Verletztenrente für einen Arbeitsunfall
Bemessung des Grades der MdE
Beeinträchtigung des Leistungsvermögen des Versicherten
Ärztliche Meinungsäußerungen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Fortzahlung einer Rente wegen eines Arbeitsunfalles vom 16. Juni 1999 über den 31. August
2000 hinaus. Die 1966 geborene Klägerin erlitt am 16. Juni 1999 im Rahmen ihrer Tätigkeit als Erzieherin einen Arbeitsunfall,
als sie in einer Kindertagesstätte von einer Stehleiter abrutschte und auf die linke Schulter fiel. Ausweislich des Durchgangsarztberichtes
vom gleichen Tage erlitt sie dabei eine Schulterluxation mit Absprengung des Tuberculum majus links. Deshalb befand sie sich
bis zum 22. Juni 1999 in stationärer Behandlung im damaligen Kreiskrankenhaus I ... Im Auftrag der Beklagten erstellte der
Chirurg Dr. C. am 16. November 2000 ein unfallchirurgisches Gutachten und stellte als Unfallfolgen eine traumatische Schulterluxation
mit Abriss des großen Oberarmhöckers und Schädigung des Nervus axillaris fest. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte
er bis zum 31. August 2000 auf 20 v. H. und für die Zeit danach auf 10 v. H.
Daraufhin erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 5. März 2001 das Ereignis vom 16. Juni 1999 als Arbeitsunfall und als Folgen:
"Endgradige Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes links beim Auswärtsdrehen des angelegten Armes sowie beim Einwärtsdrehen
des zur Horizontale abgehobenen Ames; geringe Verschmächtigung der Schulterklappen- und Armmuskulatur links; Minderung des
Kalksalzgehaltes linkes Schultergelenk; reizlose, gut verschiebliche Operationsnarben am Oberarm sowie an der Außenseite des
Oberarmkopfes; noch nachweisbare Veränderungen im Bereich des Nervus axillaris nach traumatischer Schulterluxation links mit
Abriss der großen Oberarmhöckers." an.
Nicht als Folgen des Arbeitsunfalles wurde eine beginnende Schultereckgelenksarthrose links anerkannt. Die Beklagte bewilligte
eine Verletztenrente für die Zeit vom 31. Juli 1999 bis 31. August 2000. Hiergegen legte die Klägerin am 23. März 2001 hinsichtlich
der Höhe der MdE insbesondere über den 31. August 2000 hinaus Widerspruch ein. In der Zeit vom 14. bis 22. Februar 2002 befand
sich die Klägerin im Marienstift A. in Behandlung. Dort wurde der Rotatorenmanschettenschaden operativ behandelt.
Im Auftrag der Beklagten erstattete der Chirurg Dr. R. am 15. April 2003 ein Erstes Rentengutachten. Darin bezifferte er die
MdE ohne Berücksichtigung der Schädigung des Nervus axillaris mit 10 v. H. In einem neurologischen Zusatzgutachten vom 22.
Mai 2003 stellte Dr. B. eine Schädigung des Nervus axillaris links fest. Die MdE bezifferte er deshalb mit 15 v. H. Dr. R.
bezifferte zusammenfassend in einer Stellungnahme vom 4. Juni 2003 die gesamte MdE auf 20 v. H. Dieser Einschätzung widersprach
der Beratungsarzt der Beklagten Dr. L. in einer Stellungnahme vom 11. August 2003. Entscheidend seien nicht die elektrophysiologischen
Befunde sondern deren funktionelle Auswirkungen. Die unfallbedingte Gesamt-MdE betrage ab dem 1. September 2000 weniger als
20 v. H. Gestützt hierauf wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2003 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 13. Oktober 2003 Klage erhoben. Das Sozialgericht Gotha hat den Chirurgen Dr. W. mit der Erstellung
eines Gutachtens beauftragt. Er stellte ein Zurückgehen der Muskelminderung des linken Armes fest. Eine Schwächung der groben
Kraft der linken Hand sei nicht nachvollziehbar. Aufgrund der weitgehend freien Beweglichkeit der linken Schulter liege eine
messbare MdE nicht vor. Auch unter Berücksichtigung der Nervenschädigung könne die MdE lediglich mit 10 v. H. bewertet werden.
Pathologische neurophysiologische Messwerte allein könnten eine rentenberechtigende MdE nicht begründen.
Auf Antrag der Klägerin beauftragte das Sozialgericht Gotha den Chirurgen Dr. R. nach §
109 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) mit der Erstellung eines Gutachtens und zusätzlich den Neurologen Dr. B ... Letzterer bezifferte in seinem neurologischen
Zusatzgutachten vom 15. Oktober 2007 die MdE wegen der Teilschädigung des Nervus axillaris auf 15 v. H. Unter Einbeziehung
dieses Zusatzgutachtens bezifferten Dr. Re. und Dr. R. in ihrem Gutachten vom 30. Oktober 2007 die Gesamt-MdE auf 20 v. H.
Dieser Einschätzung widersprach der Beratungsarzt der Beklagten Dr. L. in einer Stellungnahme vom 22. Januar 2008. Die funktionellen
Auswirkungen des Unfallereignisses vom 16. Juni 1999 seien ausgesprochen gering. Relevante Funktionseinbußen im Bereich der
linken Schulter und des linken Armes seien nicht festzustellen. Die MdE betrage unter 20 v. H.
Mit Urteil vom 21. Juli 2008 hat das Sozialgericht Gotha den Bescheid der Beklagten vom 5. März 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 12. September 2003 geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen des Arbeitsunfalles vom 16. Juni 1999
über den 31. August 2000 hinaus in gesetzlicher Höhe nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren. Eine Schädigung des Nervus axillaris
durch das Unfallereignis sei nachgewiesen. Ferner liege eine hochgradige Teilschädigung des Achselnervs vor.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Es liege nur eine geringe Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenkes
vor. Die funktionellen Auswirkungen der Unfallfolgen seien ausgesprochen gering.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 21. Juli 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat im Berufungsverfahren (L 1 U 1173/08 bzw. nach Senatswechsel L 12 U 1173/08) ein Gutachten des Chirurgen Dr. K. und ein neurologisches Zusatzgutachten von Dr. H. eingeholt. Dr. K. schätzt aufgrund
der ab August 2000 dokumentierten freien Schultergelenksbeweglichkeit allenfalls bis Mitte August 2000 die Gesamt-MdE mit
20 v. H. ein. Dr. H. stellte in seinem Gutachten vom 26. Oktober 2011 fest, dass neurologisch ein guter Zustand zur Darstellung
komme. Die Nervus axillaris-Schädigung sei als elektrophysiologischer Restzustand ohne klinisch-funktionelle Bedeutung einzustufen.
Mit Beschluss vom 18. September 2012 hat der damals zuständige 12. Senat des Thüringer Landessozialgerichts das Ruhen des
Verfahrens auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten wegen eines weiteren Arbeitsunfalles vom 12. Juli 2007 angeordnet
im Hinblick auf einen möglichen Stützrententatbestand. Einen Schriftsatz der Klägerin vom 11. April 2013 hat der damals zuständige
12. Senat als Wiederaufgreifensantrag gewertet. Dieses Verfahren (L 12 U 682/13) wurde erneut mit Beschluss vom 11. Juni 2013 auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten zum Ruhen gebracht, weil das Abwarten
des rechtskräftigen Abschlusses des Verfahrens L 1 U 925/16 im Hinblick auf einen Stützrententatbestand als zweckmäßig angesehen wurde. In einem Erörterungstermin vom 10. Juli 2017
im Verfahren L 1 U 925/16 haben die Beteiligten auf Anregung des Berichterstatters das Wiederaufrufen des Verfahrens beantragt.
Der Senat hat ein Gutachten des Handchirurgen Dr. S. vom 25. September 2017 eingeholt. Darin beschreibt dieser als Folgen
des Arbeitsunfalles vom 16. Juni 1999 eine endgradige Minderung (besonders bei Abduktion) an der linken Schulter, eine leichte
Verschmächtigung des Deltamuskels und der körpernahen Oberarmmuskulatur links und eine zystische Minderung des Kalksalzgehaltes
im Bereich der am Oberarm erlittenen Fraktur und eine Minderung des Gleitraums für die Schultersehnen. Die beginnende Arthrose
des linken Schultereckgelenks stehe mit dem Unfallgeschehen nicht im Zusammenhang. Auf chirurgischem Fachgebiet sei die MdE
auf 10 v. H. ab dem 1. September 2000 und auf Dauer einzuschätzen. Die festgestellte Bewegungseinschränkung im Bereich des
Schultergelenks Arm/seitwärts vorwärts von 120/0/40 Grad rechtfertige eine MdE von 10 v. H. nicht. Unter Berücksichtigung
der deutlichen Muskelschwäche und der ausgeprägten Narbenbildung an der linken Schulter und am körpernahen Oberarm sei eine
MdE von 10 v. H. aber zu begründen. Hinsichtlich der Beurteilung der Teilschädigung des Nervus axillaris sei ein neurologisches
Zusatzgutachten einzuholen. Für den Fall einer elektrophysiologisch bestätigten substantiellen Teilschädigung des Nervus axillaris
empfehle er eine Gesamt-Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 20 v. H.
Daraufhin hat der Senat die Neurologin Dr. Se. mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens beauftragt. Diese führt in ihrem
Gutachten vom 16. Juli 2018 aus, dass als Unfallfolge eine persistierende Läsion im Bereich des Nervus axillaris links mit
geringen funktionellen Störungen bei Zustand nach Luxationsfraktur der linken Schulter vorliege. Klinisch zeige sich eine
geringe Athrophie (= Verschmächtigung) im Bereich des Deltamuskels links und eine leichte Schwäche bei der Abduktion des linken
Armes. Eine Schädigung im Bereich des Nervus axillaris sei nachweisbar. Eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik liege nicht vor.
In allen bisherigen neurologischen Untersuchungen sei eine Schädigung des Nervus axillaris bejaht worden. Die Schädigung des
Nervus axillaris links führe auch zu funktionellen Einbußen bei der Klägerin. Entstehende neurologische Auffälligkeiten ließen
sich eindeutig der Schädigung des Nervens zuordnen. Unter Berücksichtigung aller Befunde sei bei einer Teillähmung der Nervus
axillaris wie im Fall der Klägerin eine MdE von 15 v. H. vorzuschlagen. Unter Berücksichtigung der Einschränkungen auf unfallchirurgischem
Fachgebiet betrage die Gesamt-MdE für die Zeit ab 1. September 2000 und auf Dauer 20 v. H.
Die Klägerin sieht sich durch die Ausführungen in den Sachverständigengutachten bestätigt.
Die Beklagte ist in Anlehnung an eine beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen Prof. Dr. M. vom 22. August 2018 der
Auffassung, dass neurologische Funktionsbeeinträchtigungen nicht nachgewiesen seien. Die elektrophysiologische Untersuchung
belege nur eine unvollständige Regeneration des Nervus Axillaris. Funktionelle Folgen seien nicht beschrieben. Hinsichtlich
der eingeschränkten Abduktion des Armes werde nicht differenziert, ob nur eine mechanisch bedingte oder eine Teillähmung vorliege.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens, des Verfahrens L 1 U 925/16 und die jeweiligen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten erweist sich teilweise als begründet.
Die Klägerin hat wegen des Arbeitsunfalles vom 16. Juni 1999 keinen Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 20
v. H. Der Bescheid der Beklagten vom 5. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2003 in der
Gestalt des weiteren Bescheides der Beklagten vom 11. Februar 2013 erweist sich insoweit als rechtmäßig. Hingegen hat die
Klägerin ab dem 25. August 2007 Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente nach einer MdE von 10 v. H. wegen ihres Arbeitsunfalles
vom 16. Juni 1999 in Verbindung mit einem Stützrententatbestand wegen eines weiteren Arbeitsunfalles vom 12. Juli 2007. Für
den Zeitraum 25. August 2007 bis 11. Juli 2010 folgt dies bereits daraus, dass die Beklagte der Klägerin wegen des weiteren
Arbeitsunfalles vom 12. Juli 2007 mit Bescheid vom 25. Februar 2009 für die Zeit vom 25. August 2007 bis 6. April 2008 eine
Rente nach einer MdE von 20 v. H. und für den Zeitraum 7. April 2008 bis 11. Juli 2010 nach einer MdE von 10 v. H. bewilligte
unter gleichzeitiger Anerkennung eines Stützrententatbestandes wegen des Unfallereignisses vom 16. Juni 1999 in Höhe von 10
v. H. Dies hat die Beklagte aber bescheidmäßig nur unzureichend umgesetzt. Denn sie hat es unterlassen, den erforderlichen
Bescheid hinsichtlich der Gewährung einer Verletztenrente für den Zeitraum 25. August 2007 bis 11. Juli 2010 wegen des Unfallereignisses
vom 16. Juni 1999 zu erlassen. Für die Zeit ab 12. Juli 2010 liegt der erforderliche Stütztatbestand ebenfalls vor. Denn der
Senat hat wegen des Unfallereignisses vom 12. Juli 2007 mit Urteil vom heutigen Tage der Klägerin eine Verletztenrente nach
einer MdE von 10 v. H. über den 11. Juli 2010 hinaus bewilligt (L 1 U 925/16).
Nach §
56 Abs.
1 SGB VII haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus Anspruch auf Gewährung
von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Abweichend von dem in § 56 Abs. 1 Satz 1 normierten
Regelfall, dass eine MdE infolge eines Versicherungsfalls erst dann mit Verletztenrente zu entschädigen ist, wenn sie mindestens
20 v.H. beträgt, tritt die Entschädigungspflicht nach § 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 auch dann ein, wenn aus zwei Versicherungsfällen
jeweils eine MdE von mindestens 10 v.H. resultiert.
Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht nach §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Neben der Feststellung der Beeinträchtigung
des Leistungsvermögen des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen
bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der
dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (vgl.
BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R -, zitiert nach Juris). Bei der Bewertung der MdE ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher maßgebend, sondern vielmehr
der damit verbundene Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl.
BSG, Urteile vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R und vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R, beide zitiert nach Juris). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen
beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit
derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber
eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf
beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind
(vgl. BSG, Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 42/86, zitiert nach Juris). Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen
und medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend
sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis
bilden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R, zitiert nach Juris).
Eine Einbeziehung der Folgen des weiteren Arbeitsunfalles vom 12. Juli 2007 darf dabei nicht erfolgen, auch wenn Überschneidungen
wegen der Betroffenheit des linken Armes denkbar sind. Denn nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 19. August 2003 - B 2 U 50/02 R, zitiert nach Juris) sind Gesundheitsschäden, die auf mehreren Arbeitsunfällen beruhen, jeweils getrennt zu beurteilen. Die
Bildung einer Gesamt-MdE kommt nicht in Betracht, auch wenn durch mehrere Arbeitsunfälle dasselbe Organ betroffen und wenn
für die Entschädigung dieser Unfälle derselbe Unfallversicherungsträger zuständig ist. Das bedeutet für den vorliegenden Fall,
dass beide Arbeitsunfälle hinsichtlich der linken Schulter und der linken Hand getrennt zu beurteilen sind. Wechselwirkungen
dürfen nicht gebildet werden.
In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich für die Klägerin unter Berücksichtigung des Stützrententatbestandes wegen eines
weiteren Unfallereignisses vom 12. Juli 2007 ein Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles
vom 16. Juni 1999 über den 11. Juli 2010 hinaus nach einer MdE in Höhe von 10 v.H. Die durch den Arbeitsunfall verursachten
Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigen eine MdE in Höhe von 20 v. H. wie von der Klägerin beantragt, hingegen nicht. Maßgebender
Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen
(vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum
SGG, 12. Aufl. 2017, §
54 Rn. 34 ff.; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, Kommentar zum
SGG, 2014, §
54 Rn. 159), vorliegend am 25.Oktober 2018. Der Anspruchsteller - hier die Klägerin - ist stets so zu stellen, als wenn von
vornherein rechtmäßig entschieden worden wäre. Der Senat hat daher bei der Überprüfung der angefochtenen Bescheide alle bis
zum 25. Oktober 2018 eingetretenen entscheidungserheblichen Umstände zu berücksichtigen.
Der Sachverständige Dr. S. beschreibt in seinem Sachverständigengutachten vom 25. September 2017 im Einklang mit den bindenden
Feststellungen der Beklagten als Unfallfolgen unter anderem eine endgradige Minderung (besonders bei Abduktion) an der linken
Schulter, eine leichte Verschmächtigung des Deltamuskels und der körpernahen Oberarmmuskulatur links und eine Minderung des
Gleitraums für die Schultersehnen. Ferner wird eine Schwäche der vom Nervux axillaris versorgten Deltamuskulatur und eine
zystische Minderung des Kalksalzgehaltes im Bereich der am Oberarm erlittenen Fraktur beschrieben. Zu Recht führt er anschließend
unter Hinweis auf die Erfahrungswerte in Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017,
Seite 568 aus, dass diese Feststellungen eine MdE von 20 v.H. auf chirurgischem Fachgebiet nicht begründen. Im Einklang mit
den Erfahrungswerten legt er dar, dass bei einer Bewegungseinschränkung der Schulter vorwärts/seitwärts bis 120 Grad, Rotation
frei eine MdE von 10 v.H. in Betracht kommt. Bei seiner gutachterlichen Untersuchung und auch bei allen in der Vergangenheit
erfolgten Untersuchungen war die Bewegungsfähigkeit jedoch besser als 120 Grad. Sein Vorschlag, dennoch eine MdE von 10 v.
H. anzunehmen, beruht auf einer Berücksichtigung der deutlichen Muskelschwäche am Deltamuskel und der ausgeprägten Narbenbildung
an der linken Schulter. Hinsichtlich der Teilschädigung am Nervus axillaris hat er eine neurologische Zusatzbegutachtung empfohlen.
Zudem verweist er auf eine festgestellte Minderung der Oberarmmuskulatur von 1,5 cm links. In diesem Zusammenhang verweist
er des Weiteren noch auf die Besonderheit, dass bei Teilschädigungen eines Nervens einzelne Muskelbereiche verschmächtigen,
während andere Teile des Muskels sich verstärkt ausbilden. Seine Einschätzung einer Gesamt-MdE in Höhe von 20 v.H. beruht
wesentlich darauf, dass neurologischerseits eine substantielle Teilschädigung des Nervus axillaris festgestellt wird. Insoweit
ergibt sich aus dem neurologischen Gutachten von Dr. Se. vom 16. Juli 2018 zwar eine persistierende Läsion im Bereich des
Nervus axillaris links. Frau Dr. Se. beschreibt diese jedoch selbst als nur verbunden mit geringen funktionellen Störungen.
Die MdE-Bewertung stellt eine Funktionsbewertung dar. Daher kann allein das Vorliegen einer Nervenschädigung für sich im Regelfall
keine MdE in einer bestimmten Höhe begründen. Erforderlich sind bestimmte funktionelle Einschränkungen. Insoweit lassen sich
dem Gutachten von Dr. Se. vom 16. Juli 2018 zwar deutliche pathologische Seitendifferenzen im Hinblick auf den Nervus axillaris
entnehmen. Eine klare Amplitudenminderung links wurde festgestellt. An konkreten funktionellen Einschränkungen hat Dr. Se.
in ihrem Gutachten aber nur eine geringe Athrophie (Verschmächtigung) im Bereich des Deltamuskels links und eine leichte Schwäche
bei der Abduktion des linken Armes festgestellt. Des Weiteren war eine sensible Störung im Bereich der Außenseite des Oberarmes
nachweisbar. Dr. Se. führt des Weiteren aus, dass die Klägerin gut an die bestehenden leichten Einschränkungen adaptiert ist
und sich keine Hinweise auf eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik fanden. Im Gegensatz zu den Ausführungen der Sachverständigen
Dr. K. und Dr. H. geht sie auch von funktionellen Einbußen bei der Klägerin aus. Im Rahmen der erforderlichen Bildung der
Gesamt-MdE ergibt sich, dass die MdE insgesamt mit 10 v. H. zu bemessen ist. Eine Addition einzelner Teil-MdE-Werte ist grundsätzlich
ausgeschlossen. Vielmehr sind die Werte in "Gesamtschau der Gesamteinwirkung aller einzelnen Schäden auf die Erwerbsfähigkeit"
integrierend zusammenzufassen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite
131). Die Funktionseinbußen der Klägerin auf chirurgischem und neurologischem Fachgebiet überschneiden sich deutlich. Betroffen
ist der Bereich der linken Schulter. In Zusammenfassung der Feststellungen der Sachverständigen Dr. S. und Dr. Se. gelangt
der Senat daher zu seiner Einschätzung, dass die MdE 10 v. H. beträgt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits die MdE
auf chirurgischem Fachgebiet die von Dr. S. in seinem Gutachten vom 25. September 2017 vorgeschlagen wurde, davon ausgeht,
dass die Bewegungsausmaße der linken Schulter eine MdE von 10 v.H. nicht begründen. Sein Vorschlag, dennoch eine MdE von 10
v. H. anzunehmen, beruht auf der Berücksichtigung neurologischer Funktionseinschränkungen. Bezüglich dieser Einschränkungen
hat Dr. S. zugleich eine neurologische Zusatzbegutachtung empfohlen. Dr. Se. beschreibt in dem neurologischen Gutachten aufgrund
der festgestellten Teilschädigung des Nervus axillaris geringe funktionelle Störungen. Beschrieben werden eine geringe Athrophie
(Verschmächtigung) im Bereich des Deltamuskels links und eine leichte Schwäche bei der Abduktion des linken Arms und eine
sensible Störung im Bereich der Außenseite des Oberarms. Angesichts dieser beschriebenen funktionellen Einschränkungen ist
ihr Vorschlag einer Teil-MdE auf neurologischem Fachgebiet von 15 v. H. in der Form nicht nachvollziehbar. Nach den Erfahrungswerten
(vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 252) begründet der vollständige
Ausfall des Nervus axillaris eine MdE von 30 v. H. Teillähmungen sind entsprechend geringer zu bemessen. Ob auf neurologischem
Gebiet angesichts der beschriebenen funktionellen Einschränkungen eine Teil-MdE von 10 v. H. erreicht wird, kann der Senat
letztlich offenlassen. Denn unter Berücksichtigung der beschriebenen nicht wesentlich eingeschränkten Schulterbeweglichkeit
und der mit der Nervenschädigung einhergehenden weiteren funktionellen Störungen hält der Senat eine Gesamt-MdE aufgrund der
Folgen des Arbeitsunfalles am 16. Juni 1999 in Höhe von 10 v. H. für angemessen.
Diese Einschätzung kann grundsätzlich auch für die Vergangenheit Anwendung finden. Sie steht mit dem im erstinstanzlichen
Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. W. im Einklang. Soweit Dr. R. in seinem Gutachten vom 30. Oktober 2007 eine MdE von
20 v. H. vorschlägt, beruht dies im Wesentlichen auf einer deutlich höheren Bewertung der Nervenschädigung unter Bezugnahme
auf das Gutachten des Neurologen Dr. B. vom 15. Oktober 2007. Dies ist aber, wie bereits ausgeführt, in dieser Form nicht
nachweisbar. Soweit Dr. H. in seinem neurologischen Gutachten vom 26. Oktober 2011 die Nervenschädigungen nicht mehr für relevant
hält, entspricht dies ebenfalls nicht den Tatsachen. Denn auch zum damaligen Zeitpunkt waren schon bestimmte Muskelathrophien
beschrieben. Dasselbe gilt für die beratungsärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. M. vom 22. August 2018. Auch er geht von
einer unvollständigen Regeneration des Nervus axillaris aus. Ob die Einschränkung der Beweglichkeit des linken Armes eher
mechanisch bedingt oder Folge einer Restlähmung ist, ist für die Bildung der MdE irrelevant.
Soweit das Sozialgericht die Beklagte verurteilt hat, über den 31. August 2000 hinaus Verletztenrente in gesetzlicher Höhe
nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren, besteht hierfür keine Grundlage. Auch die Gewährung einer Verletztenrente in Höhe
von 10 v. H. unter Berücksichtigung eines Stützrententatbestandes vor dem 25. August 2007 scheidet aus, denn aufgrund des
Arbeitsunfalles vom 12. Juli 2007 wurde eine entsprechend zu berücksichtigende Stützrente erst ab dem 25. August 2007 gewährt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzung des §
160 SGG nicht vorliegen.