Unzulässigkeit eines Beschlusses über die Ablehnung der Fortsetzung eines sozialgerichtlichen Verfahrens im Sinne von § 123 SGG
Gründe
I.
Aus Anlass eines Arbeitsunfalls vom 24.03.2011 hat die Klägerin im August 2011 beim Sozialgericht Düsseldorf eine Klage erhoben,
die dort unter dem Aktenzeichen S 6 U 427/11 geführt worden ist. In einem in diesem Verfahren anberaumten Erörterungstermin am 09.04.2013 hat sie ausweislich des Terminsprotokolls
erklärt: "Ich möchte hier kein unnötiges Verfahren führen und nehme daher die Klage zurück." Ausweislich des Terminsprotokolls
wurde diese Erklärung laut diktiert, der Klägerin vorgespielt und von dieser genehmigt.
Mit am 23.07.2020 beim Sozialgericht Düsseldorf eingegangenem Schreiben hat die Klägerin unter anderem ausgeführt: "Umgehend
wird das Ursprungsverfahren S 6 U 427/11 in den alten Stand versetzt". In weiteren Schriftsätzen an das Sozialgericht hat die Klägerin unter anderem sinngemäß vorgetragen,
am Termin am 09.04.2013 sei kein Bezug zu dem Verfahren S 6 U 427/11 herzustellen gewesen. Sie habe ganz unmittelbar zuvor ihre Mutter verloren und habe noch unter Schock gestanden. Das Verfahren
müsse "neu aufgerollt" und "in den vorigen Stand" versetzt werden.
Nachdem das Verfahren zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 U 363/20 erfasst worden ist, ist es bei der 6. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 6 U 533/20 eingetragen worden. Unter dem 02.02.2021 hat die 6. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf einen Beschluss mit folgendem Tenor
erlassen:
"Der Antrag, das Verfahren S 6 U 427/11 fortzusetzen, wird verworfen."
In den Gründen des Beschlusses hat das Sozialgericht ausgeführt, das Verfahren S 6 U 427/11 sei durch die im Termin vom 09.04.2013 abgegebene Erklärung, welche als Rücknahme zu werten sei, erledigt worden. Eine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Auch könne die Klägerin die damals abgegebene Erklärung nicht mit Erfolg anfechten.
Eine Wiederaufnahme nach §
179 SGG scheide ebenfalls aus. In der Rechtsbehelfsbelehrung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass diese Entscheidung gemäß §
172 Abs.
1 SGG mit der Beschwerde an das Landessozialgericht angefochten werden könne.
Gegen diesen ihr am 10.02.2021 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 03.03.2021 Beschwerde eingelegt. Sie ist der Auffassung,
sie habe zu Recht die Versetzung in den alten Stand beantragt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses begründet.
1. Die Beschwerde ist nicht gemäß §
102 Abs.
3 Satz 2
SGG ausgeschlossen, sondern gemäß §
172 Abs.
1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht gemäß §
102 Abs.
3 Satz 1
SGG das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind. Dieser Beschluss
ist unanfechtbar (§
102 Abs.
3 Satz 2
SGG).
Das Sozialgericht hat hier keinen solchen Beschluss erlassen. Weder entspricht der Tenor des Beschlusses dem Wortlaut des
§
102 Abs.
3 Satz 1
SGG, noch hat das Sozialgericht überhaupt diese Vorschrift erwähnt. Im Übrigen ist der nach herrschender Meinung rein deklaratorische
Beschluss nach §
102 Abs.
3 Satz 1
SGG von dem im Falle eines Streits über die Wirksamkeit eine erklärte Klagerücknahme zu stellenden Antrag auf Fortsetzung des
Verfahrens zu unterscheiden (siehe hierzu z.B. Burkiczak, in: jurisPK-
SGG, §
102 Rn. 94). Hiervon ist auch das Sozialgericht ausgegangen, indem es ausdrücklich einen Antrag der Klägerin, das Verfahren S 6 U 427/11 fortzusetzen, angenommen und diesen verworfen hat.
Für den angefochtenen Beschluss gilt mithin die allgemeine Regel des §
172 Abs.
1 SGG, wonach mangels anderweitiger Bestimmung gegen die Entscheidung der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile die Beschwerde
an das Landessozialgericht stattfindet. Die Beschwerde ist auch nach Maßgabe von §
173 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden.
2. Die Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses begründet. Für den erlassenen Beschluss existiert
keine Rechtsgrundlage. Vielmehr hätte das Sozialgericht über das von ihm zutreffend erfasste Begehren der Klägerin im Sinne
von §
123 SGG, das aufgrund der am 09.04.2013 erklärten Rücknahme erledigte Verfahren S 6 U 427/11 fortzusetzen, durch Gerichtsbescheid oder durch Urteil entscheiden müssen.
Es ist allgemein anerkannt, dass, wenn zwischen den Beteiligten Streit darüber besteht, ob eine Klagerücknahme erklärt worden
oder ob sie wirksam ist, das Klageverfahren fortzuführen ist (vgl. BSG, Urt. v. 28.01.2009 - B 6 KA 11/08 R -, juris Rn. 21; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
102 Rn. 12 m.w.N.). Hiervon ist, wie bereits ausgeführt, auch das Sozialgericht ausgegangen, das sogar zutreffend einen sinngemäß
gestellten Antrag der Klägerin, das Verfahren S 6 U 427/11 ungeachtet der im Termin am 09.04.2013 erklärten Klagerücknahme fortzusetzen, angenommen hat.
Konsequentermaßen muss in dem fortzusetzenden ursprünglichen Klageverfahren dann zunächst geklärt werden, ob das Verfahren
nicht bereits durch wirksame Klagerücknahme gemäß §
102 Abs.
1 Satz 2
SGG erledigt ist. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass eine Erledigung der Hauptsache nicht eingetreten ist, hat es über die
Klage in der durch die Verfahrensordnung vorgegebenen Form, d. h. entweder durch Urteil (§
125 SGG) oder durch Gerichtsbescheid (§
105 SGG), zu entscheiden.
Gleiches gilt nach herrschender Auffassung auch, wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass die Klagerücknahme wirksam erklärt
worden ist (BSG, Urt. v. 26.07.1989 - 11 RAr 31/88 -, juris Rn. 10; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
102 Rn. 12 m.w.N.; ebenso für das verwaltungsgerichtliche Verfahren BVerfG, Kammerbeschluss v. 13.07.1998 - 1 BvR 666/98 -, juris Rn. 8; BVerfG, Kammerbeschluss v. 17.09.2016 - 1 BvR 661/13 - juris Rn. 8; BVerwG, Urt. v. 23.04.1985 - 9 C 48/84 -, juris Rn. 14; und für das finanzgerichtliche Verfahren BFH, Urt. v. 08.07.1969 - II R 108/66, NJW 1970, 631). Das Gericht hat dann im Tenor festzustellen, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache durch Klagerücknahme erledigt ist
oder dass die Klage zurückgenommen ist (siehe hierzu Burkiczak, in: jurisPK-
SGG, §
102 Rn. 95).
Es wird zwar vereinzelt vertreten, dass eine entsprechende Entscheidung ebenso wie im zivilgerichtlichen Verfahren auch durch
Beschluss erfolgen könne. Als Rechtsgrundlage wird dabei §
102 Abs.
3 SGG genannt, der der von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung herangezogenen Vorschrift des §
269 Abs.
4 Satz 1
ZPO entspricht, und als Argument angeführt, dass es bei einer wirksamen Klagerücknahme an einer Klage fehle, die Voraussetzung
für ein Urteil sei (so Hauck, in: Zeihe/Hauck,
SGG, §
102 Anm. 5e im Anschluss an BGH, Beschl. v. 19.10.1977 - VIII ZB 23/77 -, NJW 1978, 1585; differenzierend Burkiczak, in: jurisPK-
SGG, §
102 Rn. 98). Es entspricht jedoch einem allgemeinen prozessrechtlichen Grundsatz, dass bei einem Streit über eine prozessrechtliche
Voraussetzung diese fingiert wird. Dem entspricht es, beim Streit über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme bis zu einer entsprechenden
Entscheidung hierüber von der fortwährenden Anhängigkeit der Klage auszugehen, sodass die Entscheidung in der Form zu ergehen
hat, die bei Anhängigkeit der Klage gelten würde. Zudem ist, wie bereits ausgeführt, der Beschluss nach §
102 Abs.
3 Satz 1
SGG nach ganz herrschender Meinung rein deklaratorischer Natur und von dem Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu unterscheiden.
In jedem Fall hat das Sozialgericht hier, wie bereits ausgeführt, die Regelung des §
102 Abs.
3 SGG für sich nicht in Anspruch genommen. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass es den zutreffend angenommenen sinngemäßen Antrag
der Klägerin, das Verfahren S 6 U 427/11 fortzusetzen, bescheiden müsse und hat diesen Antrag ausdrücklich "verworfen". Für eine solche Entscheidung gibt §
102 Abs.
3 SGG nichts her.
Infolge der dementsprechend gebotenen Aufhebung des angefochtenen Beschlusses hat das Sozialgericht weiterhin in dem ursprünglichen
Verfahren S 6 U 427/11, auf das sich das Fortsetzungsbegehren der Klägerin bezieht, zu prüfen, ob die am 09.04.2013 erklärte Rücknahme der Klage
wirksam ist, und hierüber durch Urteil oder Gerichtsbescheid entscheiden.
Eine Kostenentscheidung hat im Beschwerdeverfahren nicht zu ergehen, weil das Begehren der Klägerin infolge der vom Sozialgericht
gewählten unzutreffenden Entscheidungsform weiterhin beim Sozialgericht anhängig ist. Es wäre zudem unbillig, wenn die Beklagte,
der allein in entsprechender Anwendung von §
193 SGG außergerichtliche Kosten der Klägerin im Beschwerdeverfahren auferlegt werden könnten, für die Folgen von Fehlern des Gerichts
einzustehen hätte. Die Kostenentscheidung bleibt vielmehr dem vom Sozialgericht zu erlassenden Urteil oder Gerichtsbescheid
vorbehalten (vgl. insoweit auch für den Fall einer im Berufungsverfahren festgestellten Unwirksamkeit einer (fingierten) Klagerücknahme
LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 19.05.2017 - L 17 U 315/16 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§
177 SGG).