Beschwerde gegen Kostenfestsetzung
Anrechnung einer hälftigen Geschäftsgebühr
Beschränkung des Anrechnungsbetrages auf den quotalen Anteil
Geringerer Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand in der Sache für den schon vorprozessual tätig gewordenen Prozessbevollmächtigten
Gründe:
I.
Streitig ist die Höhe der Rechtsanwaltsgebühren für das beim Sozialgericht (SG) Gotha anhängig gewesene Verfahren S 22 AS 3384/14. Der Kläger wandte sich mit der im Juli 2014 erhobenen Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2014 (Ablehnung
von Leistungen aufgrund eines Antrags vom 16. März 2014) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2014. Nach
Vorlage eines Bescheides vom 21. November 2014, mit welchem dem Kläger für die Monate August, November und Dezember 2014 Leistungen
bewilligt wurden, bewilligte das SG mit Beschluss vom 15. Dezember 2015 dem Kläger ab dem 21. November 2014 ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des
Beschwerdeführers. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am gleichen Tage, der 31 Minuten dauerte, erklärte sich die Vertreterin
des Beklagten bereit, an den Kläger 14,31 Euro nachzuzahlen. Der Rechtsstreit wurde daraufhin in der Hauptsache für erledigt
erklärt und die Beklagte erklärte sich bereit, ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Am 08. Januar 2016 beantragte der Beschwerdeführer die Festsetzung der Vergütung wie folgt:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG
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300,00 Euro
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Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG
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280,00 Euro
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Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV-RVG
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20,00 Euro
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19 % Umsatzsteuer nach 7008 VV-RVG
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114,00 Euro
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Summe
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714,00 Euro
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Mit Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 16. August 2016 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die zu erstattende Vergütung
wie folgt fest:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG
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300,00 Euro
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abzgl. Gebühr Nr. 2302 VV-RVG zu 1/2
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- 150,00 Euro
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Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG
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280,00 Euro
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Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV-RVG
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20,00 Euro
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19 % Umsatzsteuer nach 7008 VV-RVG
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85,50 Euro
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Summe
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535,50 Euro
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Die Urkundsbeamtin führte aus, dass die beantragte Mittelgebühr als angemessen anzusehen sei. Auf diese sei die hälftige Gebühr
nach Nr. 2302 VV-RVG anzurechnen; insoweit sei die entstandene, nicht die tatsächlich erhaltene Gebühr zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Terminsgebühr
sei ebenfalls die beantragte Mittelgebühr als angemessen anzusehen.
Dagegen hat der Beschwerdeführer Erinnerung eingelegt. Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr könne
nur insoweit vorgenommen werden, wie die Geschäftsgebühr auch tatsächlich gezahlt worden sei. Dies folge aus § 55 Abs. 5 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG). Gezahlt worden seien unstreitig nur 75 Euro entsprechend einem Viertel der Geschäftsgebühr aus dem Widerspruchsverfahren.
Davon sei lediglich die Hälfte, also ein Betrag von 37,50 Euro anrechenbar.
Mit Beschluss vom 4. September 2017, zugestellt am 8. September 2017, hat das SG die Erinnerung zurückgewiesen und zugleich die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG zugelassen. Auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG sei gemäß Vorbemerkung zu Nr. 3 Abs. 4 Satz 2 VV-RVG zutreffend die hälftige Geschäftsgebühr in Höhe von 150,00 Euro angerechnet worden. Die Auslegung des Erinnerungsführers,
wonach die Anrechnung nur unter Berücksichtigung der von der Beklagten übernommenen Kosten in Höhe von 25 % also in Höhe von
37,50 Euro erfolgen dürfe, überzeuge nicht. Diese Auslegung stehe mit dem Wortlaut der Vorbemerkung zu Nr. 3 Abs. 4 Satz 2
VV-RVG, wonach die "entstandene" und nicht die tatsächliche erstattete Geschäftsgebühr zur Hälfte anzurechnen sei, nicht im Einklang.
Dem stehe auch die Vorschrift des § 55 Abs. 5 Satz 2 bis Satz 4 RVG nicht entgegen. Das Wahlrecht des Rechtsanwalts nach § 15 a Abs. 1 RVG sei nicht schon dann beschränkt, wenn eine Geschäftsgebühr für das Betreiben des Widerspruchsverfahrens entstanden sei, sondern
nur, wenn wie hier eine entsprechende Zahlung auf die Geschäftsgebühr tatsächlich erfolgt sei.
Hiergegen hat der Beschwerdeführer am 14. September 2017 zunächst direkt beim Thüringer Landessozialgericht Beschwerde eingelegt
(L 6 SF 1115/17 B). Auf Hinweis des Thüringer Landessozialgerichts, dass die Einlegung der Beschwerde die Frist nach § 33 Abs. 7 Satz 3 RVG nicht wahre, hat der Beschwerdeführer am 23. Oktober 2017 diese Beschwerde zurückgenommen und mit Schriftsatz vom gleichen
Tage beim Sozialgericht Gotha Beschwerde eingelegt. Von dem Beklagten seien unstreitig nur 75 Euro als Geschäftsgebühr aus
dem Widerspruchsverfahren entsprechend der Kostenquote erstattet worden. Daher könne auch nur die Hälfte dieser tatsächlich
geleisteten Gebühr abgezogen werden. Diese folge aus § 55 Abs. 5 Satz 2 bis 4 RVG und stehe sowohl mit dem Wortlaut des § 15 a Abs. 2 RVG als auch dessen Sinn und Zweck im Einklang.
Der Beschwerdegegner hat auf die Abgabe einer Stellungnahme verzichtet und die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt.
Der Berichterstatter hat das Verfahren mit Beschluss vom 27. August 2018 wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen.
II.
Anzuwenden ist das RVG in der ab dem 1. August 2013 (neue Fassung) geltenden Fassung, denn sowohl die Beiordnung des Beschwerdeführers als auch
die Erteilung seiner Vollmacht sind nach diesem Zeitpunkt erfolgt (§ 60 Abs. 1 Satz 1 RVG). Der streitgegenständliche Bescheid datiert vom 6. Mai 2014. Die Beschwerde ist nach §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 2 RVG statthaft, denn das Sozialgericht hat in dem angegriffenen Beschluss die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Die Rechtsmittelbelehrung im Beschluss der Vorinstanz ist fehlerhaft. Die Einlegung der Beschwerde beim Thüringer Landessozialgericht
wahrt die Frist nicht (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 7 Satz 3 RVG); dann gilt die Jahresfrist, die hier gewahrt ist.
Die Beschwerde des Beschwerdeführers hat in der Sache Erfolg. Vorab weist der Senat darauf hin, dass Gegenstand der Überprüfung
die gesamte Kostenfestsetzung ist (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschlüsse vom 15. April 2015 - L 6 SF 331/15 B und vom 9. Dezember 2015 - L 6 SF 1286/15 B m.w.N., nach Juris). Die Beteiligten streiten jedoch ausschließlich darüber, ob die hälftige Geschäftsgebühr in Höhe von
150,00 Euro anzurechnen ist oder nur die Hälfte der tatsächlich von der Beklagten im Ausgangsverfahren übernommenen und gezahlten
Geschäftsgebühr in Höhe von 37,50 Euro. Anhaltspunkte dafür, dass die Vergütung des Beschwerdeführers im Hinblick auf die
Verfahrens- und Terminsgebühr als solche höher oder anders festzusetzen wäre, liegen nicht vor. Der Vollständigkeit halber
weist der Senat daraufhin, dass das SG im Tenor nach § 55 Abs. 1 S. 1 RVG die aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung hätte festsetzen müssen.
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers war der Beschluss des Sozialgerichts vom 4. September 2017 insoweit abzuändern, als
eine Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr gemäß Vorbemerkung zu Nr. 3 Abs. 4 VV-RVG nur in Höhe des tatsächlich von der Beklagten gezahlten Betrages von 75,00 Euro zu erfolgen hat. Nach der Vorbemerkung 3
Abs. 4 Satz 1 VV-RVG wird, soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach Teil II (d.h. eine nach den Nrn. 2300 bis 2303 VV-RVG) entsteht, diese Gebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Bei Betragsrahmengebühren
beträgt der Anrechnungsbetrag höchstens 175,00 Euro. § 15 a Abs. 1 RVG ordnet an, dass dem Rechtsanwalt grundsätzlich sowohl die Verfahrens- als auch die Geschäftsgebühr in voller Höhe zusteht,
er jedoch insgesamt nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag reduzierten Betrag fordern kann. Ihm steht insoweit jedenfalls
im Verhältnis zum Mandanten ein Wahlrecht zu, auf welche Gebühren die Anrechnung erfolgen soll (vgl. BT-Drucksache 16/12717
S. 68).
Aus § 15 a Abs. 2 RVG folgt, dass die Anrechnung grundsätzlich nur das Rechtsverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten betrifft. Ein Dritter
kann sich nur in den dort ausdrücklich genannten Fällen auf die Anrechnung berufen. Keine der in § 15 a Abs. 2 RVG genannten Fallkonstellationen sind hinsichtlich der Staatskasse erfüllt. Sie kann sich daher auf die Anrechnung nur berufen,
wenn die Geschäftsgebühr für das Vorverfahren auch tatsächlich gezahlt worden ist. Vorliegend hat der Beschwerdeführer von
der Beklagten des Ausgangsverfahrens entsprechend der Kostenquote einen Betrag in Höhe von 75,00 Euro, d.h. ein Viertel der
Geschäftsgebühr für das Vorverfahren erhalten. Im Vergütungsfestsetzungsantrag hat er zugleich mitgeteilt, weitere Zahlungen
nicht erhalten zu haben. Damit ist nur die Hälfte dieser tatsächlich erhaltenen Gebühr anzurechnen. Die Berechnung des Anrechnungsbetrages
ist sowohl nach dem Wortlaut des § 15 a Abs. 2 RVG als auch nach dessen Sinn und Zweck auf den quotalen Anteil beschränkt, wenn der Verfahrensgegner als erstattungspflichtiger
Dritter nicht die volle Geschäftsgebühr, sondern die Vorverfahrenskosten nur teilweise erstattet. Anzurechnen sind lediglich
die vom erstattungspflichtigen Dritten gezahlten Vorverfahrenskosten (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 30. März 2017 - S 164
SF 796/16 E, zitiert nach Juris). Dass auf die gezahlten Vorverfahrenskosten bei der Anrechnung allein abzustellen ist, folgt
aus § 55 Abs. 5 Satz 2 bis 4 RVG. Danach hat der Rechtsanwalt anzugeben, welche Zahlung auf etwaig anzurechnende Gebühren geleistet worden sind, wie hoch
diese Gebühren und aus welchem Wert sie entstanden sind. Sinn und Zweck dieser Angaben ist es, die für die Festsetzung der
Vergütung erforderlichen Daten zur Verfügung gestellt zu bekommen. Des Weiteren sieht § 55 Abs. 6 RVG Sanktionen gegen den Rechtsanwalt für den Fall vor, dass er zu "empfangenen Zahlungen im Kostenfestsetzungsverfahren keine
Erklärung abgegeben hat". Darüber hinaus ist ein Rechtsanwalt nach § 55 Abs. 5 Satz 4 RVG ungefragt auch hinsichtlich nachträglich erhaltener Zahlungen weitreichenden Informationspflichten unterworfen. Diese Vorgaben
machen deutlich, dass bei der Kostenfestsetzung nur geleistete Zahlungen zu berücksichtigen sind, denn anderenfalls wären
Angaben über die erhaltenen Zahlungen nicht erforderlich (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4. Januar 2016 - L 10 SB 57/15 B, zitiert nach Juris). Die Gegenauffassung, wonach auf die entstandene Geschäftsgebühr abzustellen ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 1. Februar 2017 - L 19 AS 1408/16 B, zitiert nach Juris), überzeugt hingegen nicht. Die Bezugnahme auf den Wortlaut der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 3 VV-RVG "entstandene" hindert nicht, auf eine tatsächlich erhaltene Geschäftsgebühr abzustellen. Der Wortlaut "entstandene" bringt
zum Ausdruck, dass die Voraussetzungen für den jeweiligen Gebührentatbestand erfüllt sein müssen und steht einer derartigen
Auslegung jedenfalls nicht entgegen. Des Weiteren ist die Vorbemerkung zu 3 Abs. 4 VV-RVG systematisch im Zusammenhang insbesondere mit § 55 Abs. 5 Satz 2 bis 4 RVG zu lesen.
Diese Auffassung wird auch dem Sinn und Zweck der Anrechnung gerecht. Die Anrechnung hat ihren Grund darin, dass dem schon
vorprozessual mit der Sache befassten und hierfür vergüteten Prozessbevollmächtigten im Hinblick auf den erfahrungsgemäß geringeren
Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand nur eine gekürzte Vergütung zugebilligt werden soll (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember
2011 - XI ZB 17/11, zitiert nach Juris; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, Kommentar zum RVG, 23. Auflage 2017, Vorbemerkung 3 VV, Rn. 245). Dabei ist insgesamt eine wirtschaftliche Betrachtung geboten. Bei der Kostenerstattung
ist die Anrechnung dahingehend zu berücksichtigen, dass der kostenpflichtige Gegner bzw. hier die Staatskasse nicht mehr zu
erstatten hat, als die obsiegende Partei ihrem Prozessbevollmächtigten aus dem Mandatsverhältnis schuldet. Diese Vorgaben
sind hier erfüllt. Soweit beanstandet wird, dass bei einer Anrechnung nur der Hälfte der gezahlten Geschäftsgebühr aufgrund
des Wahlrechts des Rechtsanwalts, ob er wegen seiner Vergütung zuerst die erstattungspflichtige Gegenpartei oder die Staatskasse
in Anspruch nehmen will, es zu voneinander abweichenden Ergebnissen kommen kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
1. Februar 2017 - L 19 AS 1408/16 B, zitiert nach Juris), vermag dies nichts daran zu ändern, dass aufgrund der Vorschrift des § 15 a Abs. 1 RVG jedenfalls im Innenverhältnis (Auftraggeber und Rechtsanwalt) dem letzteren die volle Wahlfreiheit gelassen wird, welche
Gebühr er in voller Höhe fordern will und welche er dann infolge der Deckelung durch die Höchstsumme infolge der Anrechnung
nur beschränkt verlangt (vgl. dazu Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. Dezember 2015 - L 15 SF 133/15, zitiert nach Juris unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung BT-Drucksache 16/12717, S. 58; Sächsisches Landessozialgericht,
Beschluss vom 26. Juli 2017 - L 8 AS 640/15 B KO, Juris). Da der Beklagte vorliegend eine Geschäftsgebühr von 75,00 EUR gezahlt hat, ist diese gemäß Vorbemerkung zu Teil
3 Abs. 4 Satz 1 VV RVG in hälftiger Höhe von 37,50 EUR anzurechnen.
Damit errechnet sich die Vergütung des Beschwerdeführers wie folgt:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG
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300,00 Euro
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abzgl. Gebühr Nr. 2302 VV-RVG zu 1/2
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- 37,50 Euro
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Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG
|
280,00 Euro
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Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV-RVG
|
20,00 Euro
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Zwischensumme
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562,50 Euro
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19 % Umsatzsteuer nach 7008 VV-RVG
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106,88 Euro
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Summe
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669,38 Euro
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Die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).