Einstweiliger Rechtsschutz; Europarechtswidrigkeit; Gewährung von SGB II-Leistungen; Grundsicherung für Arbeitsuchende; Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt nach Art. 10 VO (EU) 492/2011; Unionsbürger
1) Dem Leistungsausschluss nach §
7 Abs.
1 Satz 2 Nr.
2 SGG (in der Fassung bis zum 28. Dezember 2016) steht ein anderes Aufenthaltsrecht als das zum Zweck der Arbeitssuche entgegen,
wenn die Kinder ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 zum Zwecke der Ausbildung besitzen und der tatsächlich
sorgeberechtigte Elternteil hieraus sein Aufenthaltsrecht ableitet.
2) Für die Entstehung des Aufenthaltsrechts nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 muss der Arbeitnehmerstatus eines Elternteils nicht
bei Beginn der Ausbildung bestehen, sondern es genügt, wenn dieser bei fortgesetzter Ausbildung der Kinder (Besuch einer Grundschule)
später hinzutritt.
3) Der Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II (in der Fassung seit dem 29. Dezember 2016) dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit europarechtswidrig sein, da dieser
nicht durch eine rechtfertigende gemeinschaftsrechtliche Schrankenregelung, insbesondere nicht Art. 24 Abs. 2 RL 38/2004/EG,
gedeckt sein dürfte.
Gründe
Die seitens der Antragsteller am 23. Januar 2017 form- und fristgerecht erhobenen Beschwerden gegen die Beschlüsse des Sozialgerichts
Lübeck haben keinen Erfolg.
Zu Recht hat das Sozialgericht den sinngemäßen Antrag,
dem Antragsgegner die Vollstreckung aus den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 12. Juni 2015 vorläufig zu untersagen,
als unbegründet abgelehnt. Zu Recht geht das Sozialgericht insbesondere davon aus, dass sich der Antrag nicht nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), sondern nur nach §
86b Abs.
2 SGG richten kann, weil die Bescheide bestandskräftig geworden sind. Dass sich die Antragsteller im Hauptsacheverfahren zum Az.
S 42 AS 49/16 gegen die Ablehnung der Aufhebung dieser Bescheide im Überprüfungswege (§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]) wenden,
ändert daran nichts; aufschiebende Wirkung kann einer solchen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage schon dem
Grunde nach nicht zukommen (vgl. §
86a Abs.
1 SGG).
Auch nach Ansicht des erkennenden Senats haben die Antragsteller bereits einen Anordnungsanspruch nicht hinreichend glaubhaft
gemacht, so dass offen bleiben kann, ob die für den Anordnungsgrund erforderliche besondere Eilbedürftigkeit gegeben ist.
Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Antragsteller gegen den Antragsgegner einen Anspruch auf Aufhebung der mit
Überprüfungsantrag angegriffenen Bescheide haben.
Zwar rechtfertigt der Wegfall der örtlichen Zuständigkeit nach § 36 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) allein nicht die vollständige Aufhebung der Arbeitslosengeld-II-Bewilligungsentscheidung. Zu Recht weisen die Antragsteller
- erstmals im Beschwerdeverfahren - sinngemäß auf diesen Gesichtspunkt hin. Die Regelung des § 36 SGB II hat nach höchstrichterlicher Rechtsprechung keine "anspruchsvoraussetzungsregelnde Funktion" (BSG, Urteil vom 23. Mai 2012 - B 14 AS 133/11 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 25). Während danach der Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts für sich genommen auf die Gewährung
von Leistungen für Regelbedarfe ohne Einfluss ist, wird allerdings durch den zum Wechsel der örtlichen Zuständigkeit führenden
Umzug in eine andere Wohnung die bisherige Bewilligungsentscheidung bezogen auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung für
die Wohnung am bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort rechtswidrig (BSG, a.a.O., Rn. 20).
Dennoch erweisen sich die zur Überprüfung gestellten Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 12. Juni 2015 bei vorläufiger
Würdigung als wahrscheinlich rechtmäßig. Soweit damit die Bewilligung von Leistungen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung
für die frühere Wohnung in Sch. in Höhe von jeweils monatlich 194,92 EUR für den Zeitraum 1. Februar bis 30. April 2015 aufgehoben
und entsprechende Leistungen zurückgefordert worden sind, lässt sich diese Entscheidung nach dem im Eilverfahren gebotenen
Betrachtung absehbar auf §§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 50 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung stützen. Verbleibende Zweifel an der Bösgläubigkeit der Antragsteller können
bei Abwägung der wechselseitigen Interessen der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Auch hinsichtlich der Aufhebung der Leistungen für Regelbedarfe ist, die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung im Ergebnis
voraussichtlich nicht rechtswidrig. Sie lässt sich nach den obigen Ausführungen zwar nicht allein auf den Wechsel der örtlichen
Zuständigkeit stützen, wohl aber voraussichtlich auf das infolge der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in H. erzielte laufende
Einkommen des Antragstellers zu 1. Dieser erzielte bereits im Januar 2015 ein Nettoarbeitsentgelt von 1.081,54 EUR (1.360,00
EUR brutto). Die Bewilligungsentscheidung des Jobcenters St. vom 11. Juni 2015 (Bl. 2017 der Leistungsakte) für den Zeitraum
ab Mai 2015 spricht dafür, dass Einkommen in vergleichbarer Höhe auch in dem von der Aufhebungsentscheidung betroffenen Zeitraum
Februar bis April 2015 erzielt worden ist. Dieses Einkommen reicht - auch bei Berücksichtigung von Grund- und Erwerbstätigenfreibeträgen
in Höhe von 316,00 EUR (§§ 11b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 SGB II) aus, die Regelbedarfe der Antragsteller in Höhe von jeweils monatlich 360,00 EUR zu decken. Weitere Ermittlungen können
auch hier dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe scheidet aus, weil es aus den genannten Gründen an hinreichenden Erfolgsaussichten
fehlt (§
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
114 Satz 1
ZPO). Deshalb ist auch die Beschwerde gegen die erstinstanzliche PKH-Entscheidung zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).