Tatbestand
Die 1972 geborene Klägerin beantragte am 11. April 2012 die Gewährung von Opferentschädigungsleistungen wegen Gewalterfahrungen
1973-1974 durch ihren Vater B (wohl tot) und B (Mutter der Klägerin, wohnhaft in B). Sie sei zur Tatzeit 1 bis 2 Jahre alt
gewesen. Als Beschädigungen benannte die Klägerin Verbrennungen, psychische Schäden und Persönlichkeitsstörungen, Angst vor
Teufel, Konzentrationsstörungen, Nervenzucken, Einnässen, kein Urvertrauen, geringes Selbstwertgefühl, langes Weinen, Opfergefühl.
Das Sorgerecht sei den Eltern entzogen worden. Im anschließenden Verwaltungsverfahren hat der Beklagte (vormalig das Landesamt
für Gesundheit und Soziales Ba, ab 1. Juli 2020 das Landesamt für soziale Dienste Schleswig- Holstein) die Mutter der Klägerin
angeschrieben - der Brief kam als unzustellbar zurück. Das Jugendamt Bb teilte mit, dass keine Aktenvorgänge mehr aus den
siebziger Jahren vorhanden seien. Das Amtsgericht Charlottenburg teilte mit, dass keine Akten über den Sorgerechtsentzug mehr
vorhanden seien.
Mit Bescheid vom 19. April 2013 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil Taten im Sinne des §
1 OEG nicht nachgewiesen werden könnten.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie sei während ihrer Fürsorgeerziehungszeit Opfer von Gewalt und sexuellen
Übergriffen geworden. Täter seien andere Jugendliche und aufsichtspflichtige Personen gewesen. Ihre Schilderungen seien glaubhaft,
da sich vor allem die psychischen Beschwerden verstärkten, wenn sie mit den Erinnerungen an die Zeit der Heimunterbringung
konfrontiert werde. Sie habe einen GdB von 50 (Bescheid vom 5. Dezember 2012) für psychische Erkrankungen. Sie könne keine
genaueren Angaben zu einzelnen Aussagen und Handlungsabläufen der Übergriffe machen, da sie noch heute psychisch darunter
leide. Die Scham habe zu einem über Jahre andauernden Verdrängungseffekt geführt. Erst eine Retraumatisierung habe Erinnerungen
geweckt.
Der Beklagte holte ein erstes Aussagepsychologisches Gutachten des Fachpsychologen für Rechtspsychologie Professor Dr. S vom
29. August 2013 zu der Frage ein, ob mit aussagepsychologischer Methodik eine positive Substantiierung des Erlebnisgehaltes
des infrage stehenden Geschehens erfolgen könne. Diese Frage verneinte der Sachverständige, da die Klägerin über Ereignisse
ihres 1. und 2. Lebensjahres berichten müsste. Diese Lebenszeit unterliege der sogenannten infantilen Amnesie. Die Klägerin
müsse auch schildern, aufgrund welcher Ereignisse sie sich wieder erinnern könne. Auf Aufforderung des Beklagten schilderte
die Klägerin ihren Werdegang. Sie sei 1974 mit 7 Geschwistern ins Heim gekommen. 1975 sei sie zu Pflegeeltern nach Westdeutschland
gekommen (H und R Sch in N). Dort habe sie von H Sch voll gemachte Windeln in den Mund gestopft bekommen und sei im Bad geschlagen
worden. Zu Ostern habe sie Hasenkot im Korb bekommen. Mit vier Jahren sei sie 1976 in das Kinderheim in Bc, G, B 23, gekommen.
Heimeltern seien zunächst K und G K gewesen. Wenn sie ins Bett gemacht habe, habe sie Schläge mit dem Kochlöffel auf den Po
bekommen. Sie habe häufig im Flur ohne Matratze nur mit Decke und Kissen schlafen müssen. Als sie sich selber habe die Windeln
wechseln wollen, sei sie vor den anderen bloßgestellt und beschimpft worden. Sie sei oft in eine Kammer gesteckt worden ohne
Licht. Dort sei sie auf dem Boden eingeschlafen und habe erst um 2:00 oder 3:00 Uhr morgens in ihr Bett gedurft. Die neuen
Heimeltern (ab 1977) seien K P und A S gewesen. A S sei sehr ungerecht gewesen und habe sie bestraft. Sie habe ihre Brille
suchen müssen, obwohl er gewusst habe, wo sie sei. Er habe sie damit gequält, wie blöde und dumm sie sei. Hinzu komme, dass
sie gar keine Brille benötigt habe. In diesem Kinderheim sei sie bis zu ihrem 12. Lebensjahr gewesen. Auf weiteren 18 maschinengeschriebenen
Seiten schilderte die Klägerin ihren Lebenslauf von Kindheit an bis später.
Der Beklagte holte ein zweites Gutachten von Professor Dr. S vom 29. November 2013 nach Aktenlage zu der Frage, ob mit aussagepsychologischer
Methodik eine positive Substantiierung des Erlebnisgehaltes des infrage stehenden Geschehens erfolgen könne. Auf den Beweismaßstab
zur Glaubhaftmachung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) wurde der Sachverständige hingewiesen. Der Sachverständige kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass eine gewichtige Wahrscheinlichkeit
für die Hypothese bestehe, die Klägerin sei durch die gegenwärtige Berichterstattung über Probleme bei der Heimerziehung angeregt
worden, ihre als unglücklich erlebte Kindheit und Jugend durch Dramatisierung gedanklich auszugestalten.
Insgesamt sei bei der Klägerin möglicherweise von eingeschränkter Aussagekraft für autobiografische Angaben auszugehen, auf
jeden Fall von einer Disposition zur retrospektiven Umdeutung von Lebensereignissen. Die Aussagekraft zukünftiger aussagepsychologischer
Analysen sei daher aufgehoben. Das Verdrängen mit Wiedererinnern unterstütze die Gefahr, dass die vorgebrachten Ereignisse
auf Scheinerinnerungen beruhen könnten bzw. nachträglich wesentlich umgedeutet worden sein können. Die dargestellten Erinnerungsunsicherheiten
kombiniert mit dem Vorkommen von Scheinungenauigkeiten und von Deutungen lassen es aus aussagepsychologischer Sicht nicht
zu, von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit dafür auszugehen, dass den Schilderungen der Antragstellerin über schädigende
Ereignisse ein reales Erleben zugrunde liege.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 23. April 2014 als unbegründet zurück. Für die von ihr geltend gemachten
gewalttätigen Übergriffe im Alter von 2-4 Jahren sowie für den sexuellen Missbrauch während der nachfolgenden Heimunterbringung
hätte sie keine Zeugen benennen können. Gestützt auf die beiden eingeholten Gutachten sei eine positive Beweisführung nicht
mehr möglich.
Hiergegen hat die Klägerin am 23. Mai 2010 Klage vor dem Sozialgericht Kiel erhoben. Es sei zu bezweifeln, dass nach Entziehung
des elterlichen Sorgerechts 1974 angesichts der häufigen Wechsel der Pflegefamilien und Heime keinerlei Unterlagen mehr vorhanden
seien. Die Klägerin habe noch während des Aufenthalts bei den Eltern Verbrennungen vor allem der Kopfhaut und der Schultern
erlitten. Die weiteren Schilderungen der Klägerin über die erlittenen Misshandlungen seien schlüssig, nachvollziehbar und
widerspruchsfrei. Neben den unmittelbaren körperlichen Verletzungen habe sie auch Schäden psychischer Natur erlitten. Ihre
Angaben seien schon deshalb glaubhaft, da sich die gesundheitlichen Beeinträchtigungen gerade dann verstärkten, wenn sich
die Klägerin mit Erinnerungen an die Zeit der Heimunterbringung konfrontiert sehe. Sie sei aufgrund der Posttraumata erheblich
gesundheitlich beeinträchtigt. Im Rahmen einer psychologischen Begutachtung könne sie ggfs. weitere konkrete Angaben zu den
einzelnen Gewalttaten machen. Wegen der Überprüfung des Wahrheitsgehalts sollte die Klägerin im gerichtlichen Verfahre auch
persönlich gehört werden. Ihr sei mit Feststellungsbescheid vom 5. Dezember 2012 ein GdB von 50 zuerkannt worden; seitdem
sei es zu einer Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen gekommen. Die Klägerin hat von der Fachärztin für Allgemeinmedizin
Dr. med. Sc ein Attest vom 28. November 2016 überreicht.
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
den Bescheid vom 19. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 2014 aufzuheben und den Beklagten zu
verurteilen, der Klägerin wegen der Folgen der erlittenen Gewaltstraftaten Beschädigtenversorgung nach §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG in Verbindung mit § 31 Abs. 1 BVG zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat sich auf die getroffenen Verwaltungsentscheidungen und die hierzu abgegebenen Begründungen bezogen.
Mit Beschluss vom 11. Januar 2016 hat das Sozialgericht den ebenfalls gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
abgelehnt.
Nach Anhörung der Beteiligten zum beabsichtigten Verfahren hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 7. Juli
2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Schilderungen der Klägerin nicht durch Zeugenaussagen
oder durch sonstige Nachweise belegt oder zu belegen seien. Im Zusammenhang mit dem behaupteten sexuellen Missbrauch im R-M-Haus
in Bd führe die Klägerin zwar aus, es solle wohl auch einen Zeugen hierfür geben, eine Benennung sei jedoch ankündigungswidrig
unterblieben. Ansonsten sei weder vorgetragen worden noch ersichtlich, dass verfügbare Zeuginnen oder Zeugen eigene Wahrnehmungen
zu Art und Hergang der von der Klägerin behaupteten rechtswidrigen tätlichen Angriffe wiedergeben könnten. Zudem bezeichne
es die Klägerin in der Klagebegründung selbst als Tatsache, dass es ihr nahezu unmöglich sei, Zeugen zu benennen. Aus den
Schilderungen lasse sich auch mit aussagepsychologischen Methoden nicht feststellen, ob ihre Angaben einen Erlebnishintergrund
hätten. Die Angaben der Klägerin wiesen nicht die hierzu vorauszusetzende Aussagekonstanz auf. Eine inhaltliche Analyse könne
daher nicht durchgeführt werden. Auch nach der eingehenden, ausführlichen und die Kammer überzeugenden Bewertung durch den
Fachpsychologen für Rechtspsychologie Professor Dr. S in seinem Gutachten sei nicht zu erwarten, dass ein von der Kammer zu
veranlassendes weiteres aussagepsychologisches Gutachten zu einer den Vollbeweis im oben genannten Sinne wirkenden Bestätigung
der behaupteten schädigenden Vorgänge führen würde. Die dargestellte Faktenlage vermöge danach weder die volle gerichtliche
Überzeugung vom Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs in Form von schweren körperlichen Misshandlungen und sexuellem
Missbrauch zu begründen, noch sei sie geeignet, einen solchen Angriff zumindest glaubhaft zu machen. Die nur denkbare Möglichkeit
reiche nicht aus. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff lasse sich auch gemäß §
6 Abs.
3 OEG in Verbindung mit § 15 Abs. 1 Satz 1 KOVVfG nicht feststellen. Die Normvoraussetzungen sein schon deshalb nicht gegeben, weil die Angaben der Klägerin schon nach den
Umständen des Falles nicht glaubhaft erschienen.
Gegen das der Klägerin am 8. Juli 2016 zugestellt Urteil richtet sich deren Berufung vom 19. Juli 2016. Zur Begründung führt
sie im Wesentlichen an, dass sie durchaus in der Lage sei, Erlebniserinnerungen von sogenannten Scheinerinnerungen zu unterscheiden.
Die von ihr vorgenommenen geschilderten Gewalterfahrungen in Gestalt von vorsätzlichem Überschütten des Kopfes mit heißer
Brühe durch die Mutter im elterlichen Haushalt, das unter anderem wohl zur Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Jugendamt
geführt habe, als auch der sexuelle Missbrauch in zwei Fällen seien glaubhaft. Die Klägerin überreicht ein ärztliches Attest
des sie seit 1998 behandelnden Allgemeinarztes Dr. Sc sowie den Mailverkehr mit dem Bezirksamt C-W bezüglich der Heimunterbringung.
Sie übermittelt Telefon- und Handydaten der Zeugin J und benennt als Zeugin für die gewaltsamen Übergriffe im Waschraum während
der Heimunterbringung in Bc, G, B 23 die Zeugin S H.
Die Klägerin überreicht ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten betreffend Schädigungsfolgen durch Heimunterbringung des
Diplom Psychologen Dr. rer. nat. B W, Lehrbeauftragter der Ruhr- Universität Bo, Psychologischer Psychotherapeut vom 13. März
2017 zur Glaubhaftigkeit der klägerischen Angaben, die dieser bejaht. Hierauf hat der Beklagte eine dritte Stellungnahme des
Sachverständigen Prof. Dr. S vom 14. Juli 2017 eingeholt, der die neurologischen Ausführungen des Dr. W für fehlerbehaftet
erachtet und das Gutachten nicht für geeignet hält, den Erlebnisgehalt infrage stehender Schilderungen über autobiografische
Traumata durch die Klägerin zu substantiieren. Die Klägerin macht im Weiteren auch die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs
geltend, dem der Beklagte unter Hinweis darauf widerspricht, dass es sich hierbei um auf §
1 OEG beruhende Folgeansprüche handele. Da es sich somit um einen anderen Klagegrund handele, sei das Begehren als Klageerweiterung
im Sinne des §
99 Abs.
3 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) anzusehen; mit dieser Klageänderung sei er nicht einverstanden.
Mit Feststellungsbescheid des Beklagten vom 19. Oktober 2017 wurde bei der Klägerin ein Gesamt-GdB von 60 anerkannt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 7. Juli 2016 sowie den Bescheid vom 19. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 23.
April 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Entschädigungsleistungen nach dem
OEG in Verbindung mit dem BVG ab Antragstellung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat ist den von der Klägerin für die Zeugin J benannten Kontaktdaten (Tel. - und Handynummer) nachgegangen; unter den
genannten Nummern konnte eine J nicht ermittelt werden. Auf eine Nachfrage beim Amtsgericht Charlottenburg betr. eine dort
noch befindliche Akte (Az. 50 VII B 16284) wurde die Vernichtung dieser Akte mitgeteilt. Ferner hat der Senat die Zeugin S
H schriftlich zu den Übergriffen im Kinderheim Bc, G in B befragt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17. Juli 2020 hat
der Senat die Klägerin befragt und im Rahmen der Beweisaufnahme die Zeugin ergänzend angehört.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, dass sich das weitere Verfahren auf die
körperliche Gewalt gegenüber der Klägerin während ihrer Zeit im Kinderheim in der Bc unter den Heimeltern Herrn A S und Frau
K P beschränken soll.
Der Senat hat im Anschluss an die mündliche Verhandlung zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befund-
und Behandlungsbericht von Dr. med. Sc vom 4. September 2020 einschließlich der gesamten Dokumentationen eingeholt. Zudem
zog der Senat einen Befund- und Behandlungsbericht des Medizinischen Versorgungszentrum MVZ der ZIP gGmbH vom 17. September
2020 bei. Der Senat hat mit Beweisanordnung vom 25. November 2020 ein schriftliches Sachverständigengutachten des Facharztes
für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. H vom 30. Juni 2021 unter Berücksichtigung der durch die Heimeltern
A S und K P erlittenen körperlichen Gewalt eingeholt. Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass die langjährigen und
bereits im Säuglingsalter begonnenen psychischen Belastungen und Deprivationen einschließlich der später in der Kindheit,
der Präadoleszenz und Adoleszenz aufgetretenen Belastungen so lang anhaltend und insbesondere im Hinblick auf die frühen Störungen
als so schwerwiegend und dominant anzusehen sind, dass die in der Fragestellung angegebenen Traumatisierungen demgegenüber
von deutlich nachgeordneter Bedeutung seien, weshalb auch bei Hinwegdenken dieser genannten Traumatisierung das jetzt festgestellte
Störungsbild ebenso bestehen würde. Diesen Feststellungen widerspricht die Klägerin, weil die Gewalterfahrungen in den Heimen,
insbesondere durch den Heimvater S, für das weitere Leben dominant gewesen sei und zu einer Verstärkung und Intensivierung
von Gewalterfahrungen geführt habe. Hierzu legt sie eine weitere Stellungnahme des Dr. W vom 19. September 2021 vor. Der Sachverständige
hat seinerseits zu diesen Ausführungen Stellung genommen (Stellungnahme vom 14. Oktober 2021) und darauf hingewiesen, dass
entsprechend der Fragestellung nur die als gegeben angesehene körperliche Gewalt habe berücksichtigt werden dürfen.
Die Beteiligten haben sich schriftlich (die Klägerin am 25. Mai 2021 und der Beklagte am 10. Juni 2022) mit einer Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und dem Vorbringen der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten,
die beigezogene Akte im Schwerbehindertenverfahren sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte vorliegend ohne weitere mündliche Verhandlung gemäß §
124 Abs.
2 SGG entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit vorab schriftlich einverstanden erklärt haben.
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist diese innerhalb der Monatsfrist gemäß §
151 Abs.
1 SGG bei dem LSG eingegangen. Einer besonderen Zulassung gemäß §
144 SGG bedurfte es schon deshalb nicht, weil um laufende Leistungen für mehr als ein Kalenderjahr gestritten wird, §
144 Abs.
1 S. 2
SGG.
Keine Klageänderung ist der ab 1. Juli 2020 eingetretene Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes auf der Beklagtenseite. Gemäß §
4 Abs.
2 Satz 1
OEG in der Fassung vom 15. April 2020 (gültig ab 20. Dezember 2019) ist für die Entscheidung über einen bis einschließlich 19.
Dezember 2019 gestellten und bis zum 30. Juni 2020 nicht bestandskräftig beschiedenen Antrag auf Leistungen nach §
1 OEG dasjenige Land zuständig und zur Gewährung der Versorgung verpflichtet, in dem die Schädigung eingetreten ist. Nach Satz
2 der genannten Vorschrift ist ab dem 1. Juli 2020 für die Entscheidung dasjenige Land zuständig und zur Gewährung der Versorgung
verpflichtet, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz, bei Fehlen eines Wohnsitzes ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Beklagter ist damit ab 1. Juli 2020 und damit zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Land Schleswig-Holstein, denn die
Klägerin hat in K ihren Wohnsitz.
Die Berufung ist aber nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht Kiel die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erweisen sich im Ergebnis
als rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung von Opferentschädigungsleistungen
nach dem
OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsbeschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen sind nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
auf die glaubhaft erlittenen Misshandlungen durch den Heimleiter A S und K P in dem Kinderheim in Bc, G, B (ab 1977) verursacht
oder verschlimmert worden. Die gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid erhobene Berufung ist daher zurückzuweisen.
Für einen Anspruch der Klägerin auf Versorgungsleistungen nach dem
OEG i.V.m. dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG müssen erfüllt sein. Danach hat Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder von deutschen Schiffen oder Luftfahrzeugen infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung
erlitten hat.
Soweit sich die Schädigung vor Inkrafttreten des
OEG (am 16. Mai 1976) ereignet haben soll, kommt ein Versorgungsanspruch nur im Rahmen des Härteausgleichs nach §
10a OEG in Betracht. Neben den allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen des §
1 OEG müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß §
10 Satz 2
OEG i.V.m. §
10a Abs.
1 Satz 1
OEG erfüllt sein. Danach erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag
Versorgung nur dann, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und (2.) bedürftig sind und (3.)
im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Soweit die Klägerin im Verwaltungsverfahren, im Klagverfahren und auch noch anfänglich im Berufungsverfahren vorgetragen hat,
dass sie in der frühen Kindheit bis zu ihrem zweiten Lebensjahr von 1973 bis 1974 im Elternhaus Opfer schwerer Misshandlungen
geworden sei, sind diese Ereignisse genauso wie die von der Klägerin vorgetragenen Taten/Misshandlungen der Pflegeeltern H
und R S 1975 und der Heimeltern K und G K im B Kinderheim 1976 nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens. Dies gilt auch
für die nur sehr pauschal vorgetragenen sexuellen Misshandlungen durch die Araber S und M sowie die Vorfälle in P. Bezüglich
dieser vorgetragenen Vorkommnisse gibt es keine Tatzeugen, Strafverfahren oder sonstige Unterlagen, um von einer rechtswidrigen
Tat i.S.d. §
1 OEG ausgehen zu können. Auch betreffend der Verbrühungen an Kopf und Schulter ist nicht klar, ob es sich um eine rechtswidrige
Tat oder einen Unfall handelte. Die Klägerin war zu klein, um sich hieran aus eigener Wahrnehmung erinnern zu können. Dem
Senat ist aus anderen Verfahren bekannt, dass in dieser Lebensphase (erstes, zweites Lebensjahr) noch kein biografisches Gedächtnis
ausgebildet wird. Nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen können Eigenerinnerungen in der Regel nicht vor dem vierten
oder fünften Lebensjahr entstehen (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 14. Mai 2019 - L 3 VE 6/18-; LSG Hessen, Urteil vom 26. Juni
2014 - L 1 VE 30/10-). Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG kann nicht zur Anwendung kommen. Insoweit fehlt es bereits an einem glaubhaften Vortrag einer rechtswidrigen Tat. Unterlagen
betreffend die Entziehung des Sorgerechts sind vernichtet. Aus der alleinigen Tatsache, dass das Sorgerecht den Eltern entzogen
wurde, kann nicht auf eine
OEG-relevante Tat geschlossen werden. Quellen bezüglich Grund/ Verantwortlichkeit der Verbrennungen/Misshandlungen finden sich
nicht in der Akte. Die Klägerin ist 1972 geboren, aus der Familie soll sie - wie auch ihre Geschwister - 1973 oder 1974 genommen
worden sein. Die Klägerin war damit zu jung, um sich an konkrete Begebenheiten zu erinnern. Der Vater soll gestorben sein.
Das Sorgerecht für sie und ihre sieben Geschwister war den Eltern entzogen worden. Nach den Ausführungen der Klägerin in der
mündlichen Verhandlung ist/war die Mutter Alkoholikerin. Angesprochen von ihr - der Klägerin - auf das Verbrühungsgeschehen
hat die Mutter verschiedene Erklärungen eines Unfallgeschehens angegeben. Zu den zum Teil älteren Geschwistern hat die Klägerin
keinen Kontakt. Zeugen gibt es nicht. Ärztliche Unterlagen mit Quellenangaben gibt es nicht.
Die geltend gemachten Vorfälle bei den Pflegeeltern H und R S passierten, wenn man das angegebene Datum vom 25. Juni 1975
zugrunde legt, als die Klägerin erst drei Jahre alt war. Es ist nicht glaubhaft, dass sich die Klägerin als knapp 40-jährige
Frau (bezogen auf den 11. April 2012 als Datum der Antragstellung beim Beklagten) an eine im Alter von drei /vier Jahren widerfahrene
Handlung erinnern kann. Dies gilt auch für die Ereignisse im Kinderheim in B unter der Leitung der Heimeltern H und R S. Unter
Berücksichtigung der aussagepsychologischen Begutachtung besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass den diesbezüglichen
Schilderungen der Klägerin ein reales Erleben zugrunde liegt. Bezüglich der späteren von der Klägerin vorgetragenen zum Teil
auch sexuellen Misshandlungen durch S und andere Araber erklärte die Klägerin im Rahmen ihrer Befragung gegenüber dem Senat,
dass diese nicht im Heim passierten und S auch kein männlicher Mitarbeiter des Kinderheimes war. Eingedenk dessen und nach
ausführlicher Erörterung der rechtlichen Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs hat die Klägerin bzw. haben die Beteiligten
im Rahmen der mündlichen Verhandlung darauf übereinstimmend erklärt, dass sich das Verfahren im Weiteren auf die körperliche
Gewalt gegenüber der Klägerin während der Zeit im BC Kinderheim in der B unter den Heimeltern S und P beschränkt werden soll.
Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff setzt eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper
eines Anderen zielende gewaltsame Einwirkung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016, - B 9 V 3/15 R -, juris). Dabei ist einerseits die Rechtsfeindlichkeit entscheidend, die vor allem als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz
verstanden wird und zur Abgrenzung sozialadäquaten bzw. gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch
gerichteten Handeln des Täter dient, andererseits genügt es nicht, dass die Tat gegen eine Norm des Strafgesetzes verstößt,
denn die Verletzungshandlung im
OEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das
Strafgesetzbuch (
StGB) geregelt. Die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs orientiert sich jedoch an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung.
Wesentlich ist die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs
im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich
sein soll (siehe BSG aaO). Ein tätlicher Angriff im Sinne des
OEG setzt mithin eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus. Die bloße Drohung
mit einer - wenn auch erheblichen - Gewaltanwendung oder Schädigung reicht demnach für einen tätlichen Angriff nicht aus (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R -, juris). Der tätliche Angriff muss auch vorsätzlich erfolgt sein. Vorsatz wird im Strafrecht allgemein als Wissen und Wollen
der zum gesetzlichen Tatbestand objektiven Merkmale definiert. Die dazu entwickelten Anforderungen sind auch auf den rechtswidrigen
tätlichen Angriff im Sinne des
OEG anzuwenden. Der notwendige Vorsatz erfasst nur die Verletzungshandlung (Angriff). Die gesundheitliche Schädigung des Opfers
muss vom Vorsatz des Täters nicht erfasst sein (vergleiche dazu Gelhausen/Weiner
OEG 6. Aufl., §
1 Rn. 33). Schließlich muss der Angriff auch rechtswidrig gewesen sein, wobei die Erfüllung des objektiven Tatbestand einer
strafbaren Handlung die Rechtswidrigkeit indiziert.
Bezüglich der von der Klägerin geschilderten Misshandlungen: Schlägen mit Nasenbluten und Stürzen, Köpfe gegeneinander schlagen
oder das Pressen des Kopfes der Klägerin gegen die Fliesen und in die Toilettenschüssel hat sich der Senat unter Berücksichtigung
der obigen Maßstäbe nach den schriftlichen Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren, ihren Schilderungen im Rahmen
der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und der Zeugenvernehmung der Frau S H die Überzeugung gebildet, dass die Klägerin
in dem B Kinderheim unter der Leitung der Heimeltern S und P Opfer von Gewalttaten im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG geworden ist.
Vorwürfe des körperlichen Missbrauchs in Form von körperlicher Gewalt durch Schlagen im fraglichen Zeitraum werden nicht nur
von der Klägerin erhoben, sondern auch von der Zeugin S H. Diese konnte glaubhaft bestätigen, dass in der Zeit, in der sie
wie die Klägerin im Kinderheim untergebracht war, Schläge durch die Heimeltern ("Onkel A" und "Tante C") gang und gäbe waren
und dass die Klägerin - wie auch sie selbst - zum Teil massiven Gewalthandlungen ausgesetzt war, die auch nicht durch das
damals noch bestehende Züchtigungsrecht gerechtfertigt war und in einer Intensität ausgeübt wurde, die außer Verhältnis zu
einem etwaigen Erziehungswillen steht. Einen rechtswidrigen Missbrauch durch andere Mitarbeiter des Heims verneinte auch die
Zeugin. Soweit die Klägerin während ihrer Zeit im B Kinderheim unter Leitung der Heimeltern Sn und P emotionaler Vernachlässigung,
fehlender Förderung, aber auch Strenge ausgesetzt war, sind diese Beeinträchtigungen glaubhaft, aber nicht tatbestandsmäßig
i.S.d. §
1 OEG.
Die Höhe der Versorgung richtet sich gemäß § 31 BVG nach der Höhe des Grades der Schädigungsfolgen (GdS), der gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG in Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen ist. Dabei sind die Maßstäbe der auf Grundlage von § 30 Abs. 17 BVG (jetzt § 30 Abs. 16 BVG) erlassenen Versorgungsmedizinverordnung vom 10. Dezember 2008 und insbesondere die in der Anlage 2 zu dieser Verordnung
enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) zu beachten.
Der Senat folgt den Ausführungen des Sachverständigen Dr. med. Ha. Dieser hat unter Berücksichtigung der in den Akten befindlichen
medizinischen Unterlagen, einer körperlichen Untersuchung und ausführlichen Befragung der Klägerin einschließlich testpsychologischer
Untersuchungen überzeugend und widerspruchsfrei die Gesundheitsstörungen dargelegt. Auf neurologisch psychiatrischem Fachgebiet
besteht bei der Klägerin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Die Störung geht einher mit einem subsyndromal
ausgebildeten Störungsbild einer (einfachen) posttraumatischen Belastungsstörung mit gelegentlichem Wiedererinnern traumatischer
Ereignisse (teils in Form von Albträumen, teils in Form von Flashbacks) und zusätzlich mit einer leichtgradigen Hypervigilanz
mit Schlafstörung und leicht vermehrter Schreckhaftigkeit, aber insbesondere mit einer Einschränkung und Defiziten der emotionalen
Regulation, einem negativen Selbstkonzept und ausgeprägten Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung.
Diese Funktionsstörung ist nach Teil B 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VMG - (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008) mit einem GdB von 50 zu bewerten. Die Annahme einer schweren Störung ist nicht zu beanstanden. Bei
der Annahme einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit den für die Klägerin weit reichenden Folgen ist gleichwohl
zu berücksichtigen, dass die Klägerin einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgeht und ihren Haushalt selbst besorgen kann.
Ein sozialer Rückzug oder eine Isolierung werden in der Anamnese trotz der angegebenen ausgeprägten Schwierigkeiten in der
zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung nicht mitgeteilt. Ein höherer GdB unter Berücksichtigung des Bewertungsrahmens kommt
daher nicht in Betracht. Daneben besteht ein Haarverlust im Bereich der Scheitel-Schläfenregion rechts mit der Notwendigkeit
des Tragens eines Haarteils (Einzel-GdB 10 nach Teil B 17.11). Weiter besteht eine Migräne mit höchstens mittelgradiger Verlaufsform
(3-4 Attacken pro Monat) von vergleichsweiser geringer Intensität mit einem GdB von 20 nach Teil B 2.3. Anamnestisch besteht
weiter ein Impingement-Syndrom der rechten Schulter ohne gegenwärtige Beschwerden mit einem GdB von 10 nach Teil B 18.13.
Diese körperlichen Behinderungen vermögen den GdB nicht zu erhöhen, sodass der Gesamt-GdB mit 50 anzunehmen ist.
Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen
Zusammenhang spricht. Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung
vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese. Es genügt nicht, dass ein einzelner Wissenschaftler eine Arbeitshypothese
aufgestellt oder einen Erklärungsversuch unternommen hat. Es kommt auch nicht allein auf die subjektive Auffassung des beurteilenden
Arztes an. Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher
Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich ist. Ebenso wenig kann
das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist. Ein Grundsatz "in
dubio pro aegroto" kann im Gutachten des ärztlichen Sachverständigen keine Anwendung finden (Teil C Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen
Grundsätze - VMG - als Anlage der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, S 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG - Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008).
Das Versorgungsrecht wird insofern bestimmt von dem Grundsatz der wesentlichen Bedingung, Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze
ist die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen
Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur
dann nebeneinander stehende Mitursachen (und wie Ursachen zu werten), wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt
des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist
dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechts (vgl. im Einzelnen Teil C Nr. 1 VMG). Kann ein Ursachenzusammenhang,
der den oben beschriebenen Anforderungen entspricht, nicht wahrscheinlich gemacht werden, so gilt dies nach dem im sozialgerichtlichen
Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten
will.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist keine der bezeichneten Leiden mit Wahrscheinlichkeit durch die erlittenen und
als i.S.d. §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffe gegen die Klägerin anerkannten Misshandlungen verursacht oder verschlimmert
worden.
Die Klägerin war in ihrer frühen Kindheit, ihrer weiteren Kindheit, der Präadoleszenz und Adoleszenz und auch im Erwachsenenleben
wiederholt psychisch belastenden bzw. traumatisierenden Situationen ausgesetzt. Hierbei ist insbesondere bereits eine Traumatisierung
in den ersten zwei Lebensjahren in jedem Fall durch ein unsicheres Bindungsverhalten, durch emotionale Vernachlässigung und
frühe Ohnmachtserfahrungen anzunehmen. Zusätzliche körperliche Traumatisierungen können angenommen werden, etwa im Zusammenhang
mit den erlittenen Verbrühungen, wobei hier Details nicht erfragbar sind. In jedem Fall muss von einer anhaltenden Deprivation
im Säuglings- und Kleinkindalter ausgegangen werden. Die Klägerin wurde im weiteren Verlauf in verschiedenen Kinderheimen,
aber zeitweise auch bei Pflegeeltern untergebracht. Die in den 1970er Jahren dominierenden Bedingungen in deutschen Kinderheimen
hat Herr Dipl. Psych. Dr. rer. nat. W in seinem Gutachten vom 13. März 2017 beschrieben. Hier betont er insbesondere auch
die gewaltsam-stressdominierte Lebenssituation in den Kinderheimen der damaligen Jahre, die auch mit einer überdauernden Abschirmung
von entwicklungsessentiellen Stimuli verbunden war, was die emotionale und intellektuelle Entwicklung auch der Klägerin hemmte.
Bei der Klägerin hat sich als Folge dieser sehr ungünstigen Bedingungen im Säuglings-, Kleinkind-, Kinder- und Jugendalter,
insbesondere durch das Fehlen einer zuverlässigen Bezugs- und Vertrauensperson eine Persönlichkeit herausgebildet, die durch
ein schlechtes und labiles Selbstwertgefühl gekennzeichnet ist. Mit der Neigung zur Entwicklung von Angst und Depression und
zusätzlich mit der Entwicklung unreifer Konfliktbewältigungsstrategien einschließlich einer ungenügenden Affektregulation
und Bindungsfähigkeit. Gerade auch im Hinblick auf die in den ersten Entwicklungsjahren fehlenden verlässlichen Bezugspersonen
hat sich ein anhaltend gestörtes Bindungsverhalten entwickelt, welches es der Klägerin bis heute unmöglich macht, eine längerfristige
stabile Partnerbeziehung einzugehen.
Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind bezüglich der Ausbildung der genannten Defizite und der damit verbundenen emotional-instabilen
sowie teilweise auch narzisstischen Charakterstruktur überwiegend die sehr frühen psychischen Traumatisierungen als verantwortlich
anzusehen, wobei als frühe Traumatisierungen diejenigen Belastungen gelten, die in der vorsprachlichen Entwicklung, also vor
der Entwicklung der Sprachkompetenz eingetreten sind, letztlich also in den ersten beiden Lebensjahren. Die von Stress und
Gewalt sowie aus heutiger Sicht auch von unangemessener Strenge dominierte Lebenssituation während ihrer Zeit in diversen
Heimen, auch während der Zeit in der Einrichtung in der B in Bc (vom etwa 7. bis zum 12. Lebensjahr), hat zur Ausbildung eines
ungenügenden Selbstwertgefühls weiter beigetragen, statt die Defizite zu verringern. Zusätzlich war die Atmosphäre in dem
Heim - wie dies Dr. rer. nat. W in seinem Gutachten beschrieben hat - durch eine entwicklungshemmende und reizabschirmende
Situation geprägt, was auch die kognitive und intellektuelle Entwicklung der Klägerin hemmte. Für die bei der Klägerin anzunehmende
komplexe posttraumatische Belastungsstörung sind ganz überwiegend die frühkindlichen Deprivationen im 1. und 2. Lebensjahr
als ursächlich anzusehen, auch wenn im weiteren Verlauf die fortbestehenden ungünstigen Entwicklungsbedingungen während der
gesamten Kindheit, der Präadoleszenz und Adoleszenz das Störungsbild weiter gefestigt haben, statt es zu bessern. Betrachtet
man die Belastungen in der gesamten Lebensspanne, so sind die als stattgehabt anzusehenden und in der Vorbemerkung des Beschlusses
vom 25. November 2020 aufgeführten Traumatisierungen von so nachgeordneter Bedeutung, dass auch bei Hinwegdenken dieser konkreten
Ereignisse gleichwohl die beschriebene komplexe posttraumatische Belastungsstörung vorliegen würde. Dies gilt erst recht für
die Beeinträchtigungen im Hinblick auf den ausreichenden Erwerb von diversen Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.
Hieraus ergibt sich, dass die stattgehabten Traumatisierungen, wie sie entsprechend der Überzeugung des Senats stattgefunden
haben und in den Beweisfragen als Vorbemerkung formuliert wurden, das Störungsbild der Klägerin nicht zusätzlich und erst
recht nicht nachhaltig beeinflusst bzw. verschlechtert haben.
Mit diesen Feststellungen folgt der Senat den plausiblen und in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen. Entscheidend
hierfür ist, dass die Klägerin bereits von frühester Kindheit an Störungen und ungünstigen Entwicklungsbedingungen, die sich
während der gesamten Zeit ihrer Kindheit, der Praeadoleszenz und Adoleszenz das Störungsbild weiter gefestigt haben, statt
es zu verbessern, ausgesetzt war. Nach den Erörterungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 17. Juli 2020 haben die Beteiligten
übereinstimmend erklärt, dass sich das Verfahren im Weiteren auf die körperliche Gewalt gegenüber der Klägerin während ihrer
Zeit im Kinderheim in der B unter den Heimeltern S und P beschränken soll. Insofern sind bereits die Störungen, denen die
Klägerin vor dieser Zeit als auch danach ausgesetzt war, nicht in die Kausalitätsbeurteilung mit einzubeziehen. Weiter sind
während der Zeit ihres Aufenthalts im Kinderheim unter der Leitung der Heimeltern S und P vorliegend auch nur die Störungen
mit zu berücksichtigen, die tatbestandlich unter §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG subsumiert werden können, das heißt nur solche Ereignisse, die einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff darstellen.
Durch die Beweisaufnahme bestätigte die angehörte Zeugin Gewalthandlungen durch die Heimeltern zur Bestrafung von - vermeintlichem
- Fehlverhalten und die von der Klägerin vorgebrachten und konkret den Heimeltern angelasteten Gewaltakte; entsprechend wurde
der Beweisauftrag gegenüber dem Sachverständigen konkretisiert. Dass die Klägerin auch über diese als glaubhaften bzw. bewiesenen
Gewalthandlungen hinaus weiteren Züchtigungen auch in Form von Demütigungen, Erniedrigungen und Strafmaßnahmen (Einsperren)
durch die Heimeltern ausgesetzt war, will der Senat nicht in Abrede stellen. Diese Taten sind aber jedenfalls nach heutigem
Recht nicht tatbestandsmäßig. Sie mögen nach § 14 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch (SGB XIV) einer Gewalttat gleichgestellt
sein ("erhebliche Vernachlässigung von Kindern"); diese Bestimmung gilt allerdings erst ab dem 1. Januar 2024 und eine Entschädigung
für Schädigungen bis zum 15. Mai 1976 kommt auch nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen nach dem
Opferentschädigungsgesetz in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung erfüllt sind.
Soweit sich die Klägerin gegen die gutachtliche Einschätzung wendet, dass die bei ihr bestehenden Diagnosen nicht durch die
erlittenen Gewalterlebnisse im Heim seitens des Heimvaters verursacht bzw. verschlimmert worden seien, überzeugt dieser Einwand
angesichts des nur pauschalen Vorbringens nicht. Denn zur Begründung kann nach den obigen Ausführungen gerade nicht allein
darauf abgestellt werden, dass die Klägerin fortlaufender Gewalt insbesondere während der Heimunterbringung ausgesetzt war
und dass sich überdauernd negative Einflüsse dieser Art negativ auf die Entwicklung des Gehirns ausgewirkt haben. Das gilt
auch insofern, als betreffend die Gewichtung nicht insgesamt auf die negativen Folgen der Heimunterbringung abgestellt werden
kann. Insofern sieht der Senat auch keinen Widerspruch zu den vorgelegten Gutachten von Dr. W und der Einschätzung des MVZ,
als diese die Ursächlichkeit allgemein betrachten, nicht aber die Frage, ob die anerkannten Taten im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG die bei der Klägerin festgestellten Gesundheitsstörungen (teilweise) verursacht haben können. Der Sachverständige Dr. med.
H führt in seiner ergänzenden Stellungnahme dezidiert zu der Stellungnahme von Dr. W vom 13. September 2021 aus, dass den
von Dr. W für die Verursachung der Schäden bei der Klägerin angeschuldigten drei zerebral wirksamen Schadensquellen < 1. Deprivationsbedingungen
im Säuglingsalter 2. Gewaltsam-stressdominierte Lebenssituation in den Heimen der Praeadoleszenz und Adoleszenz 3. Überdauernde
Abschirmung von entwicklungsessentiellen Stimuli für die kognitive, emotionale und intellektuelle Entwicklung > uneingeschränkt
zugestimmt werden könne, dass die Traumatisierungen durch die anerkannten Taten diese Schadensquellen jedoch nicht beinhalten.
Dass die eigene Einschätzung der Klägerin der Einschätzung des Sachverständigen im Hinblick auf die Ursächlichkeit ihrer Schäden
widerspricht, vermag die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht zu erschüttern. Wegen der weiteren Ausführungen
des Sachverständigen wird auf seine ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 14. Oktober 2021 Bezug genommen.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des §
1 Abs. 1Satz 1
OEG sind damit nicht erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.