Festsetzung des Grades der Behinderung nach dem SGB IX bei eingeschränkter Sehfähigkeit
Keine Erforderlichkeit einer Diagnose
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht der Grad der Behinderung (GdB) wegen einer Beeinträchtigung der Sehfähigkeit der Klägerin im
Streit.
Die am 00.00.1997 geborene Klägerin ist das zweitälteste Kind in einer Reihe von fünf Geschwistern. Wegen zunehmender Funktionsstörungen
im Bereich des Sehens erhielt sie während des Schulbesuchs u.a. sonderpädagogische Förderungen. Neben der Schule betrieb sie
Leistungssport (Turmspringen). Nach dem Realschulabschluss durchlief sie ab 2015 im Berufsförderungswerk N eine Ausbildung
zur Physiotherapeutin. Seit 2018 ist sie in einer Vollzeittätigkeit als Physiotherapeutin für schwerstmehrfachbehinderte Kinder
an der M-Schule in E tätig. Bei zwei ihrer (jüngeren) Brüder ist ebenfalls eine ähnliche Entwicklung bezogen auf eine Verschlechterung
der Sehfunktion zu beobachten (Gesichtsfelddefekte). Der Klägerin wurden mittlerweile sog. Blindenstöcke und ein Mobilitätstraining
verordnet.
Durch Bescheid vom 22.01.2013, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 13.02.2013, stellte die Beklagte einen GdB von 30
fest. Dabei stützte sie sich auf eine gutachtliche Stellungnahme vom 23.02.2013, wonach eine Sehstörung sowie ein eingeschränktes
funktionales Sehen - individueller Umgang mit dem Sehvermögen in alltäglichen Situationen - im schulischen Bereich, psychische
Beeinträchtigungen, Hilfsmittelversorgung und sonderpädagogische Förderung jeweils mit einem GdB von 20, der Gesamt-GdB mit
30 bewertet wurden. Die hiergegen gerichtete Klage nahm die Klägerin nach Beweisaufnahme (Gutachten der Sachverständigen Dr.
A, Oberärztin der Untersuchungsstelle für Sehbehinderte im Zentrum für Augenheilkunde des Universitätisklinikums F vom 30.09.2014)
zurück (Sozialgericht (SG) Aachen S 3 SB 285/13).
Am 16.09.2015 beantragte die Klägerin, den GdB höher festzusetzen. Sie leide an einem okulokutanen Albinismus, einer Akkomodationsschwäche,
hohen Einschränkungen des funktionalen Sehens, einer hohen Blendempfindlichkeit und einem auf 0,2/0,25 bzw. 0,06/0,1 reduzierten
Nah-/Fernvisus. Nach Auswertung des beigefügten Arztbriefs der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T vom 15.07.2015
hob die Beklagte den GdB auf 40 an. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, allein der durch den o.a. Arztbrief
belegte eingeschränkte Fernvisus bedinge einen GdB von 40. Unter Berücksichtigung der weiteren angegebenen Beeinträchtigungen
ergebe sich ein GdB von insgesamt 70. Nach Einholung einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme wies die Bezirksregierung
den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 zurück.
Mit ihrer hiergegen am 23.05.2016 erhobenen Klage hat die Klägerin unter Vorlage eines weiteren Arztbriefs des Universitätsklinikums
T über eine Untersuchung durch Frau Prof. Dr. B am 03.09.2016 ihr Begehren weiterverfolgt. Es liege eine Sehstörung vor, deren
Ursache noch nicht festgestellt worden sei. Jedenfalls sei aber ausweislich der vorgelegten Stellungnahme der LVR-Kliniken
vom 08.06.2017 eine psychogene Ursache auszuschließen. Mit Blick auf Teil B Nr. 4 VMG sei - so die Klägerin - zwar auf das
Vorliegen eines morphologischen Korrelats zu achten. Die Sehstörung sei aber bislang nie angezweifelt worden, so dass die
Anforderungen an den Nachweis einer Ursache einer Sehschwäche nicht überbewertet werden dürften.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016
zu verpflichten, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen GdB von 50 und für die Zeit danach
einen GdB von 70 festzustellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ein höherer GdB als 40 sei nicht gerechtfertigt. Im Übrigen habe der Sachverständige Prof. Dr. C einen organisch unauffälligen
Befund erhoben. Es bestehe der Verdacht auf eine psychogene Ursache. Ohne morphologisches Korrelat könne eine Sehstörung nicht
berücksichtigt werden.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichtes des Kinderarztes Dr. D, dem auch Arztbriefe der
o.a. Augenklinik aus April 2014 und September 2016 beigefügt waren. Es hat zudem ein Sachverständigengutachten eingeholt,
das Prof. Dr. C, Direktor der Universitätsklinik N, auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 21.09.2016/17.01.2017
unter dem 01.03.2017 abgefasst hat. Bei unauffälligem Befund lasse sich - so der Sachverständige - das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung
(Sehschärfe, Gesichtsfeldausfälle, Blendempfindlichkeit) nicht erklären. Es bestehe der Verdacht auf eine über Jahre verfestigte
psychogene Störung. Nach den aktenkundigen Fernvisuswerten sei der GdB bis zum 03.09.2016 mit 40, bis zum 12.09.2016 mit 50
und anschließend mit 70 anzusetzen.
Das Sozialgericht hat der Klage durch Urteil vom 24.10.2017 stattgegeben. Die Klägerin leide unstreitig an einer Funktionsstörung
der Augen unklarer Genese. Die bei der Klägerin erhobenen Visuswerte begründeten das Klagebegehren. Nach den dokumentierten
Prüfwerten der Augenfunktionen sei der GdB durch den angefochtenen Bescheid mit 40 zwar anfänglich zutreffend festgesetzt
worden, jedoch sei im Laufe des Verfahrens eine weitere Verschlechterung eingetreten, die die weiteren Anhebungen erforderten.
Es bezieht sich insoweit auf zwei Arztbriefe der Augenklinik des Universitätsklinikums T vom 16.07.2015 (über eine Untersuchung
der Klägerin am 02.07.2015) und vom 03.09.2016 (über eine Untersuchung vom selben Tage) sowie auf die sozialmedizinische Beurteilung
des Sachverständigen. Danach wurde im Juli 2015 unter bestmöglicher Korrektur noch ein Fernvisus von (im Folgenden immer in
der Reihenfolge rechtes Auge/linkes Auge aufgeführt) 0,2/0,25 festgestellt, im September 2016 hatten sich die Werte auf 0,16/0,2
verändert. Den dem reduzierten Fernvisus zuzurechnenden Einschränkungen hat das Sozialgericht dem Sachverständigen folgend
nach der Tabelle in Teil B Nr. 4.3 VMG bis zum 02.09.2016 einen GdB von 40, vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen solchen
von 50 und danach von 70 zugeordnet. Unter Berücksichtigung des noch schlechteren Nahvisus hat es einen GdB von 70 nach dem
12.09.2016 für gerechtfertigt angesehen. Dabei hat es sich auf die anlässlich der Untersuchung vom 16.07.2015 und einer Folgeuntersuchung
vom 25.11.2016 mitgeteilten Werte für den Nahvisus bezogen (Arztbrief vom 16.07.2015: 0,06/0,1; Arztbrief der o.a. Augenklinik
über eine Folgeuntersuchung vom 25.11.2016: 0,05/0,05). Die für den 25.11.2016 festgestellte Verschlechterung, der nach der
Tabelle mit einem GdB von 100 Rechnung zu tragen sei, finde ihre Entsprechung in den von dem Sachverständigen Prof. Dr. C
mitgeteilten Befunden (Ferne: 0,125/0,125; Nähe: 0,05/0,06). Im Übrigen wäre eine über den Antrag hinausgehende Anhebung des
GdB auch über die angegebenen konzentrischen Gesichtsfeldausfälle mit zentraler Restsehinsel möglich; sie bedingten allein
einen GdB nach Teil B Nr. 4.5 VMG von 70.
Wenn sich im Ergebnis auch kein morphologisches Korrelat für die Sehstörungen der Klägerin finden ließe, stehe dies einer
Beurteilung der Beeinträchtigungen unter Rückgriff auf Teil B Nr. 4 VMG nicht entgegen. Danach sei zwar auch darauf zu achten,
dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt. Dies sei aber einschränkend dahin auszulegen, dass diese Regelung
nur den grundsätzlichen Maßstab eines Vollbeweises für finale Teilhabebeeinträchtigungen durch Sehstörungen aufzeige. Ihm
dürfe aber kein universeller Geltungsanspruch dahingehend beigemessen werden, dass ohne morphologischen Befund keine Sehbehinderung
angenommen werden dürfe, obwohl sich der Vollbeweis für diese Beeinträchtigung ausnahmsweise doch führen lasse. Die von der
Beklagten vertretene Auffassung verstieße gegen höherrangiges Recht (Begriff der Behinderung in § 69 Abs. 1,
§
2 Abs.
1 S. 1
SGB IX) und setze sich in Widerspruch mit den VMG (Teil A Nr. 2 Buchstabe a Sätze 2 und 3 zu § 2 VMG). Danach sei der GdB auf alle
Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache in ihren Auswirkungen in allen Lebensbereichen bezogen (Finalitätsprinzip).
Das Sozialgericht hat es als erwiesen angesehen, dass die Klägerin an einer bis dato progredienten Störung ihrer visuellen
Fähigkeiten leide.
Gegen das ihr am 15.11.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 07.12.2017 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, das Finalitätsprinzip
bedeute nicht, dass in letzter Konsequenz subjektive Darstellungen eines Antragstellers/einer Antragstellerin ohne fachgerechte
Einschätzung übernommen werden könnten. Der Anregung des Sachverständigen, ein psychosomatisches Gutachten einzuholen, sei
das Sozialgericht nicht gefolgt. Das vorgelegte Attest der LVR-Kliniken sei keinesfalls ausreichend, um einen derart komplizierten
Sachverhalt aufzuklären und ein Gutachten zu ersetzen. Die von dem Sachverständigen aufgeworfenen Zweifel fänden sich bereits
in dem Bericht der Universitätsklinik I vom 25.11.2016. Es seien durchaus anamnestische Auffälligkeiten vorhanden, die weitere
Ermittlungen angezeigt erscheinen ließen. Die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren habe keine wesentlichen neuen Erkenntnisse
erbracht. Widersprüche in der Befunderhebung seien nicht erklärt/aufgelöst worden. Mit Blick auf die beruflichen und privaten
Aktivitäten der Klägerin sei eine wesentliche Teilhabeeinschränkung nicht zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die Objektivierbarkeit der Beeinträchtigungen nicht auf den augenärztlichen Nachweis beschränkt
sei, er könne auch durch die Lebensumstände, die Krankheits- und Therapiegeschichte geführt werden. Sie weist darauf hin,
dass Sehprobleme nicht erst in der Pubertät, sondern schon sehr viel früher aufgetreten seien (augenärztliche Betreuung mit
6 Monaten; Brillenversorgung im Kindergartenalter, Probleme bei der Schuleingangsuntersuchung). Inzwischen habe sie auch erhebliche
Probleme beim Nacht- und Dämmerungssehen; ihr seien Blindenstöcke und ein Mobilitätstraining verschrieben worden. Vergleichbare
Symptome seien bei zwei ihrer (jüngeren) Brüder aufgetreten. Vor diesem Hintergrund werde eine weitere Ursachenforschung in
der Universitätsklinik H betrieben. In der Universitätsklinik I1 sei der Verdacht einer Retinitis pigmentosa geäußert worden,
dem weiter nachgegangen werde. Ihre gute räumliche Orientierung beruhe im Wesentlichen auf dem räumlichen Vorstellungsvermögen
verbunden mit ihrer ausgeprägten "alternativen" Wahrnehmung ("Echoortung") und lasse keine Rückschlüsse auf das Sehvermögen
zu.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts des Hausarztes Dr. O, der keine weiterführenden Angaben
zu Sehstörungen o.Ä. enthält. Es hat darüber hinaus die Stellungnahme der LVR-Kliniken vom 08.06.2017 und die medizinischen
Unterlagen der Bundesagentur für Arbeit, die ihr zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf berufsfördernde Leistungen
(Ausbildung zur Physiotherapeutin) vorlagen, beigezogen. Schließlich hat es Sachverständigengutachten eingeholt, die Prof.
Dr. P, Direktor der Universitäts-Augenklinik B1, unter dem 22.11.2018, Dr. R, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie,
unter dem 04.02.2019, und der Dipl.-Psych. Dr. S unter dem 13.12.2018 erstattet haben.
Wie bereits Prof. Dr. C und die Sachverständige Dr. A im Verfahren SG Aachen S 3 SB 285/13 hat auch Prof. Dr. P für sein Fachgebiet keine Befunde erhoben, die das Beschwerdebild erklären könnten; das Verhalten sei
mit den angegebenen Einschränkungen nur schwer bis überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Der Sachverständige Dr. R hat unter
Einbeziehung des neuropsychologischen Gutachtens des Dr. S keinerlei Einschränkungen und Beschwerden auf neurologisch-psychiatrischem
Fachgebiet festgestellt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Gerichts- und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Vorprozessakte SG Aachen S 3 285/13 verwiesen;
dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen Urteil vom 24.10.2017 die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom
17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 verpflichtet, den GdB für die Zeit vom 03.09.2016 bis
zum 12.09.2016 auf 50 und für die Zeit danach auf 70 festzusetzen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt
die Klägerin in ihren Rechten (§
54 Abs.
2 S. 1
SGG). Die Beklagte hat der Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 22.01.2013 vorgelegen
haben (§ 48 Abs. 1 S. 1 SGB X), nur unzureichend Rechnung getragen, indem sie den GdB mit 40 zu niedrig festgesetzt hat. Die Klägerin hat einen Anspruch
auf die Festsetzung jedenfalls des GdB, den sie in der mit dem Klageantrag begrenzten Höhe begehrt hat.
Dies folgt aus §
152 Abs.
1 S. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) idF des BTHG vom 23.12.2016
BGB. I 3234; bis zum 31.12.2017 inhaltsgleich §
69 Abs.
1 S. 1
SGB IX). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Vorschrift
knüpft an den in §
2 Abs.
1 S. 1
SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit
oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach §
152 Abs.
1 S. 5
SGB IX (ebenso
§
69 Abs.
1 S. 5
SGB IX aF) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Wenn
mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft vorliegen, wird nach §
152 Abs.
3 S. 1
SGB IX (§
69 Abs.
3 S. 1
SGB IX aF) der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festgestellt. Grundlage der Bemessung des GdB bilden die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) in der Anlage
zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) (vgl. §
153 Abs.
2 SGB IX (§
70 Abs.
2 SGB IX aF); § 241 Abs. 5
SGB IX). Nach den allgemeinen Hinweisen (Teil A) zu der Tabelle (Teil B) sind die angegebenen GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall
sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel
innerhalb der in Teil A Nr. 2 e genannten Funktionssysteme (Gehirn einschl. Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf;
Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf)
zusammenfassend zu beurteilen; die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung.
Die von der Klägerin geltend gemachte eingeschränkte Sehfähigkeit ist eine Behinderung im Sinne des §
2 Abs.
1 SGB IX.
Zur Überzeugung des Senates steht es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass das Sehvermögen der Klägerin erheblich
von dem für das Alter typischen abweicht. Die Sehschärfe ist erheblich herabgesetzt, darüber hinaus ist die Klägerin licht-
und blendempfindlich, ihr Gesichtsfeld ist konzentrisch eingeengt. Durch diese eingeschränkten Sehfunktionen ist sie in ihrer
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erkennbar beeinträchtigt. Wegen des eingeschränkten Visus (nah und fern) ist vor allem
das Lesen sehr mühsam, es gelingt nur mit technischen Hilfsmitteln. Schwierigkeiten beim Sehen bestehen vor allem, wenn Kontraste
im Sehfeld fehlen. Um Sicherheit zu gewinnen, geht sie etwa in neuer Umgebung Wege vorher einmal in Begleitung ab, im Dunkeln
läuft sie nur bekannte Strecken.
Das Gericht gelangt zu diesen Feststellungen bezogen auf die hier allein in Rede stehenden Sehstörungen und die dadurch bedingten
Beeinträchtigungen in der Teilhabe am Leben der Gesellschaft anhand der dokumentierten Untersuchungsergebnisse der behandelnden
Ärztinnen/Ärzte, der Sachverständigen dieses Verfahrens und des Vorverfahrens SG Aachen S 3 SB 285/13 sowie der Angaben der Klägerin.
Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass die bislang erhobenen Befunde kein morphologisches Korrelat für die angegebenen Einschränkungen
liefern; dies gilt auch für die von den Sachverständigen Prof. Dr. C und Prof. Dr. P durchgeführten Untersuchungen. Der Sachverständige
Prof. Dr. P ist in seinem Gutachten vom 22.11.2018 nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse sowohl von Prof. Dr. C als
auch von Dr. A im Verfahren SG Aachen S 3 SB 285/13 zusammenfassend zu dem Ergebnis gelangt, es seien auf seinem Fachgebiet nur eine leichte Weit- und Stabsichtigkeit festzustellen,
aber darüber hinaus keine Befunde, die die Beschwerden erklären könnten. Die Prüfung des Gesichtsfeldes habe auch zu unschlüssigen
Werten geführt; die Art der Eingrenzung sei für psychogen überlagerte Gesichtsfeldeinschränkungen typisch. Ob es sich bei
dem Krankheitsbild letztlich um eine psychosomatische oder psychiatrische Erkrankung, eine komplexe Lernstörung, eine Aggravation
oder Simulation handele, könne er nicht bewerten; ggf. könne aber eine Untersuchung durch eine auf Kinder- und Jugendpsychiatrie
spezialisierte Institution weiterhelfen. Er selbst habe aber - dies hat er dem Sachverständigen Dr. R auf dessen telefonische
Nachfrage mitgeteilt - keine Hinweise auf Aggravation oder Simulation gefunden.
Daraus folgt als Zwischenergebnis aber zunächst nur, dass anhand der bisher erhobenen Befunde eine Diagnose auf augenärztlichem
Fachgebiet für die dargestellten Beschwerden nicht gestellt werden kann. Das schließt jedoch nicht aus, dass die geltend gemachten
gesundheitlichen Beeinträchtigungen überhaupt bestehen. Insoweit sind, wie die Untersuchungen in H und I1 zeigen, die differentialdiagnostischen
Überlegungen nicht abgeschlossen, die Sachverständigen C und P sehen Anhaltspunkte für psychogene Ursachen.
Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen, der Frage der Ursache der Beeinträchtigungen weiter nachzugehen. Denn er hält die
Beeinträchtigungen in einem Umfang für erwiesen, der die von der Klägerin begehrte Feststellung trägt. Für die Berücksichtigung
der Sehstörung und der durch sie bedingten Beeinträchtigung bei der Festsetzung des GdB ist ein organisches Korrelat bzw.
eine Diagnose nicht erforderlich.
Auch ohne eine Diagnose, die grundsätzlich dazu beitrüge, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin und das Beschwerdebild
insgesamt besser einordnen zu können, kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Sehfähigkeit im Rahmen der dokumentierten
Untersuchungsergebnisse eingeschränkt ist.
Für ein besseres Sehvermögen, auf das die Klägerin auch zugreifen kann, liefert das "Verhalten" der Klägerin Anhaltspunkte:
so bewegt sie sich in der Untersuchungssituation in einem abgedunkelten Raum, ohne gegen Möbelstücke zu stoßen; sie gibt in
kurzen Abständen unterschiedliche und sich schnell verschlechternde Sehschärfenwerte an, die von ihrer Mitwirkung wesentlich
abhängig nicht nachvollziehbar sind; bei der Prüfung der konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung beschreibt sie sie ein unverändertes
Gesichtsfeld, obwohl sich die Größe angesichts der Untersuchungsanordnung hätte anders darstellen müssen; der Sachverständige
Dr. R hat ein jedenfalls fingerperimetrisch freies Gesichtsfeld festgestellt. Hinzu kommt, dass die Klägerin trotz angeblich
hoher Blendempfindlichkeit eine abgedunkelte Brille nicht konsequent bzw. nicht in erwartbarer Weise nutzt. Schließlich fällt
es schwer anzunehmen, dass blinde Menschen Turmspringen als Leistungssport wählen und weiter betreiben, obwohl das Einüben
von Bewegungsabläufen im Training sinnfällig beinhaltet, dass es zu Situationen kommt, die mit den eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten
nicht zu beherrschen sind.
Dem steht aber entgegen, dass sich das Krankheitsbild konsistent und insofern widerspruchsfrei durch ihre Biografie zieht.
Die geltend gemachten Sehstörungen bestimmen ihren Alltag in allen Lebensbereichen und Lebensabschnitten: in der Schulzeit,
bei der Wahl der Ausbildung und Arbeitsstelle, bei der das Wissen um die Möglichkeiten eines Sehbehinderten von Vorteil sind,
im privaten Bereich, mittlerweile sind ihr Blindenstöcke und ein Mobilitätstraining verordnet worden, unbekannte Wegstrecken
werden vorher erkundet. Es mögen gewisse Zweifel verbleiben, ob die Klägerin in bestimmten Situationen bewusstseinsfern auf
(bessere) Sehfähigkeiten zurückgreifen kann, als geltend gemacht. Angesichts der bereits weit über zehn Jahre "gelebten" weiteren
Verschlechterung der Augenfunktionen sieht der Senat aber keinen gewichtigen Zweifel, dass die Störungen entweder organisch
bestehen oder der Beschwerdekomplex so erlebt wird.
Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass nicht nur die geltend gemachte Funktionsstörung mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit besteht, sondern dass der Nachweis auch des Umfangs dieser Funktionsstörung mithilfe der vorliegenden Untersuchungsergebnisse
insbesondere der Sehschärfe erbracht ist. Ist eine Täuschung ausgeschlossen, dann sind die Untersuchungsergebnisse Ausdruck
der - aus welchem Grund auch immer - bestehenden Beeinträchtigungen und bilden das Beschwerdebild ab.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es unerheblich, dass die eingeschränkte Sehfunktion nicht durch einen ophthalmologischen
Befund diagnostisch abgeklärt ist.
Für die Einordnung als Behinderung ist es ohne Bedeutung, welcher Diagnose die Beeinträchtigung zuzuordnen ist. Der Behindertenbegriff
im Sinne des §
2 Abs.
1 S. 1
SGB IX ist umfassend und bezieht alle körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen ein (s. etwa BSG Urteile vom 11.08.2015 - B 9 SB 1/14 R und vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R). Erforderlich ist allein, ob eine Abweichung nach Maßgabe dieser Vorschrift vorliegt und dadurch die Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft beeinträchtigt wird.
Befunde für eine Diagnose auf augenärztlichem Fachgebiet und die Diagnose als solche mögen für die insoweit notwendigen Feststellungen
im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erhalten können (s.o.); sie sind aber nicht Voraussetzung dafür, eine festgestellte
Abweichung/Beeinträchtigung überhaupt bei der Feststellung des GdB berücksichtigen zu können. Für die Auswirkungen auf die
Teilhabe am Leben der Gesellschaft, die als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen sind (§
152 Abs.
1 S. 5
SGB IX), ist die Diagnosestellung nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung.
Die Bewertung des GdB durch das Sozialgericht ist zutreffend nach Maßgabe der VMG erfolgt. Diese geben in der GdS-Tabelle
eine Struktur nach Organ- und Funktionssystemen vor. Die Betrachtung in dieser Struktur dient der sachangemessenen, einheitlichen
Bewertung der verschiedenen Auswirkungen einzelner und mehrerer Behinderungen in ihrer Relation untereinander (BSG Urteil vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R; Rdnr. 16, 26). Die Zuordnung zu den Organ- und Funktionseinheiten folgt medizinischen Gegebenheiten (BSG aaO). Die Diagnose von Gesundheitsstörungen ermöglicht deren Einordnung in dieses Organ- und Funktionssystemen. Ob die eingeschränkte
Sehfunktion der Klägerin etwa dem Sehorgan (Teil B 4 VMG) oder Nervensystem und Psyche (Teil B 3 VMG) zuzuordnen und der GdB
nach den jeweiligen GdS-Sätzen zu bewerten wäre, hinge wesentlich von der Diagnosestellung ab.
Ohne die Möglichkeit einer solchen Zuordnung ist die Gesundheitsstörung aber nicht per se von einer Feststellung ausgeschlossen.
Eine Vorgabe, dass Sehstörungen aus rechtlichen Gründen deshalb nicht berücksichtigt werden dürfen, weil ein entsprechendes
morphologisches Korrelat nicht festgestellt werden konnte, enthalten die VMG nicht. Die Beklagte kann sich mit ihrer Auffassung
insbesondere nicht auf die Teil B Nr. 4 VMG stützen. Dort heißt es, bei der Beurteilung von Störungen des Sehvermögens sei
darauf zu achten, dass der morphologische Befund die Sehstörung erklärt. Schon vom Wortlaut her ("darauf ...achten") wird
hier jedoch kein Ausschlusskriterium, sondern vielmehr ein Prüfposten für die sozialmedizinische Beurteilung als Qualitätsmerkmal
formuliert. Die Vorgabe dürfte dem Umstand Rechnung tragen, dass die Bestimmung der (korrigierten) Sehschärfe als wesentliches
Merkmal für die Bemessung des GdS (VMG Teil B Nr. 4 Satz 2) von der Mitwirkung des Antragstellers/der Antragstellerin abhängig
ist.
Ebenso wenig enthält die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, auf die sich die Beklagte bezieht (s. BSG Urteil vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R), Ansätze für die von ihr vertretene Auffassung. Die Entscheidung betrifft allein die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen
für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Blindheit" (Merkzeichen Bl). In diesem Zusammenhang ist das BSG zu dem Ergebnis gelangt, Teil A Nr. 6 Buchstabe c) VMG erfasse nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn
und Zweck der VMG ausschließlich ophthalmologische Erkrankungen unter Ausschluss neurologischer Störungen. Dem Anliegen entsprechend,
Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe durch möglichst zielgenauen und weitgehenden Ausgleich ihrer Funktionsbeeinträchtigungen
zu ermöglichen, enthalte das Schwerbehindertenrecht u.a. eine Vielzahl von Nachteilsausgleichen. Das Merkzeichen Bl biete
den Ausgleich für Störungen des Sehapparates im organischen Sinne, für gnostische - neuropsychologische - Störungen des visuellen
Erkennens, die schwerpunktmäßig anderen Bereichen zuzuordnen sind, ständen andere Nachteilsausgleiche passgenau zur Verfügung.
Streitgegenstand und Argumentation bieten keine Handhabe, nur Störungen des Sehapparates im organischen Sinn bei Festsetzung
des GdB zu berücksichtigen.
Den Sehstörungen ist mit einem GdB von 50 für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 und daran anschließend 70 Rechnung
zu tragen.
Die Zuordnung zu GdS-Werten im Teil B VMG erfolgt über das Organsystem "Sehorgan". Da die Ursache der Sehstörungen nicht bekannt
ist, ist eine direkte Zuordnung zu diesem Organsystem mit den dort aufgeführten GdS-Werten nicht möglich. Wegen des fehlenden
morphologischen Korrelats und Auffälligkeiten etwa bei der Gesichtsfeldüberprüfung mag auch eine neuropsychologische/psychosomatische
Störung des Sehens in Betracht kommen. Ohne eindeutigen Anknüpfungspunkt ist der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen
zu beurteilen. Dieser Vergleich mit Gesundheitsstörungen, zu denen in der Tabelle feste GdS-Werte angegeben sind, findet sich
in VMG als taugliches Instrument zur Bemessung des Gesamt GdB (vgl. Teil B Nr. 1 Buchstabe b VMG zu Gesundheitsstörungen,
die in der Tabelle nicht aufgeführt sind; vgl. auch Teil A Nr. 4 Buchstabe a VMG oder Teil B Nr. 33 2. Absatz VMG).
Eine Vergleichbarkeit mit den unter "Nervensystem und Psyche" Teil B Nr. 3 VMG (Nervensystem und Psyche) aufgeführten Gesundheitsstörungen/Beeinträchtigungen
und den ihnen zugeordneten GdS-Werten ist nicht herzustellen. Bietet schon die allein in Betracht kommende Nr. 3.7 wegen des
Kriteriums der "stärker behindernder Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit" nur einen
losen Anknüpfungspunkt, werden Art und Ausmaß der Beeinträchtigungen der Klägerin auch deshalb nicht abgebildet, weil das
Bewertungssystem ganz wesentlich über den Grad sozialer Anpassungsschwierigkeiten geprägt ist.
Eine Vergleichbarkeit besteht aber über die Funktionalität zu Teil B Nr. 4 VMG (Sehorgan, Augen) und den dort aufgeführten
GdS-Werten.
Danach hat die Beklagte auf den Antrag der Klägerin vom 15.09.2016 hin den GdB wegen der Sehstörungen im Ausgangspunkt zutreffend
mit 40 bewertet. Belegt wird dies mit den Ergebnissen der am 02.07.2015 im Universitätsklinikum des Saarlandes durchgeführten
Untersuchung, die einen Fernvisus mit bestmöglicher Korrektur von 0,2/0,25 erbracht hat (Arztbrief vom 16.07.2015) und nach
der Tabelle in Teil B Nr. 4.3 VMG einen GdB in dieser Höhe rechtfertigt, wenn man der Vorbemerkung zu der Tabelle folgend
den Sehschärfewert des besseren Auges (0,25) zu Grunde legt.
Durch eine weitere Untersuchung in derselben Augenklinik am 03.09.2016 wird eine Verschlechterung der Sehschärfe dokumentiert
(Fernvisus 0,16/0,2; Arztbrief vom 03.09.2016), die nach der o.a. Tabelle bei Berücksichtigung der besseren Sehschärfe 0,2
einen GdB von 50 bedingt.
Die Untersuchung durch den Sachverständigen Prof. Dr. C am 21.09.2016 erbrachte schließlich einen Nahvisus von 0,05/0,06 und
einen Fernvisus von 0,125/0,125 jeweils bei bestmöglicher Korrektur. Dies entspricht einem GdB von mindestens 70. Ob für die
Zeit ab dem 13.09.2016 bezogen allein auf die Sehschärfe, mit der die Höhe des GdB bis hierhin begründet wurde, eine so kurzfristige
Verschlechterung des Nah-/Fernvisus festzustellen ist, kann offenbleiben. Art und Umfang der auch vom Sachverständigen Prof.
Dr. P beschriebenen Gesichtsfeldeinschränkungen rechtfertigen als solche, jedenfalls aber zusammen mit dem auf 50 anzuhebenden
GdB, einen GdB von insgesamt 70.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 Abs.
1 SGG.
Der Senat hat die Berufung zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).