesetzlichen Übergang im Rahmen der Verwaltungsreform die Zuständigkeit des Landesversorgungsamtes
Chemnitz auf den Beklagten übergegangen, so dass dieser seit diesem Zeitpunkt als Beklagter das Verfahren führt.
Das Sozialgericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der psychologischen Psychotherapeutin
Dipl.-Psych. X ... Diese Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 ausgeführt, dass zusammenfassend festzuhalten
sei, dass die Täuschungs- ebenso wie die Suggestionshypothese nicht zurückgewiesen werden könnten. Hervorzuheben sei außerdem,
dass sich Mängel im Hinblick auf die Konstanz der Aussage der Klägerin zeigten. Die behauptete Aussage der Klägerin könne
mit Hilfe der aussagenpsychologischen Methodik nicht verifiziert werden. Im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch im Alter
von neun Jahren durch den Großonkel sei zusammenfassend auch hier festzuhalten, dass die Täuschungshypothese nicht zurückgewiesen
werden könne. Möglich sei allerdings auch, dass es sich bei den von der Klägerin vorgetragenen Erinnerungen um Scheinerinnerungen
handele. Insgesamt sei festzuhalten, dass sich an diversen Stellen Hinweise auf fremd- oder autosuggestive Einflüsse ergäben.
Es lasse sich nicht klären, inwieweit fremdsuggestive und autosuggestive Einflüsse und intentionale Täuschung die Aussage
der Klägerin zu welchem Zeitpunkt der Aussageentstehung und Aussageentwicklung mitbestimmt hätten; deshalb könne auch nicht
festgestellt werden, auf welchen Prozessen die Angaben beruhten.
Auf Antrag der Kläger gemäß §
109 SGG hat das Sozialgericht daraufhin eine Begutachtung der Klägerin durch den Psychiater und Neurologen Dr. Y. veranlasst. Dieser
Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 31. Dezember 2012 die Diagnose einer histronischen Persönlichkeitsstruktur mit
selbstverletzendem Verhalten gestellt. Seit Anfang der 90er Jahre werde die Klägerin ambulant und zeitweilig auch stationär
psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt. Die Aussageinhalte seien im Laufe der Jahre wiederholt in unterschiedlicher
Intensität und in verschiedenen Kontexten thematisiert worden. Es falle auf, dass der sexuelle Missbrauch durch den Großonkel
sehr viel später als die Stasihaft erzählt worden sei. Eine suggestive Beeinflussung der Erinnerungen könne nicht ausgeschlossen
werden, sie sei angesichts der Persönlichkeit der Zeugin und der Befragungsumstände als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Darüber
hinaus habe die Motivanalyse vor dem Hintergrund der Persönlichkeit der Zeugin und den speziellen Lebensumständen einige falsche
Belastungsmotive ergeben, die nicht ausreichend entkräftet werden könnten. Die Konstanzanalyse habe zahlreiche Inkonstanzen
aufgezeigt, die mit gedächtnispsychologischen Gesetzmäßigkeiten nicht erklärt werden könnten und nicht auf eine Erinnerungsarbeit
hinwiesen. Die Inhaltsanalyse ergäbe, dass die Realkennzeichen insgesamt nur in einfacher Ausprägung vorhanden und damit nicht
als Qualitätsmerkmale zu interpretieren seien. Unter Berücksichtigung der spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen der Klägerin
handele es sich um eine Aussage von geringer Aussagequalität. Aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen, unter
den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der möglichen Einflüsse Dritter könne die Klägerin ohne einen
realen Erlebnishintergrund eine Aussage wie die Vorliegende tätigen. Zusammenfassend sei damit festzustellen, dass die Klägerin
die Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen in dieser Form auch ohne einen
Erlebnisbezug berichten könne. Diese Aussage gelte gleichermaßen für die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch in
ihrer Kindheit durch einen Großonkel.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 19. April 2013 die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht davon
auszugehen sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Dies sei weder
nachgewiesen, noch könnten die Aussagen der Klägerin gemäß § 15 KOVVfG der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Insoweit schließe sich das Gericht nach kritischer Würdigung den Ausführungen der
Sachverständigen Z. und Dr. Y. an.
Gegen das ihr am 30. April 2013 zugestellte Urteil wendet sich die am 30. Mai 2013 eingegangene Berufung der Klägerin. Sie
begehrt weiter Leistungen nach dem
OEG und meint, dass das Sozialgericht in seiner Entscheidung die Regelung des § 15 Satz 1 KOVVfG nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt und damit den nach dieser Regelung eindeutig anzuwendenden Beweismaßstab verkannt
habe. Die vom Sozialgericht veranlassten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Aussage berücksichtigten den milderen Beweismaßstab
nicht und bürdeten ihr - der Klägerin - damit einen Beweismaßstab auf, den die Anspruchsgrundlage des § 15 Satz 1 KOVVfG nicht vorsehe. Aussagepsychologische Gutachten seien nicht uneingeschränkt auf sozialgerichtliche Entscheidungsprozesse übertragbar.
Da das von Amts wegen eingeholte Glaubhaftigkeitsgutachten aufgrund des falschen Beweismaßstabes unverwertbar gewesen sei,
habe das Sozialgericht keine tragfähige Entscheidungsgrundlage gehabt und hätte auch von Amts wegen ein weiteres Gutachten
einholen müssen.
Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2014 hat die Klägerin erklärt, mit dem vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr an der Geltendmachung
einer Beschädigtenversorgung wegen Vergewaltigung durch ihren Onkel im Kindesalter festzuhalten.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. April 2003 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2004 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, ihr Heilbehandlung und Beschädigtenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu bewilligen,
3. hilfsweise,
ein Sachverständigengutachten einzuholen, das dem Beweismaßstab des § 15 Satz 1 KOVVFG entspricht.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren gemäß §
118 Abs.
1 SGG i.V.m. §
411 a ZPO zwei Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. AA. vom 14. August 2014 und 14. Oktober 2014 aus den Rechtsstreiten vor dem
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zu den Az.: L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 in den Rechtsstreit eingeführt. Auf
den Inhalt dieser Gutachten wird Bezug genommen.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Dresden (Az.:
812 Js 10933/98) vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren
Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch nicht
begründet.
Dabei kann dahinstehen, ob das Sozialgericht im Hinblick auf den am 18. April 2013 gestellten Befangenheitsantrag der Klägerin
zu Recht von einer Rechtsmissbräuchlichkeit dieses Antrages ausgehen und ihn "übergehen" durfte. Die fehlerhafte Besetzung
des Gerichts bei Erlass des angefochtenen Urteils ist als Verfahrensfehler nur auf Rüge eines Beteiligten, nicht aber von
Amts wegen zu beachten (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 2011, B 6 KA 32/10 R, SozR 4-2500 § 89 Nr. 5). Die fehlerhafte Besetzung der Richterbank des SG ist indessen von keinem der Beteiligten gerügt worden.
Streitgegenstand ist nach der Erklärung der Klägerin vom 13. Juni 2014 nur noch die Frage, ob die Klägerin von dem Beklagten
wegen Folgen der Folter und des sexuellen Missbrauches im I. -Gefängnis in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 die begehrten
Leistungen beanspruchen kann; die darüber hinausgehend von der Klägerin erhobene Klage betreffend Folgen eines sexuellen Missbrauch
durch ihren Onkel im Alter von ca. neun Jahren hat die Klägerin zurückgenommen, so dass hierüber nicht (mehr) zu befinden
ist.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nicht rechtswidrig und verletzt
die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf die Feststellung von Schädigungsfolgen
noch auf Gewährung von Beschädigtenrente und/oder Heilbehandlung wegen Folgen von Folter und sexuellem Missbrauch im I. -Gefängnis
in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989, weil nicht festgestellt werden kann, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs i.S.d. §
1 Abs.
1 OEG geworden ist.
Ein Entschädigungsanspruch nach dem
OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des §
1 Abs.
1 S. 1
OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des
OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen
und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.
1. Diese Bestimmung kann auf die Tat im sog. "I. -Gefängnis" im Bezirk J. (heute: U.) nicht ohne Einschränkung angewandt werden.
Seit jeher bringt §
10 OEG, der mit "Übergangsvorschriften" betitelt ist, zum Ausdruck, dass vom Grundsatz her nur für solche Taten eine Entschädigung
gewährt werden kann, die im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich des
OEG stattgefunden haben. Gleichzeitig lässt die Norm aber zu, dass ausnahmsweise, nämlich unter den Voraussetzungen des §
10a OEG, eine Entschädigung auch dann gewährt werden kann, wenn es zu der Schädigung vor dem Inkrafttreten des
OEG im jeweiligen Gebiet gekommen war. Das
OEG ist in den neuen Bundesländern erst mit deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 in Kraft getreten;
eine Rückwirkung hat es nicht gegeben. Die Folter und der sexuelle Missbrauch, den die Klägerin in J. erleiden musste, werden
somit nicht unmittelbar vom
OEG erfasst. Jedoch hat das Übergangsrecht des Einigungsvertrags das Reglement der §§
10,
10a OEG auch für Taten in den neuen Bundesländern vor deren Beitritt aktiviert. Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III
Nr. 18 lit. c, d hat folgenden Wortlaut:
"Bundesrecht tritt in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet mit folgenden Maßgaben in Kraft:
[...]
18.
Opferentschädigungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985 (BGBl. I S. 1), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1211), mit folgenden Maßgaben:
[...]
c) § 10 gilt für Ansprüche aus Taten, die in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet nach dem 2. Oktober 1990 begangen
worden sind. Darüber hinaus gelten die §§ 1 bis 7 für Ansprüche aus Taten, die in dem in Satz 1 genannten Gebiet in der Zeit
vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 begangen worden sind, nach Maßgabe des § 10a.
d) § 10a gilt für Personen, die in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt
haben oder zur Zeit der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in
dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist."
Der für anwendbar erklärte §
10a Abs.
1 Satz 1
OEG macht für die Personen, die in seinen persönlichen Anwendungsbereich fallen, seit jeher den Entschädigungsanspruch von folgenden
weiteren Voraussetzungen abhängig: Der Betroffene muss allein infolge der Schädigung, die (noch) nicht vom Geltungsbereich
des
OEG erfasst worden ist, schwerbeschädigt sein. Weiter muss der Betroffene bedürftig sein und im Geltungsbereich des
OEG seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Das bedeutet für die Klägerin, dass sie einerseits die Voraussetzungen der §§
1,
2 OEG, andererseits aber auch die Voraussetzungen des §
10a Abs.
1 Satz 1
OEG erfüllen muss. Seit 1. Juli 2011 ist die Übergangsregelung des Einigungsvertrags in §
10 OEG als dessen Satz 4 und 5 integriert (vgl. Art. 3 Nr. 4 b) des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011, BGBl. I S. 1114). Eine sachliche Änderung ist im Zuge dessen insoweit erfolgt, als anders als die Regelung des Einigungsvertrags der jetzige §
10 Satz 5
OEG die §§
1 bis
7 OEG nicht nur nach Maßgabe des §
10a, sondern auch des §
10c OEG gelten lassen will. Das hat aber für den vorliegenden Fall keine Auswirkungen. §
10c OEG lautet:
"Neue Ansprüche, die sich auf Grund einer Änderung dieses Gesetzes ergeben, werden nur auf Antrag festgestellt. Wird der Antrag
binnen eines Jahres nach Verkündung des Änderungsgesetzes gestellt, so beginnt die Zahlung mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens,
frühestens jedoch mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind".
Der Senat kann sich den Rückgriff auf §
10c OEG nur so erklären, dass das Inkrafttreten des
OEG zum 3. Oktober 1990 eine "Gesetzesänderung" im Sinn von §
10c OEG sein soll. Die Rechtsfolge wäre, dass nach dem Beitritt erstens Ansprüche aus "alten" DDR-Taten einerseits nur auf Antrag
zuerkannt werden, andererseits eine Rückwirkung bis zum Beitritt greifen kann, wenn die Anträge binnen eines Jahres nach dem
Beitritt gestellt werden. Eine derart zeitnahe Antragstellung liegt bei der Klägerin nicht vor; sie hat erstmalig einen Antrag
auf Beschädigtenversorgung im Juni 1999 gestellt. Zum einen jedoch liegt die Antragstellung der Klägerin damit zeitlich vor
Inkrafttreten des §
10 Sätze 4 und 5
OEG, so dass ihr die Jahresfrist des §
10c OEG nicht entgegengehalten werden kann. Zum anderen darf der Einbeziehung von §
10c OEG nicht die Wertung entnommen werden, dass Ansprüche aus "alten" DDR-Taten nur dann entschädigt werden können, wenn der Antrag
innerhalb eines Jahres nach dem Beitritt gestellt worden ist. Die Einbeziehung von §
10c OEG soll keine Ausschlusswirkung haben (vgl. insoweit auch: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. Februar 2014, L 15 VG 2/09).
2. Der Tatbestand des damit hier anwendbaren §
1 Abs.
1 S. 1
OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander
verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das
OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff,
Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S. 1 KOVVfG, der gemäß §
6 Abs.
3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich
auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen
des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers
oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen.
Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit
ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem
Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich
sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R, zit. nach Juris). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles
nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die
volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
128 Rn. 3b mwN).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i.S. des § 1 Abs. 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang
spricht (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang
angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses
ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für
die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere
Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem "Glaubhafterscheinen" i.S. des § 15 S. 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
128 Rn. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen
bleiben können (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht,
wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache
sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
128 Rn. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich
in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht
zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen
zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt
ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, §
128 Abs.
1 S. 1
SGG; vgl BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15).
a) Die von der Klägerin behauptete Folter sowie der sexuelle Missbrauch im I. -Gefängnis in J. in der Zeit vom 9. bis 13.
September 1989 durch Stasi-Bedienstete ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen worden. Unmittelbare Tatzeugen sind
nicht vorhanden. Der in erster Linie beschuldigte K. hat die Vorwürfe bestritten und stattdessen betont, die Klägerin nicht
gefoltert/sexuell missbraucht und auch keine Kontakte zur Stasi unterhalten zu haben. Er hat die Vorwürfe wörtlich als "absurd"
bezeichnet und darauf hingewiesen, als früherer Vorgesetzter der Klägerin bei der VEB-Lederwarenfabrik in Q. ihr eine unvorteilhafte
Arbeitsbescheinigung ausgestellt zu haben, worin er ein mögliches Motiv für die Anschuldigungen erkannt hat. Das staatsanwaltliche
Ermittlungsverfahren gegen diesen Beschuldigten ist eingestellt worden, was letztlich vom Oberlandesgericht Dresden mit der
wesentlichen Begründung bestätigt worden ist, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte jemals offizieller
oder inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei. Darüber hinaus haben die Ermittlungen nach
den Ausführungen des Oberlandesgerichts Dresden keinen Hinweis darauf erbracht, dass die Klägerin tatsächlich in der Zeit
vom 9. bis zum 13. September 1989 in der Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem I. befunden hat. Dass diese
Einschätzung zutreffend ist, wird nach Ansicht des Senates durch die Tatsache gestützt, dass weder die JVA U., noch die JVA
AB., noch das Bundesarchiv Unterlagen über die Klägerin auffinden konnte und die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik mitgeteilt hat, dass die Klägerin zwar durch den
Staatssicherheitsdienst auf einer Karteikarte erfasst gewesen sei. Ob überhaupt aufgrund dieser Erfassung Unterlagen geführt
und diese vernichtet worden seien, sei nicht feststellbar. Hinweise zur Inhaftierung der Klägerin in der Untersuchungshaftanstalt
der BV J. konnten jedenfalls nicht gefunden werden, obwohl in dieser Angelegenheit mehrfach recherchiert worden ist. Die Mutter
der Klägerin - die nach Aussage der Klägerin aus eigener Wahrnehmung Angaben zu der Abholsituation aus ihrer Wohnung durch
Bedienstete der Stasi machen könnte - ist zwischenzeitlich verstorben. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen
könnten, sind nicht ersichtlich.
b) Das Vorliegen der behaupteten Taten lässt sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach §
6 Abs.
3 OEG i.V.m. § 15 KOVVfG annehmen. Nach § 15 S. 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der
Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers
oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89, SozR 1500 § 128 Nr. 39 S 46). Zudem sind nach der Rechtsprechung des BSG - der der Senat folgt - nach dem Sinn und Zweck des § 15 S. 1 KOVVfG nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von
ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§
383 ff
ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende
Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S. 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung
des § 15 S. 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen
nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, zit. nach Juris).
Dieser Auslegung folgend ist § 15 S. 1 KOVVfG vorliegend anzuwenden, denn der Beschuldigte K. streitet den behaupteten Missbrauch und die Folter ab und Tatzeugen, die
zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können, sind nicht vorhanden.
Die Behauptung der Klägerin, sie sei im September 1989 im I. -Gefängnis sexuell missbraucht und gefoltert worden, ist für
den Senat jedoch nicht glaubhaft. Er stützt sich dabei auf seine eigene Überzeugung, die er sich aus den gesamten vorliegenden
Unterlagen gebildet hat sowie ergänzend auf die Ausführungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. in ihrem Gutachten vom 12.
Mai 2010 und Dr. Y. vom 31. Dezember 2012, die jeweils zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin erstattet worden
sind.
aa) Ein ganz erheblicher Teil des Vortrages der Klägerin ist geprägt durch widersprüchliche Angaben, die die Klägerin in den
vergangenen Jahren gegenüber Ärzten, Behörden und Sachverständigen getätigt hat. Widersprüche finden sich dabei zu allen Lebensbereichen
der Klägerin, so dass der Senat große Mühe hat, überhaupt einen Lebenssachverhalt - und seien es auch nur die Angaben der
Klägerin zu ihrem beruflichen Werdegang, ihrer familiären Situation, ihrem (früheren) Wohnort - annährend als "wahr" festzustellen.
Dabei fällt insbesondere auf, dass die Klägerin mit fortschreitender Zeit einerseits immer neue düstere und furchtbare Erinnerungen
und Erlebnisse berichtet, die häufig von Gewalt, Mord und Selbstmord geprägt sind (mehrere sexuelle Missbräuche/Bedrängungen
durch wechselnde Täter, sowohl in eigener Person als auch der Tochter Astrid und der Mutter; Miterleben eines Mordes an einem
Kleinkind durch einen Arzt im Krankenhaus, danach Abführen der Klägerin in einer Zwangsjacke und Zwangseinweisung in die Psychiatrie;
Suizide bzw. versuchte Suizide in der unmittelbaren Bekanntschaft (Dr. T.) bzw. Verwandtschaft (früherer Ehemann, Sohn) mit
anschließendem "Wiederauffinden" des früheren Ehemannes auf einem späteren Hochzeitsbild des Sohnes und Aufdeckung dessen
"Untertauchens" durch die Klägerin; persönlicher Kontakt zu der sächsischen Kultusministerin und Einwirken auf diese zum Zwecke
des Bestehens des Abiturs der Tochter AC.). Andererseits auffällig ist der Erzähleifer der Klägerin, wobei sie mit fortschreitender
Zeit immer neue Details zu den Geschehnissen erinnern kann - die sie früher nicht berichtet hat - und ihre Angaben mit diesen
Einzelheiten teilweise "genüsslich" und "begeisternd" wirkend ausschmückt (vgl. insoweit auch die Ausführungen von dem Sachverständigen
Dr. Y. in seinem Gutachten vom 31. Dezember 2012).
Dem Senat ist es aufgrund der Fülle der widersprüchlichen Angaben der Klägerin unmöglich, alle Unstimmigkeiten zu benennen.
Nur beispielhaft möchte er in diesem Zusammenhang auf folgende Punkte hinweisen:
(1) Beruflicher Werdegang
Den Ärzten des AD. -Krankenhauses AE. hat die Klägerin laut Arztbericht vom 11. Dezember 1967 erklärt, die erste Arbeitsstelle
(Arbeitsvertrag als Konditoreilehrling) gewechselt zu haben, weil ihr die Arbeit zu schwer gewesen sei; die zweite Arbeitsstelle
(Verkäuferin im Konsum) sei aus dem gleichen Grund aufgegeben worden; sie sei jetzt als Schreibkraft im Messgerätewerk AF.
tätig. Ausweislich des Arztbriefes des Dr. AG. vom 22. Mai 1968 hat die Klägerin dort angegeben, nach der Schulentlassung
aus der achten Klasse zunächst die Konditorlehre besucht zu haben, diese wegen der körperlichen Beschwerden aufgegeben und
einen neuen Lehrvertrag als Verkäuferin abgeschlossen zu haben. Nachdem sie diesen wiederum gelöst hatte, habe sie im Messgerätewerk
AF. im Lager gearbeitet. Da es ihr dort auch nicht gefallen habe, sei sie zuletzt als Aushilfskraft bei der SV tätig gewesen,
dort wolle sie im Herbst 1968 eine Lehre als Bürokraft beginnen. Eigentlich habe sie Kinderpflegerin werden wollen, wegen
des fehlenden Abschlusses der zehnten Klasse aber dazu keine Möglichkeit gehabt.
Aus dem Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung der Klägerin vom 24. März 1980 geht für die Zeit von Januar 1980 bis Mai
1989 Folgendes hervor: Die Klägerin hat danach vom 1. Januar bis 20. Juli 1980 in einer Rechtsanwaltskanzlei bzw. der zentralen
Verwaltung J. als Maschinenschreiberin/Bürogehilfin gearbeitet. Vom 1. September 1980 bis 4. März 1982 hat sie als Sachbearbeiterin
bei dem VEB Textilmaschinenbau AE. gearbeitet. Vom 5. April 1982 bis 14. Juni 1983 war sie bei dem VEB Wäschemoden in AH.
als Heimstepperin tätig. Vom 15. Juni 1983 bis 16. April 1985 war die Klägerin als Näherin bei dem VEB AI. in AJ. tätig. Vom
17. April 1985 bis 24. September 1987 war sie bei dem AK. AL ... Lederwarenfabriken Q. "AM." als Überwachungskraft tätig.
Vom 9. Dezember 1987 bis 11. Dezember 1987 übte die Klägerin den Beruf der Stanzerin aus (Betriebsteil IV des AK. Tafelgeräte),
vom 2. Mai 1988 bis 2. Mai 1989 ist sie beim AK. Textilreinigung bzw. der Produktionsgenossenschaft der Orthopädie-Schuhmacher
tätig gewesen.
Im Widerspruch zu diesen Angaben hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. im Oktober 1997 behauptet, nach einem 1987
gestellten Ausreiseantrag durch die Staatssicherheit arbeitslos geworden zu sein. Dabei hat sie angegeben, in P. in Ihrem
Beruf als Kinderkrankenschwester in der Universitätskinderklinik gearbeitet zu haben. In diesem Beruf habe sie bis 1972 richtig
voll gearbeitet, bis sie ihre Tochter geboren habe. 1986 habe sie dann beim Betriebsschutz der AN. Lederwarenfabrik "
AO." angefangen.
Dem Bericht der AP. -Klinik Bad AQ. vom 27. März 2000 ist wiederum zu entnehmen, dass die Klägerin Abitur gemacht habe; nach
dem Abitur habe sie ein diakonisches Jahr in einer Heil- und Pflegeanstalt für geistig behinderte Kinder absolviert, danach
habe sie eine dreijährige Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Sie habe Kinderärztin werden wollen, sei jedoch
nach einem Semester von der Universität P. verwiesen worden, weil sie sich geweigert habe, in die Partei einzutreten. Sie
habe bis 1972 in ihrem erlernten Beruf gearbeitet, nach 1975 in Aushilfe in eben diesem Beruf.
Dem Sachverständigen Dr. Y. hat die Klägerin im Dezember 2012 dagegen erklärt, die Schule nach der achten Klasse verlassen
zu haben. Nach der Schule habe sie eine Ausbildung als Kindergärtnerin machen wollen, sei jedoch nicht angenommen worden.
Sie habe eine Ausbildung als Konditorin begonnen, diese jedoch abgebrochen, weil "da war jemand von Eigenstock in der Konditoreiwerkstatt
und da bin ich auch wieder ziemlich massiv belästigt worden". Ihr Abitur habe sie dann später in P. gemacht. An der Uniklinik
habe sie dann auch eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester gemacht. Während ihrer Schwangerschaft 1972 habe sie als Intensivkinderkrankenschwester
gearbeitet; zusammen mit einer Kollegin habe man sie von dort in die Psychiatrie zwangseingewiesen, weil sie den Mord an einem
Säugling durch einen Arzt gemeldet habe.
Zwar ist der Klägerin zuzustimmen, dass die Schreiben des Bezirkskrankenhauses "AR." AE. vom 23. Mai 1986 sowie 1. Oktober
1987 einen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass die Klägerin möglicherweise tatsächlich den Beruf der Kinderkrankenschwester
erlernt hat. Erklären kann sich der Senat diese Schreiben aber nicht. Letztlich hat die Klägerin für ihre entsprechende Behauptung
auch keine Ausbildungs- oder Universitätsunterlagen vorgelegt. Die von ihr hierfür vorgebrachte Begründung, die Stasi habe
ihr diese Unterlagen weggenommen, überzeugt den Senat nicht. Denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt dargelegt, wann, wo
und in welchem Zusammenhang bei ihr Unterlagen durch die Stasi beschlagnahmt worden sein sollen. Dass sie diese Unterlagen
im Tatzeitraum im I. -Gefängnis bei sich gehabt hat, hat die Klägerin jedenfalls selbst nicht behauptet.
(2) Wohnsituation
Die Klägerin hat in ihrer Vernehmung durch die Staatsanwältin M. im Oktober 1997 ausgesagt, zum Tatzeitpunkt in N. gewohnt
zu haben, wobei es sich ausweislich des Ausweises für Arbeit und Sozialversicherung der Klägerin sowie des Schreibens des
Bezirkskrankenhauses "AR." AE. vom 23. Mai 1986 sowie 1. Oktober 1987 wohl um die Anschrift "AS." gehandelt haben dürfte.
Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin im Dezember 2009 demgegenüber bekundet, zum Tatzeitpunkt in
AT. im AU. in der AV. gelebt zu haben. Auch dann, wenn die Sachverständige Dipl.-Psych. X. möglicherweise die Angabe der Klägerin
"N." als "AT." verstanden und dementsprechend nicht zutreffend übernommen haben könnte, sind "AW." und "AX." derart unterschiedlich,
dass der Senat einen Verständnis- bzw. Übertragungsfehler in dieser Hinsicht als eher nicht wahrscheinlich ansieht.
Zu ihrer Wohnsituation befragt hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. erklärt, in einer Mietwohnung gewohnt zu haben,
vier Zimmer und Küche. Es seien in der Wohnung sie, ihre Mutter und ihr Sohn O. gewesen, als es um 22:45 Uhr geklingelt habe.
O. habe geschlafen, ihre Mutter sei dabei gewesen und habe alles mitbekommen. Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych.
X. hat die Klägerin die Situation hingegen so beschrieben, in der gemeinsamen Wohnung sehr beengt gelebt zu haben, man habe
in einer Wohnung mit drei Generationen gelebt, eine total nasse, feuchte Wohnung gehabt. Ihr Sohn O. sei schon im Bett gewesen
und ihre Mutter noch auf, als es um 10:45 Uhr geklingelt habe. Sie seien im Wohnzimmer gewesen. Und dann hätten sie oben im
Haus noch zwei Zimmer gehabt, da habe der O. geschlafen, der sei nicht mit unten in der Wohnung gewesen.
(3) Abholsituation durch die Stasi
In ihrem Antrag auf Beschädigtenversorgung vom 2. Juni 1999 hat die Klägerin wörtlich folgendes angegeben: "Am 9.9. um 22.45
Uhr klingelten zwei Männer an meiner Wohnungstür, wiesen sich als Kripo aus und sagten, ich solle mitkommen zur Klärung eines
Sachverhaltes. Im Auto wurden mir die Augen verbunden und im Gefängnis die Binde abgenommen. Schlimme Verhöre mit Folter,
Misshandlung und Vergewaltigung erfolgten. 3-4 Männer fast rund um die Uhr. Ich wäre Staatsfeind weil keine Jugendweihe und
FDJ-Mitgliedschaft der Kinder. Ausreiseantrag gestellt. Am 13.9. Entlassung."
Gegenüber der Staatsanwältin M. hat die Klägerin im Oktober 1997 insoweit angegeben, an diesem Abend seien zwei Leute gekommen.
Die hätten eine Marke am Bändchen gehabt, am Kettchen. Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin hingegen
behauptet, draußen vor ihrer Wohnung hätten vier Männer gestanden, die sie zur Klärung eines Sachverhaltes abgeholt hätten.
Diese vier Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Kriminalpolizei.
In Bezug auf die Autofahrt von ihrer Wohnung zum Gefängnis hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. keinerlei Angaben
gemacht, wohingegen ihre Angaben gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. im Dezember 2009 sehr detailreich ausgefallen
sind: So hat die Klägerin der Sachverständigen berichtet, in einem grauen Auto Marke Wartburg mit verdunkelten Scheiben abgeholt
worden zu sein; bereits im Auto habe sie gemerkt, dass es sich nicht um die Kriminalpolizei gehandelt habe. Sie habe hinten
im Auto gesessen, flankiert von zwei Männern, auch vorne saßen zwei. Sie sei völlig fertig gewesen, habe geweint und sei ziemlich
rüde behandelt worden. Da habe es dann auch mit dem Duzen begonnen, sie sei nicht mehr Gesiezt worden. Von der Zeit her -
sie habe die Uhr da gehabt - da habe sie ab und zu mal drauf geschielt, sie habe gewusst wie lange von AT. bis die Station
mit nem Bus gebraucht habe und so und da habe sie sich schon - auch von der Zeit her denken können - wo das hin ging. Sie
seien dann in den Haupteingang am I., Staatssicherheitsuntersuchungsgefängnis. I ... Sie habe das Gefängnis zwar nicht gekannt,
aber es habe draußen auf nem Schild gestanden. So über der Tür an der Seite. Der Eingang sei ja erleuchtet gewesen.
Der Sachverständigen Dr. W. hat die Klägerin im Dezember 2007 hingegen erklärt, dass ihr sofort im Auto der Kopf runtergedrückt
worden sei, damit sie nicht sehen konnte, wohin sie gebracht wurde.
(4) Erstes Verhör im Gefängnis
Gegenüber der Staatsanwältin M. hat die Klägerin nach der Schilderung der Abholsituation an ihrer Wohnungstür durch Bedienstete
der Kripo/Stasi nur schlicht erklärt, dann erst mal in einen Raum geführt und verhört worden zu sein. Sie sei dann in´ne Zelle
geführt worden. Da habe ´ne junge Frau gelegen. Es sei dann in zu einer oralen Vergewaltigung der Frau gekommen, wobei ihr
gesagt worden sei "so nun pass gut auf, was wir mit der machen, das gleiche blüht dir auch". Die Vergewaltigung sei von denen
vorgenommen worden, die sie zuvor verhört hatten. Sie sei dann in ihre Zelle gebracht worden. Und an dem ersten Tag, also
in der ersten Nacht sei der Herr S. noch nicht dabei gewesen, da seien zwei andere Männer gekommen, die sie dann auch oral
vergewaltigt hätten, ihr Bierflaschen in die Scheide gestoßen und sie auch getreten hätten. Dies sei schon in der ersten Nacht
erfolgt, im Wechsel von 3-4 Männern.
Der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin erzählt, sie sei flankiert von beiden Seiten in den Haupteingang gegangen,
sie sei hinten so am Arm festgehalten worden. Sie sei dann die Treppe runter in die Kellerräume geführt worden. Das Vernehmungszimmer
sei oben gewesen, aber sie sei gleich in die Kellerräume geführt worden. Zu allererst in eine Zelle geführt worden. Die sei
rechts gewesen. Da seien mehrere Räume gewesen. Eisentüren, dicke Schlösser dran. Sie hätten eine Zelle aufgemacht und ja
es sei gleich losgegangen. Da sei eine junge Frau auf der Matratze gewesen und zwei Männer seien gerade dabei gewesen, sie
oral zu vergewaltigen. Sie habe auf die Frau gekuckt, sei völlig fertig gewesen, weil die Männer gesagt hätten wenn du das
Maul auch nicht aufmachst geht es dir ebenso. Sie habe die Männer gesehen. Das seien aber nicht die gewesen, die sie vergewaltigt
hätten. Es seien zwei andere gewesen. Die habe sie auch nur einmal gesehen. Sie sei dann erstmal in ihre Zelle geführt worden
und habe sich auf die Matratze gelegt oder gesetzt und erstmal versucht das Bild zu verarbeiten was sie da gerade gesehen
habe. Und so gegen Mitternacht seien drei Männer gekommen und hätten sie zum Verhör abgeholt. Sie sei in einen anderen Verhörraum
gebracht worden, die Treppe wieder hoch, gleich vorne am Anfang. Sie sei mit einer Lampe geblendet worden, voll ins Gesicht
geleuchtet.
(5) Sexueller Missbrauch
Im Hinblick auf erlittene Gewalttaten hat die Klägerin in dem von ihr im Juni 1999 gestellten Antrag auf Beschädigtenversorgung
nur angegeben, im Stasi-Gefängnis gefoltert und sexuell missbraucht worden zu sein. Andere Gewalttaten bzw. anderen erlebten
sexuellen Missbrauch hat die Klägerin nicht thematisiert. Im Dezember 2007 hat die Klägerin dann - ohne dass dies zuvor im
Verfahren eine Rolle gespielt hat - gegenüber der Sachverständigen Dr. W. berichtet, im Alter von neun Jahren circa ein Jahr
lang regelmäßig von ihrem Großonkel vergewaltigt worden zu sein. Noch später, nämlich im Dezember 2012, hat die Klägerin gegenüber
dem Sachverständigen Dr. Y. behauptet, von 1979-1986 wiederholt Opfer sexueller Übergriffe eines Hausmitbewohners geworden
zu sein, der auch ihre Tochter vergewaltigt und ihre Mutter sexuell bedrängt habe. Diesbezüglich hat die Klägerin erklärt,
ihr Mann O. habe guten Kontakt zu einem Stasispitzel gehabt, der früher bei der SS gewesen und wegen sexuellen Missbrauches
eines Kindes in der DDR inhaftiert gewesen sei. Der habe bei ihnen im Haus gewohnt und sei nach dem Tod ihres Mannes über
sie hergefallen. Ihr Sohn O. habe sie eines Tages gerufen und gesagt, dass die AC. im Keller liege und blute. Die Vergewaltigung
sei erfolgt, bevor AC. eingeschult worden sei. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. Y. hat die Klägerin im Dezember 2012 auch
berichtet, die Ausbildung als Konditorin "wegen ziemlich massiver Belästigungen" abgebrochen zu haben.
(6) Familiäre Situation
Der Sachverständigen Dr. W. hat die Klägerin im Dezember 2007 erzählt, zu ihrem Sohn O. bestehe kein Kontakt mehr, nachdem
er sie bei seiner Hochzeit ausgeladen habe. Der Sachverständigen Dipl-Psych. X. hat die Klägerin dagegen im Dezember 2009
berichtet, zu ihrem Sohn O. keinen Kontakt mehr zu haben, seitdem er ihr in der Klinik AY. eröffnet habe, sie - die Klägerin
- für die Stasi "ausgeschnüffelt" und ihr von dem dadurch verdienten Geld finanzielle Unterstützung geleistet zu haben. Dazu
habe O. gesagt: "Hätte ich damals noch mehr gesagt, hätten sie dich richtig verrecken lassen".
bb) Im Übrigen bezieht sich der Senat zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin auf die Gutachten der Sachverständigen
Dipl.-Psych. X. vom 12. Mai 2010 und Dr. Y. vom 31. Dezember 2012. Beide Gutachten sind schlüssig und nachvollziehbar und
gelangen ebenso übereinstimmend wie überzeugend zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Klägerin nicht positiv durch die aussagepsychologische
Begutachtung verifiziert werden können, d.h., die Klägerin könnte ihre Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen
Vergewaltigungen und Misshandlungen in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten.
Zusammengefasst hat die Klägerin zur Überzeugung des Senates nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dargetan, in der Zeit
vom 9. bis 13. September 1989 Opfer von Folter und Missbrauch im I. -Gefängnis geworden zu sein. Von mehreren ernstlich in
Betracht zu ziehenden Möglichkeiten (z.B. Suggestion, falsche bzw. "Schein"-Erinnerungen) hält der Senat das Vorliegen der
behaupteten Gewalttaten nicht für relativ am wahrscheinlichsten; nach der Gesamtwürdigung aller Umstände spricht nicht besonders
viel für diese Möglichkeit.
cc) Der Senat hat keinen Anlass zur Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachens in Bezug auf die Angaben der Klägerin.
Dies gilt insbesondere auch für ein Glaubhaftigkeitsgutachten, welches unter Abfassung entsprechender Beweisfragen dem besonderen
Beweismaßstab des § 15 KOVVfG Rechnung tragen soll (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az. B 9 V 3/12 R).
Den Maßgaben des BSG vom 17. April 2013 (Az. B 9 V 3/12 R) folgend hat der Senat in den Rechtsstreiten L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 Beweis erhoben durch Einholung von Glaubhaftigkeitsgutachten
durch die Sachverständige Prof. Dr. AA. über die dortigen Angaben der Klägerinnen unter besonderer Berücksichtigung von §
15 KOVVfG.
Aus den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. AA. vom 14. August 2014 und 14. Oktober 2014 ergibt sich auch für den
vorliegenden Rechtsstreit Folgendes:
Die Sachverständige Prof. Dr. AA. hat ihren Gutachten zunächst grundsätzliche Erkenntnisse zu aussagepsychologischen Gutachten
vorangestellt und Ziel und Methodik der aussagepsychologischen Begutachtung erläutert. Dabei ist der Senat davon überzeugt,
dass die Ausführungen der Sachverständigen den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in diesem Fachgebiet widerspiegeln
und sich auch genauso in der entsprechenden Fachliteratur wiederfinden (vgl. u. a.: Renate Volbert "Glaubhaftigkeitsbegutachtung:
Wie man die aussagepsychologische Methodik verstehen und missverstehen kann" in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention
und Intervention, Heft 2 2009, Seite 52 ff.; Luise Greuel, "Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? Zum Problem der
Dogmatisierung in einen wissenschaftlichen Diskurs" in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention,
Heft 2 2009, Seite 70 ff.). Bei der Sachverständigen Prof. Dr. AA. handelt es sich um eine allgemein anerkannte Expertin auf
dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, die seit 1986 forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit mit dem Schwerpunkt
aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung in Fällen sexueller Gewalt- und Missbrauchsdelikte leistet und durch zahlreiche
Buch- und Zeitschriftenpublikationen zu den Schwerpunkten Aussage-, Kriminal-, Vernehmungs- und Polizeipsychologie bekannt
ist. Auch das BSG hat sich in seiner Entscheidung vom 17. April 2013 wiederholt auf Publikationen dieser Sachverständigen bezogen.
Prof. Dr. AA. hat in ihren Gutachten zunächst deutlich gemacht, dass die aussagepsychologische Begutachtung zur Glaubhaftigkeit
einer Zeugenaussage zu den zentralen Aufgabenfeldern der forensischen Psychologie gehört und deren methodischen Prinzipien
unterworfen ist. Die übergeordnete Fragestellung in der psychodiagnostischen Untersuchung laute generell: Wie ist das vorliegende
menschliche Verhalten zu erklären? Übertragen auf die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ergebe sich die übergeordnete
Frage: Wie kann das Zustandekommen der in Rede stehenden Zeugenaussage psychologisch am besten erklärt werden? Damit gehe
es bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung lediglich um die Frage, ob es für die Aussage (z. B. einer Zeugin) andere wahrscheinliche
Erklärungsmöglichkeiten als den Rückgriff auf Selbsterlebtes gebe. Die Zielsetzung der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung
bestehe keinesfalls darin festzustellen, ob eine Person ohne jeden Zweifel die Wahrheit berichte. Aussagen zur Faktizität
eines wie auch immer gearteten Erlebnissachverhaltes würden durch aussagepsychologische Gutachten grundsätzlich nicht getroffen.
Die aussagepsychologische Begutachtung liefere vielmehr Wahrscheinlichkeitsaussagen zu der Frage, ob die Person die vorliegende
Aussage auf dem Hintergrund ihrer individuellen Fähigkeiten unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung
der im konkreten Fall möglichen (auto-)suggestiven Einflüsse hätte erstatten und aufrechterhalten können, ohne dass sie auf
einem wirklichen Erlebnishintergrund basiert. Das Ziel der aussagepsychologischen Begutachtung bestehe darin, den Erlebnisbezug
und die Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zu substantiieren.
Die Sachverständige Prof. Dr. AA. hat weiter betont, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung also nicht mit der -
allgemeinen Glaubwürdigkeit einer Person im Sinne einer überdauernden Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit oder gar moralischen Integrität
befasse, sondern nur mit der konkreten Aussage. Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei Leistungsdiagnostik, d.h., es gehe nicht
um die Frage, ob eine konkrete Person aus habituellen Gründen die Unwahrheit sagen würde, sondern es gelte ganz konkret die
Frage zu beantworten, ob diese Person von ihren psychischen Leistungsvoraussetzungen her und unter den gegebenen Umständen
die vorliegenden Aussage vorgebracht und aufrechterhalten haben könnte, ohne dass sie sich hierbei auf einen wirklichen Erlebnishintergrund
bezieht. - Faktizität der geschilderten Ereignisse befasse. Glaubhaftigkeitsbegutachtungen zielten nicht auf die Bewertung
von Fakten ab, sondern einzig und allein auf die Generierung und Beurteilung von Gedächtnisrepräsentationen, also (verbalisierten)
Erinnerungen. Die Annahme sei falsch, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im Ergebnis feststellen könnten, ob ein geschildertes
Tatgeschehen stattgefunden habe oder nicht bzw. "ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen". - Lügendetektion
befasse. Aussagepsychologische Gutachten könnten weder verifizieren, dass sich ein Geschehen tatsächlich so zugetragen hat,
wie geschildert, noch könnten sie faktisch feststellen, dass es sich bei einer Aussage tatsächlich um eine Lüge handele.
Im positiven Fall könnten aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten
Aussage zurückweisen. Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei letztlich eine Methode zur Substantiierung
des Erlebnisgehalts einer Aussage - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Im Hinblick auf die Methodik der Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung hat die Sachverständige erklärt, dass Psychodiagnostik
zunächst einmal nichts anderes als das systematische Überprüfen von Hypothesen bzw. Erklärungsmodellen für das Zustandekommen
eines konkreten Verhaltens: hier der Entstehung einer konkreten Aussage, sei. Dieser Grundsatz sei bereits 1970 formuliert
worden und begründe bis heute das Primat der hypothesengeleiteten Diagnostik. Es handele sich also keineswegs um eine "Neuerfindung"
des BGH aus dem Jahre 1999, wie verschiedentlich suggeriert werde; selbstverständlich habe der BGH nur die langjährigen fachlichen
Standards der Psychodiagnostik rezipiert und in die von ihm formulierten "wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische
Gutachten" aufgenommen. Dass dieser sich zur Veranschaulichung des hypothesengeleiteten Begutachtungsansatzes der Analogie
zur im experimentellen Methodenverständnis vorherrschenden Unterscheidung von Null- und Alternativhypothese bedient habe,
habe sich im forensischen Diskurs allerdings als eher kontraproduktiv erwiesen. So sei die ursprünglich intendierte Sensibilisierung
für die Notwendigkeit einer ergebnisoffenen Hypothesenprüfung im Sinne einer "Ausschlussdiagnostik" verfehlt worden. Die Sachverständige
Prof. Dr. AA. hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund ihres Erachtens gänzlich auf die Verwendung
des Begriffs der "Nullhypothese" verzichtet werden sollte, weil er in hohem Maße zur Desorientierung aller Beteiligten und
damit letztlich zu (vermeidbaren) Missverständnissen in gerichtlichen Verfahren führe: So werde die irrige Annahme vertreten,
dass psychologische Sachverständige so lange unterstellten, "dass ein angebliches oder tatsächliches Opfer eines Missbrauchs
die Unwahrheit sage, bis diese Vermutung angesichts einer überwältigenden Fülle in entgegenstehender Befunde beim besten Willen
nicht mehr aufrechtzuerhalten sei." Eine derartige Fehlkonzeption verkenne jedoch völlig, dass die Berücksichtigung und systematische
Überprüfung von Hypothesen zum Wesen der Psychodiagnostik schlechthin gehöre.
Unter diesem Aspekt habe der BGH in seinem Folgeurteil vom 30. Mai 2000 eine für die forensische Praxis nutzbringende Klarstellung
vorgenommen und explizit dargelegt, dass es sich bei den von Sachverständigen zu generierenden Untersuchungshypothesen um
rein gedankliche Prüfschritte handele. Entscheidend sei, so die Sachverständige, dass unter Berücksichtigung aller im Einzelfall
sinnvollen bzw. relevanten Erklärungsmodelle Annahmen über das Zustandekommen der konkreten Aussage generiert und durch geeignete
psychodiagnostische Untersuchungsstrategien systematisch überprüft würden. Ob man dieses basale Prinzip der Psychodiagnostik
als "Nullhypothesen"-Prüfung bezeichne oder nicht, sei für die Sache selbst völlig unerheblich.
Bei der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung gehe es also letztlich darum festzustellen, ob es gewichtige Anhaltspunkte
dafür gebe, dass die Aussage auf einer anderen Basis als dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen zustande gekommen
seien könnte. Es sei die übergeordnete Untersuchungsfragestellung zu beantworten:
"Könnte dieser Zeuge/Kläger mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter
Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten seine spezifische Aussage über die fraglichen Ereignisse
machen, wenn er diese überhaupt nicht oder nicht in der geschilderten Form erlebt hätte?"
Nur wenn sämtliche der im Einzelfall relevanten Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese zurückgewiesen werden könnten, weil
sie sich nicht schlüssig mit den erhobenen Befunden in Einklang bringen ließen, sei der logische Schluss gedeckt, dass die
Aussage nicht anders als durch den Rückgriff auf wirkliche Erlebnisse erklärt werden könne. Glaubhaftigkeitsbegutachtung funktioniere
also als eine Art Ausschlussdiagnostik. Der Erlebnisgehalt einer Aussage werde nicht positiv festgestellt, sondern es würden,
im Idealfall, alternative Erklärungen und damit Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer Aussage zurückgewiesen.
Wenn diese nicht zurückgewiesen werden könnten, sei daraus nicht zwangsläufig ableitbar, dass es sich tatsächlich auch um
eine Falschaussage handeln müsse, diese Möglichkeit könne nur nicht mit der gebotenen Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden.
Prof. Dr. AA. hat betont, dass Rückschlüsse auf die faktische Grundlage einer Aussage allein der richterlichen Beweiswürdigung
obliegen. Wissenschaftlich gedeckt sei in derartigen Fällen nur die Aussage, dass sich Zweifel am Erlebnisgehalt der Aussage,
eventuell sogar auf mehreren Prüfebenen, nicht ausräumen ließen.
Weiter hat die Sachverständige erklärt, dass sich der normative Begriff der "Glaubhaftigkeit" quasi als ein sprachliches Kürzel
für das Vorliegen von drei psychologischen Voraussetzungen darstelle, die allesamt erfüllt sein müssen, damit Erlebnisgehalt
und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage bestätigt werden könnten. Hierbei handele es sich um:
- Aussagetüchtigkeit (Ausschluss individueller Leistungsdefizite)
- Aussagequalität (Ausschluss intentionaler Falschaussagen)
- Aussagezuverlässigkeit (Ausschluss nicht-intentionaler Aussagefehler)
Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Aussage ausschließlich Antworten zu diesen
drei übergeordneten Fragestellungen, der hieraus resultierende Schluss auf die "Glaubhaftigkeit" der Aussage sei allein dem
erkennenden Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung überlassen.
Dabei müsse bei der Überprüfung der Aussagezuverlässigkeit der Frage nachgegangen werden, ob für die vorliegende Aussage auch
nicht-intentionale Verfälschungs- und/oder Verzerrungseffekte ausgeschlossen werden könnten. Im Rahmen dieser sog. Fehlerquellenanalyse
gehe es primär darum, durch Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung festzustellen, ob Hinweise auf innere
und/oder äußere Bedingungsfaktoren der Aussage vorliegen, von denen aus der gedächtnispsychologischen Forschung bekannt sei,
dass sie grundsätzlich mit einem (u.U. sogar gravierend) erhöhten Risiko für Wahrnehmungs- und/oder Erinnerungsverfälschungen
einhergingen. Sollten sich im konkreten Einzelfall eine Vielzahl von Indikatoren für die Ausbildung einer falschen Erinnerung
auffinden lassen, so dass die Aussage durch hoch suggestive (interne wie externe) Einflussfaktoren überlagert oder sogar erst
generiert worden sein könnte, dann sei die Methode der Aussageanalyse nicht mehr durchführbar. Suggerierte Aussagen könnten
in ihrer Qualität erlebnisgestützten Aussagen sehr ähnlich sein, gerade dann, wenn die Aussageperson sich über einen langen
Zeitraum sehr intensiv mit entsprechenden "Erinnerungsbildern" und Vorstellungen auseinandergesetzt habe, bis sie zur subjektiven
Gewissheit geworden sei. D.h. aber auch, dass weder die Aussageperson selbst noch die aussagepsychologische Methode dazu in
der Lage sei, zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen trennscharf zu unterscheiden. Prof. Dr. AA. hat betont,
dass es derzeit keine wissenschaftliche Methode gebe, die diese Abgrenzung zwischen erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen
oder gar den positiven Nachweis einer Pseudoerinnerung erlauben würde. Für die Begutachtung bedeute dies, dass mit dem Nachweis
eines hohen Suggestionspotentials in der Aussageentwicklung die Begutachtung abgeschlossen sei. Der Erlebnisbezug der Aussage
könne dann nicht mehr bestätigt werden, weil andere Erklärungen - hier: suggestive Generierung und Kontamination der Aussage
- (mindestens) ebenso wahrscheinlich seien.
Schlüssig zu diesen allgemeinen Ausführungen hat die Sachverständige Prof. Dr. AA. dann im Folgenden dargelegt, dass die vom
BSG in seiner Rechtsprechung vom 17. April 2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung von § 15 KOVVfG bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung mit den fachwissenschaftlichen Inferenzregeln der psychologischen Diagnostik nicht vereinbar
sei und insofern von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden könne. Hier liege eine Vermischung von zwei unterschiedlichen,
voneinander unabhängigen Ebenen vor, nämlich der Ebene der psychologischen Hypothesenprüfung bzw. Inferenz auf der einen und
der Ebene der richterlichen Beweiswürdigung auf der anderen Seite. Diese Vermischung sei möglicherweise darauf zurückzuführen,
dass die aussagepsychologische Methodik zumindest in Teilaspekten missverstanden und dementsprechend bei der Aufstellung dieser
normativen Forderung von falschen Prämissen ausgegangen worden sei. Insbesondere seien die folgenden falschen Prämissen in
vorliegendem Kontext von zentraler Bedeutung:
- dass es sich bei der aussagepsychologischen Begutachtung um einen besonders strengen, primär an den Beweismaßstäben des
Strafrechts (Vollbeweis) ausgerichteten Beurteilungsprozess handele (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55)
- dass aussagepsychologische Gutachten zu einer dichotomen "Glaubhaftigkeitsdiagnose führten (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 55) - dass der Prozess der (aussage-)psychologischen Hypothesenprüfung ähnlich einem statistischem Hypothesentest funktioniere
und vor dem Hintergrund vorab festgelegter Wahrscheinlichkeitsgrade ("sehr hohe Wahrscheinlichkeit" vs. "relative Wahrscheinlichkeit")
durchgeführt werden könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 56)
- dass sich zwischen den im konkreten Einzelfall jeweils relevanten Hypothesen ein "möglichst klarer Unterschied in ihrer
Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit" ergeben müsse (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 57)
Prof. Dr. AA. hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass die psychologische Begutachtung im Allgemeinen und aussagepsychologische
Begutachtung im Besonderen grundsätzlich unabhängig von prozessrechtlichen Rahmenbedingungen und normativen Beweisregeln sei.
Aus der Tatsache, dass Glaubhaftigkeitsgutachten überwiegend in Strafverfahren erstattet würden, sei verschiedentlich abgeleitet
worden, dass hier die (besonders strengen) Beweismaßstäbe des Strafrechts (Vollbeweis) an die zu begutachtende Aussage angelegt
würden. Unter Bezugnahme auf das BGH-Urteil zu Mindeststandards der aussagepsychologischen Begutachtung sei in diesem Zusammenhang
zudem darauf verwiesen worden, dass die aussagepsychologische Begutachtung besonders gut mit dem rechtsstaatlichen Prinzip
der Unschuldsvermutung korrespondiere und den strengen Beweisregeln des Strafrechts damit in besonderer Weise genüge. Prof.
Dr. AA. hat eingeräumt, dass diese Analogie zwar nahe liege; sie hat aber betont, dass die strafrechtliche Unschuldsvermutung
als solche selbstverständlich nicht die (aussage-)psychologische Prüfstrategie begründe. Es könne auch nicht die Rede davon
sein, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung an diesem normativen Beurteilungsmaßstab orientiere. Ausschlaggebend
für die psychologische Hypothesenprüfung und Befundintegration seien ausschließlich fachwissenschaftliche Schlussfolgerungsregeln
der Psychodiagnostik. Zusammenfassend hat die Sachverständige konstatiert, dass es sich bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung
keinesfalls um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer oder gar "besonders strenger" Beurteilungsregeln handele, sondern
um die Anwendung grundlegender logischer Prinzipien, die in allen Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung
angewendet würden. Diese Prinzipien hätten nichts mit (mehr oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun, sondern
seien ausschließlich fachwissenschaftlichen Inferenzregeln und basalen logischen Schlussfolgerungsregeln geschuldet. Ein sachgerecht
erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten sei also per se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen,
ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend sind. Es sei vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten
Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung
deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu
begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug
sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren.
Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als "in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft" oder "mit relativer
Wahrscheinlichkeit glaubhaft" zu beurteilen seien, könnten von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.
Es handele sich im Übrigen auch um ein Missverständnis, wenn davon ausgegangen werde, dass ein aussagepsychologischer Sachverständiger
Angaben erst dann als glaubhaft ansehe, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55). In aussagepsychologischen Gutachten stehe am Schluss des Bewertungsprozesses keine wie auch immer geartete "Glaubhaftigkeitsdiagnose",
sondern nur die Feststellung, dass Zweifel am Erlebnisbezug und der Zuverlässigkeit der Aussage ausgeräumt werden können oder
eben auch nicht. Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ausschließlich
Antworten auf die Frage nach der Aussagetüchtigkeit einer Aussageperson, der Qualität sowie der Zuverlässigkeit ihrer Aussage.
Der hieraus resultierende Schluss auf die "Glaubhaftigkeit" der Zeugenaussagen sei allein dem erkennenden Gericht im Rahmen
der Beweiswürdigung überlassen.
Auch orientiere sich die aussagepsychologische Begutachtung als Einzelfalldiagnostik nicht an extern vorgegebenen Grundwahrscheinlichkeiten.
Die Psychologie sei eine empirische Wissenschaft und treffe demzufolge immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wenn nun gefordert
werde, dass aussagepsychologischen Sachverständigen im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung - im Hinblick auf § 15 S. 1 KOVVfG - aufgegeben werden soll, die Frage zu beantworten "ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert
angesehen werden können" (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 56), dann lasse sich dahinter das Bemühen erkennen, bei schwieriger Beweislage die Anforderungen an das Beweismittel
"Aussage" zu reduzieren. Dies sei eine normative Perspektive, die mit der aussagepsychologischen Perspektive und dem Sachverständigenstatus
nicht kompatibel sei. Hierdurch würde letztlich eine unzulässige Vorverlagerung von Beweiswürdigung in den aussagepsychologischen
Begutachtungsprozess erfolgen. Diese Forderung impliziere aber auch, dass man quasi im Sinne einer quantitativen Niveauabsenkung
"weniger strenge" Maßstäbe bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung anlegen könne. Dies sei - so Prof. Dr. AA. - in
der Sache aber nicht möglich. Sowohl auf der Ebene der Einzelbewertungen als auch bei der Integration der Befunde zu einem
diagnostischen Gesamturteil stelle sich nur die Frage, ob diese konkrete Aussageperson diese spezifische Aussage machen könnte,
wenn sie sich nicht auf ein Erlebnis in der Wachwirklichkeit beziehen würde. Wie hoch die "Messlatte" für die Annahme der
Erlebnishypothese im Einzelfall sei, ergebe sich also zwingend aus den individuellen Kompetenzen der Aussageperson und könne
nicht beliebig abgesenkt werden.
Zusammenfassend hat die Sachverständige klargestellt, dass aussagepsychologische Gutachten von ihrer Logik her nicht darauf
ausgerichtet seien, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen. Es gehe ausschließlich um die
Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Sei diese nicht möglich, könnten andere Ursachen für die Aussage nicht
ausgeschlossen werden (non liquet). Damit sei die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage
oder einer Pseudoerinnerung könne mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.
Ergänzend hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass auch die Frage zu verneinen sei, ob es in einem sachgerecht erstellten
Glaubhaftigkeitsgutachten möglich sei, so lange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen
zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit ergibt.
Dass die diagnostische Hypothesenprüfung grundsätzlich systematisch und ergebnisoffen erfolge, sei bereits hinreichend dargelegt
worden. Das Ziel dieser systematischen Hypothesenprüfung bestehe aber nun gerade nicht darin, Aussagen über die wahrscheinliche
Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es sei nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob die im Einzelfall erhobenen
Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden könnten oder nicht. Verkürzt formuliert gebe es im Grunde
nur zwei mögliche diagnostische Entscheidungen:
- die vorliegenden Befunde ließen sich allein mit dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen erklären
- die vorliegenden Befunde ließen auch andere Erklärungen zu; die Aussage müsse nicht zwangsläufig erlebnisbasiert sein.
Darüber hinaus könnten aussagepsychologische Gutachten - gerade bei inkonsistenter Befundlage - zusätzliche psychologische
Erkenntnisse und Hintergrundinformationen beisteuern, die zu einer differenzierten rechtlichen Würdigung dieser Befundlagen
beitragen könnten.
In Bezug auf die intentionale Falschaussage sei in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass es schlicht keine wissenschaftlich
validen Positivmerkmale für das Vorliegen einer Lüge gebe. Von daher könnten aussagepsychologische Gutachten - jenseits von
Spekulationen - auch keine validen Aussagen darüber treffen, ob bei einem "Non Liquet" das Vorliegen einer Falschaussage denn
wahrscheinlicher sei als der Rückgriff auf eine originäre Erlebniserinnerung. Ein aussagepsychologisches Gutachten könne zwar
erläutern, dass keine der aus psychologischer Perspektive nahe liegenden Erklärungen für die vorgefundene schlechte Aussagequalität
identifiziert werden könne, ein Beleg oder eine Überlegenheit der Falschaussagehypothese sei damit aber nicht gegeben.
Im Hinblick auf die Pseudoerinnerung hat die Sachverständige vergleichbare Ausführungen gemacht und betont, dass es gleichfalls
keine wissenschaftliche Methode zur Unterscheidung von wahren und suggerierten Aussagen gebe. Aus diesem Grund werde - bei
sehr hohem Suggestionspotenzial in der Aussagegenese und Aussageentwicklung - üblicherweise auch auf die Durchführung einer
Qualitätsanalyse der Aussage verzichtet, weil sie ohnehin zu keinem anderen Urteil mehr führen könne. In einem derartigen
Fall obliege es dem aussagepsychologischen Sachverständigen, nachvollziehbar aufzuzeigen, an welchen Punkten der Aussageentwicklung
suggestionsrelevante Einflussfaktoren wirksam geworden sind und wie hoch dieses Suggestionspotential auf die konkrete Aussage
aus psychologischer Sicht einzuschätzen sei.
Zwar sei von anderer Seite darauf hingewiesen worden, dass man in besonders extremen Fällen - etwa bei andauernder suggestiver
Aufdeckungs- und/oder Erinnerungsarbeit - auch zu der Schlussfolgerung kommen könne, dass es deutlich mehr Hinweise für die
Suggestionshypothese als für die Erlebnishypothese gebe, dann nämlich, wenn sich aufzeigen lasse, dass Suggestionsprozesse
nicht nur potenziell, sondern tatsächlich wirksam worden seien. Tatsächlich hält Prof. Dr. AA. es allerdings für problematisch,
bei Vorliegen auch einer Vielzahl von Indikatoren für eine Pseudoerinnerung die Überlegenheit der Suggestionshypothese psychodiagnostisch
zu begründen. Denn, so die Sachverständige, man dürfe nicht übersehen, dass auch Erinnerungen an originär Selbsterlebtes durch
Suggestionsprozesse überlagert werden könnten. In diesem Falle wären etwaige originäre Erinnerungsanteile allerdings nicht
mehr als solche zu identifizieren. Zudem gebe es auch jene Fälle, in denen sich ursprünglich intentionale Falschaussagen unter
extrem ungünstigen Suggestionsbedingungen (etwa wenn man sich lange und intensiv genug in der Vorstellung mit den ursprünglich
erfundenen Szenarien beschäftigt) zu Pseudoerinnerungen entwickeln können, von deren "Wahrheit" die betreffende Person subjektiv
überzeugt sei. Damit könne auch bei der Abgrenzung von erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen streng genommen keine
valide Aussage über die Überlegenheit der Suggestionshypothese, wohl aber über das aus psychologischer Sicht bestehende Suggestionspotenzial
getroffen werden. Dieses könne so hoch sein, dass der Erlebnisbezug der Aussage nicht mehr bestätigt werden könne. Unter extrem
ungünstigen Bedingungen könnten massive Suggestionsprozesse sogar originär erlebnisbasierte Aussagen als Beweismittel "zerstören".
Inwieweit eine in diesem Sinne qualitativ-psychologische Bewertung der Plausibilität konkurrierender Hypothesen für juristische
Tatsachenfeststellung ausreiche, bleibe der richterlichen Beweiswürdigung - vor dem Hintergrund des jeweils anzulegenden Beweismaßstabes
- vorbehalten. Die rechtliche Würdigung dieser Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliege letztlich dem Gericht.
Aus diesen überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr. AA. folgen für den Senat zwei Erkenntnisse:
(1) Die Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen Dipl-Psych. X. und des Sachverständigen Dr. Y. sind de lege artis erstellt
worden und geben keinen Anlass zu der Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens.
(2) Bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung handelt es sich gerade nicht um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer
oder gar "besonders strenger" Beurteilungsregeln, sondern um die Anwendung grundlegender logischer Prinzipien, die in allen
Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung angewendet werden. Diese Prinzipien haben nichts mit (mehr
oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun. Ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten ist also per
se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen, ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend
sind. Es sei vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage
zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen
und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die
Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren. Beweisfragen,
ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als "in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft" oder "mit relativer Wahrscheinlichkeit
glaubhaft" zu beurteilen seien, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden. Aussagepsychologische
Gutachten sind nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen; es geht
ausschließlich um die Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Ist diese nicht möglich, können andere Ursachen für
die Aussage nicht ausgeschlossen werden. Damit ist die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage
oder einer Pseudoerinnerung kann mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.
Schließlich kann ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht so lange systematisch und unvoreingenommen nach
Fakten zu den verschiedenen Hypothesen suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit
bzw. praktischen Gewissheit ergibt. Denn das Ziel der systematischen Hypothesenprüfung besteht gerade nicht darin, Aussagen
über die wahrscheinliche Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es ist nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob
die im Einzelfall erhobenen Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden oder nicht. Darüber hinaus können
aussagepsychologische Gutachten - gerade bei inkonsistenter Befundlage - zusätzliche psychologische Erkenntnisse und Hintergrundinformationen
beisteuern, die zu einer differenzierten Würdigung dieser Befundlagen beitragen können.
Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft oder mit relativer
Wahrscheinlichkeit glaubhaft zu beurteilen sind, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.
Daraus ergibt sich, dass dem aussagepsychologischen Sachverständigen grundsätzlich keine besonderen Beweisfragen allein im
Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gestellt werden müssen. Es ist und bleibt Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu würdigen - womöglich unter Heranziehung
eines "normalen" Glaubhaftigkeitsgutachtens - und sich eine Meinung dazu zu bilden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die
Angaben zutreffen und ob sie bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Fragen zum Umgang mit der Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Hinblick auf
den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG hat der Senat die Revision zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).