Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer; EU-Bürger; Leistungsausschluss
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im gerichtlichen Eilverfahren um einen Anspruch des 1985 geborenen Antragstellers auf aufstockende
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch, 2. Buch (SGB II), ergänzend zu dem von ihm bezogenen Arbeitsentgelt aufgrund einer Tätigkeit für die Obdachlosenhilfe der Gemeinde S.
Der Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger, war selbst während seines Aufenthalts in Deutschland seit 2019 längere
Zeit wohnungslos und hat am 31. März 2022 mit der Gemeinde S einen Arbeitsvertrag über eine Erwerbstätigkeit über regelmäßig
6 Stunden wöchentlich, vergütet nach der Entgeltgruppe 1 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2022 abgeschlossen.
Nachdem er zuvor am 15. März 2022 gegenüber dem Antragsgegner einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem SGB II gestellt hatte, hat er am 9. Mai 2022 bei den Sozialgerichts Schleswig einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gestellt.
Auf diesen Antrag hat das Sozialgericht Schleswig den Antragsgegner mit Beschluss vom 25. Mai 2022 vorläufig verpflichtet,
dem Antragsteller vom 9. Mai 2022 bis längstens 30. September 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem
SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 14. Juni 2022.
Der Antragsgegner ist der Ansicht, es handele sich bei der von dem Antragsteller vergüten Tätigkeit nicht um eine tatsächliche
und echte wirtschaftliche Tätigkeit. Die Beschäftigung bei der Gemeinde S diene nämlich im Wesentlichen der Reintegration
Obdachloser in die Gesellschaft. Er sei daher nicht als Arbeitnehmer im europarechtlichen Sinne zu qualifizieren und könne
seinen Aufenthalt in Deutschland nicht auf § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU stützen.
Der Antragsgegner - Ausländerbehörde - hat mit Bescheid vom 30. Juni 2022 festgestellt, dass der Antragsteller sein Recht
auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU verloren habe.
Der Antragsteller tritt der Beschwerde entgegen. Er hat über seine Bevollmächtigte mitgeteilt, dass er gegen den Bescheid
vom 30. Juni 2022 Rechtsbehelfe einlegen werde.
Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der
Gerichtsakten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens sowie der Verwaltungsakte des Antragsgegners, alle vorliegend in
elektronischer Form, Bezug genommen.
II.
Die fristgerecht innerhalb der Beschwerdefrist von einem Monat gemäß §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingegangene Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig.
Die Beschwerde ist aber nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen
Beschluss den Antragsgegner vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller ergänzende Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Gemäß §
86 b Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen
muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem
Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss
eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile
nicht zuzumuten ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Dabei hat das Gericht die Belange
der Öffentlichkeit und des Antragstellers miteinander abzuwägen.
Vorliegend ist ein Anordnungsanspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II glaubhaft gemacht worden, weil der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen
oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält und er damit hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II ist. Zudem erfüllt er die weiteren Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 SGB II. Insbesondere greift der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht ein, wonach Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt
oder die gar kein Aufenthaltsrecht haben, von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind.
Der Antragsteller hat nämlich ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU.
Der Begriff des Arbeitnehmers in § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ist europarechtlich geprägt. Die Arbeitnehmereigenschaft
im Sinne des Rechts der Europäischen Union beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick
auf Rechte und Pflichten kennzeichnen. Arbeitnehmer in diesem Sinne ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt,
wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich
darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für
einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der Umstand, dass
eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet kann ein Anhaltspunkt dafür sein,
dass die ausgeübte Tätigkeit untergeordnet und unwesentlich ist. Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit
bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass
eine Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann.
Auch die Dauer der von dem Betroffenen ausgeübten Tätigkeit ist ein Gesichtspunkt, der dabei Berücksichtigung finden kann.
Der bloße Umstand der kurzen Dauer einer Beschäftigung führt als solcher aber nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich
der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist. Liegen die Voraussetzungen des Arbeitnehmerstatus vor, sind die Motive für
den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat unerheblich. Für die Gesamtbewertung
der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist Bezug zu nehmen insbesondere
auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung,
die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer.
Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen. Der maßgeblichen
Gesamtbewertung ist mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH ein weites Verständnis zugrunde zu legen. (Vergleiche dazu
BSG, Urteil vom 29. März 2022, B 4 AS 2/21 R, Rn. 19,20 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Die vorliegend von dem Antragsteller geschuldete Arbeitsleistung von 6 Stunden wöchentlich führt nicht dazu, dass seine Tätigkeit
allein aufgrund des geringen zeitlichen Umfangs als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren wäre und er deshalb
nicht als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn anzusehen wäre.
Der EuGH hat mit Urteil vom 4. Februar 2010 im Verfahren C 14/09 (Genc) in einem Fall, der das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Türkei betraf, entschieden, dass eine Verpflichtung
zur Erbringung einer wöchentlichen Arbeitszeit von 5,5 Stunden einer Qualifizierung als Arbeitnehmerin nicht entgegensteht.
Dem folgend hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 5. September 2019 im Verfahren L 3 AS 74/19 B ER bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 2-3 Stunden eine tatsächliche reale Tätigkeit und damit die Arbeitnehmereigenschaft
im unionsrechtlichen Sinne verneint, demgegenüber aber eine Tätigkeit, die sich mit tatsächlich geleisteten Überstunden auf
insgesamt 26 Stunden monatlich summiert hat, als für die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft im unionsrechtlichen Sinn begründend
angenommen. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Zutreffend hat das Sozialgericht in dem angefochtenem Beschluss
darauf hingewiesen, dass die hier von dem Antragsteller geschuldete Arbeitszeit von 6 Stunden wöchentlich auch ungeachtet
der vertraglich vereinbarten Verpflichtung zur Leistung von Überstunden und Mehrarbeit einer monatlichen Arbeitsleistung von
26 Stunden (6 × 13: 3) entspricht.
Auch die Gesamtdauer der Beschäftigung spricht nicht gegen die Annahme einer echten und tatsächlichen Tätigkeit im Sinne der
oben genannten Rechtsprechung. Zwar liegt eine Befristung des Arbeitsverhältnisses vor, diese umfasst aber immerhin ein halbes
Jahr, sodass keine völlig untergeordnete Beschäftigungsdauer vorliegt. Die Befristung eines Beschäftigungsverhältnisses auf
ein halbes Jahr ist auch ungeachtet der Besonderheiten des vorliegenden Falls als auf dem Arbeitsmarkt nicht völlig unüblich
anzusehen und steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen. Der EuGH hat mit Urteil vom 6. November 2003 im
Verfahren C-413/01 (N) auch die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft bei der Befristung eines Beschäftigungsverhältnisses auf zweieinhalb Monate
als nicht ausgeschlossen angesehen.
Der Antragsgegner hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass Tätigkeiten die im Rahmen einer nationalen Regelung über die
Arbeitsbeschaffung, zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit von Person ausgeübt werden, die für
längere Zeit nicht in der Lage sind eine Tätigkeit unter normalen Umständen auszuüben, nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche
Tätigkeiten nach der Rechtsprechung des EuGH angesehen werden können, wenn sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder der
Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen (vergleiche EuGH, Urteil vom 31. Mai 1989, C-344/87 [B]). Dies schließt indessen die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft im vorliegenden Fall schon deswegen nicht aus, weil
der Antragsteller ja gerade nicht im Rahmen einer nationalen Regelung zur Integration auf dem Arbeitsmarkt, etwa entsprechenden
Regelungen nach dem SGB II oder dem
SGB III in Verbindung mit Regelungen des
SGB IX beschäftigt wird. In dem vom EuGH am 31. Mai 1989 entschiedenen Fall ging es um eine Beschäftigung nach dem damaligen niederländischen
Recht zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des dortigen Sozialrechts.
Demgegenüber ist der Antragsteller aufgrund eines Arbeitsvertrages beschäftigt, der nicht in sozialrechtliche Regelungen eingebunden
ist, und damit formal dem ersten Arbeitsmarkt zuzuordnen ist. Zwar ist nicht zu verkennen, dass Ziel der Beschäftigung ausweislich
des Telefonvermerks, den der Mitarbeiter des Antragsgegners P nach einem Telefonat mit dem Mitarbeiter der Personalabteilung
der Gemeinde S P1 gefertigt hat, auch die Heranführung der Beschäftigten an einen geregelten Tagesablauf ist. Dies lässt aber
den wirtschaftliche Wert der von den Beschäftigten geforderten Leistungen, die in einfachen Tätigkeiten wie dem Herrichten
von Räumen, Reinigungstätigkeiten oder Rasenmähen bestehen, nicht entfallen.
Wie oben dargelegt wird ein Arbeitsverhältnis nach der Rechtsprechung des EuGH und des BSG im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen
erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Diese Voraussetzungen liegen sämtlich unzweifelhaft vor. Der
am 31. März 2022 geschlossene Arbeitsvertrag verpflichtet den Antragsteller in einem vereinbarten Umfang (in der Regel 6 Stunden
wöchentlich), Leistungen nach Weisung des Arbeitgebers, nämlich der Gemeinde S zu verrichten und dabei auch zur Ableistung
von Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit bereit zu sein. Nach dem Individualvertrag der Arbeitsvertragsparteien
soll auf das Arbeitsverhältnis auch der TVöD Anwendung finden, d. h. der Antragsteller erhält eine Vergütung, wie sie auch anderen Arbeitnehmern, die im öffentlichen
Dienst beschäftigt sind und einfache Tätigkeiten verrichten, gewährt wird. Arbeitnehmerspezifische Rechte, die sich aus dem
TVöD ergeben, werden dem Antragsteller ebenfalls zu Teil.
Zur Überzeugung des Senats liegt daher in der Gesamtbetrachtung ungeachtet der sozialen Motivation des Arbeitgebers ein echtes
und tatsächliches Beschäftigungsverhältnis von nicht vollständig untergeordneter Bedeutung vor.
Der zwischenzeitliche Erlass des Bescheides vom 30. Juni 2022 steht der Zurückweisung der Beschwerde des Antragsgegners nicht
entgegen, denn dieser Bescheid ist noch nicht in Bestandskraft erwachsen und angesichts der Ankündigung der Bevollmächtigten
des Antragstellers, Rechtsbehelfe gegen diesen Bescheid einlegen zu wollen, ist mit seiner Bestandskraft auch nicht bis zum
Ablauf der im Beschlusses vom 25. Mai 2022 vorgenommenen Befristung zu rechnen. Zudem ist im Rahmen einer im hiesigen Eilverfahren
anzustellenden Prognose unter Zugrundelegung der hier vertretenen Rechtsauffassung auch davon auszugehen, dass er sich nach
Prüfung im Widerspruchsverfahren oder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren als rechtswidrig erweisen wird und nicht in Bestandskraft
erwachsen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 Abs.1 und Abs.4
SGG und folgt der Sachentscheidung.
Prozesskostenhilfe war dem Antragsteller nicht zu gewähren, weil er durch diesen Beschluss einen unanfechtbaren Kostenerstattungsanspruch
gegen den Antragsgegner erhält.
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde gemäß §
177 SGG nicht gegeben.