Unbegründetheit der Beschwerde gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von
Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII
Anforderungen an die Berücksichtigung eines coronabedingten und eines religionsbedingten Mehrbedarfs
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgemäß am 12.01.2021 eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Münster vom 16.12.2020, mit dem es den im Wege der einstweiligen Anordnung (§
86b Abs.
2 des
Sozialgerichtsgesetzes -
SGG) sinngemäß gestellten und im Beschwerdeverfahren aufrecht erhaltenen Antrag,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig höhere Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII unter Berücksichtigung eines coronabedingten und eines religionsbedingten Mehrbedarfs zu bewilligen,
abgelehnt hat, ist unbegründet.
1. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt, weil der Antragsteller auch
im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats keinen Anordnungsanspruch
gegen die Antragsgegnerin - also den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird - glaubhaft gemacht
hat (§
86 Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung -
ZPO).
Nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller sowohl das Bestehen eines materiell-rechtlichen
Anspruchs auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund)
glaubhaft macht (§
86b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund allerdings nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr zwischen
beiden eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt.
Die Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann entweder auf eine Folgenabwägung oder eine
summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher
und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden
und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach
Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfGE 126, 1 <27 f.>). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver
hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen
(vgl. BVerfGE 79, 69 <75>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2013 - 1 BvR 2366/12, Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13, Rn. 20; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 - 1 BvR 733/18, Rn. 4). Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich - etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher
Aufklärungsmaßnahmen bedürfte -, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss
vom 14. März 2019 - 1 BvR 169/19, Rn. 15).
Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, denn nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
vorzunehmenden summarischen Prüfung besteht kein Anspruch auf höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII). Dies gilt sowohl für den coronabedingten (dazu unter a)), als auch für den religionsbedingten Mehrbedarf (dazu unter b)).
a) Als Anspruchsgrundlage für einen coronabedingten Mehrbedarf kommt nur § 27a Abs. 4 SGB XII in Betracht, denn die in § 30 SGB XII vorgesehenen Mehrbedarfe sind insoweit nicht einschlägig.
Nach § 27a Abs. 4 Nr. 2 SGB XII wird im Einzelfall der Regelsatz abweichend von der maßgebenden Regelbedarfsstufe festgesetzt (abweichende Regelsatzfestsetzung),
wenn ein durch die Regelbedarfe abgedeckter Bedarf nicht nur einmalig, sondern für eine Dauer von voraussichtlich mehr als
einem Monat unausweichlich in mehr als geringem Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe liegt, wie sie sich nach den bei
der Ermittlung der Regelbedarfe zugrundeliegenden durchschnittlichen Verbrauchsausgaben ergeben, und die dadurch bedingten
Mehraufwendungen begründbar nicht anderweitig ausgeglichen werden können.
Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt ("im Einzelfall"), dient sie dazu, individuelle Mehrbedarfe zu decken,
die sich z.B. aufgrund einer Erkrankung oder sonstiger spezieller Umstände ergeben können. Damit scheidet ein coronabedingter
Mehrbedarf auf der Grundlage dieser Vorschrift bereits aus, denn die Auswirkungen der Pandemie betreffen die gesamte Gesellschaft
und nicht nur Einzelne. Im Übrigen ist in dem Gesetz zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene
Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes
aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) nunmehr zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang
stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro enthalten (vgl. BT-Drs. 19/26542). Weitergehende Zahlungen
sind gesetzlich nicht vorgesehen und könnten daher vom Senat selbst dann nicht zugesprochen werden, wenn er die gesetzlichen
Regelungen für verfassungswidrig halten würde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.11.2005 - 1 BvR 1178/05, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07. Januar 2019 - L 23 SO 279/18 B ER).
b) Als Anspruchsgrundlage für einen religionsbedingten Mehrbedarf kommt allein § 30 Abs. 5 SGB XII in Betracht, denn der Antragsteller beruft sich darauf, dass er sich aufgrund seines jüdischen Glaubens koscher ernähren
müsse und dies mit Mehrkosten verbunden sei. Nach dieser Vorschrift wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von
einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf
in angemessener Höhe anerkannt. Voraussetzung ist also, dass aus physiologischen Gründen ein objektiver Bedarf an einer besonderen
Ernährung besteht, die auf einer spezifischen Ernährungsempfehlung beruht. Demgegenüber reicht ein bestimmtes Ernährungsverhalten
oder ein Umgang mit Lebensmitteln, dem keine spezifische, physiologisch bestimmte Kostform zugrunde liegt, nicht aus (vgl.
BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 8/15 R, Rn. 15). Physiologische Gründe für einen Mehrbedarf sind indes nicht ersichtlich und werden von dem Antragsteller auch
nicht geltend gemacht. Er beruft sich vielmehr darauf, dass er sich aufgrund seiner Religionszugehörigkeit koscher ernähren
müsse und daher einen Mehrbedarf habe.
Für ein solches Begehren gibt es jedoch keine Anspruchsgrundlage. Ein Rückgriff auf § 27a Abs. 4 SGB XII kommt insoweit - jedenfalls nach summarischer Prüfung - nicht in Betracht. Der Gesetzgeber hat in § 30 Abs. 5 SGB XII definiert, unter welchen Voraussetzungen ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung anzuerkennen ist, nämlich nur bei
Vorliegen von physiologischen Gründen (s.o.). Diese Anforderungen dürfen nicht dadurch unterlaufen werden, dass ein solcher
Mehrbedarf auch nach § 27a Abs. 4 SGB XII gewährt werden kann. Daher ist § 30 Abs. 5 SGB XII insoweit als abschließende Sonderregelung anzusehen, die einen Rückgriff auf § 27a Abs. 4 SGB XII ausschließt (vgl. BT-Drucks. 17/1465, S. 9 zur Parallelregelung in § 21 Abs. 6 SGB II).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).