Festsetzung der Vergütung medizinischer Sachverständiger im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I. Im Berufungsverfahren R. L .../. Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland (L 12 R 448/10) ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.
Mit Beweisanordnung vom 15. Dezember 2011 beauftragte der Berichterstatter des 12. Senats des Thüringer Landessozialgerichts
den Erinnerungsführer, einen HNO-Facharzt, mit der Erstellung eines Gutachtens nach §
106 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG). Zusätzlich wurde er beauftragt, von Dr. A. ein Zusatzgutachten einzuholen. Übersandt wurden ihm die Gerichts- (235 Blatt)
und die Verwaltungsakte (186 Blatt). Anschließend übersandten ihm der 12. Senat weitere medizinische Unterlagen sowie der
Zusatzsachverständige sein orthopädisches Gutachten vom 12. Juli 2012 (39 Blatt). Unter dem 27. Juli 2012 fertigte er sein
Gutachten aufgrund einer ambulanten Untersuchung auf insgesamt 40 Blatt. In seiner Kostenrechnung vom 19. Dezember 2012 machte
er insgesamt 2.865,98 Euro geltend (28,62 Stunden, aufgerundet 29 Stunden Zeitaufwand x 85,00 Euro, besondere Leistungen 288,88
Euro, Telekommunikationspauschale 20,00 Euro, Schreibauslagen 83,00 Euro, Porto 9,10 Euro). Bezüglich der Einzelheiten wird
auf Blatt 5 des Kostenhefts verwiesen. Mit Verfügung vom 18. Januar 2013 kürzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die
Vergütung auf 1.900,98 Euro und berücksichtigte dabei einen notwendigen Zeitaufwand von 25 Stunden (Aktenstudium 5 Stunden,
Erhebung der Vorgeschichte 1,25 Stunden, körperliche Untersuchung 2 Stunden, Beurteilung 8,67 Stunden, Diktat und Korrektur
8 Stunden) und einen Stundensatz von 60,00 Euro (M2).
Am 11. März 2013 hat sich der Erinnerungsführer gegen die Festsetzung gewandt und vorgetragen, angesichts des hohen Schwierigkeitsgrades
mit Berücksichtigung vielfacher Vorbegutachtungen und einer Zusatzbegutachtung beantrage er weiterhin einen Stundensatz von
85,00 Euro. Die Kürzung seiner Stundenzahl sei nicht nachvollziehbar begründet.
Der Erinnerungsführer beantragt sinngemäß,
die Vergütung für das Gutachten vom 27. Juli 2012 auf 2.865,98 Euro festzusetzen.
Der Erinnerungsgegner hat innerhalb der gesetzten Frist keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.
Die Urkundsbeamtin hat der Erinnerung nicht abgeholfen (Verfügung vom 12. März 2013) und sie dem erkennenden Senat vorgelegt.
II. Nach § 4 Abs. 1 S. 1 JVEG erfolgt die Festsetzung der Vergütung durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder die Staatskasse die gerichtliche
Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen erachtet. Zuständig ist das Gericht, von dem der Berechtigte herangezogen
worden ist (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG). Der Erinnerungsführer ist Berechtigter im Sinne dieser Vorschrift.
Bei der Erinnerungsentscheidung sind alle für die Bemessung der Vergütung maßgeblichen Umstände zu überprüfen, unabhängig
davon, ob sie angegriffen werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 1. Dezember 2011 - L 6 SF 1617/11 E, 8. September 2009 - L 6 SF 49/08, 4. April 2005 - L 6 SF 83/05 in MedSach 2005, 137 ff., Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH), Beschluss vom 10. Oktober 2005 - 1 B 97.1352, nach juris). Der Senat ist nicht an die Höhe der Einzelansätze, Stundenansätze
oder die Gesamthöhe der Vergütung oder die Anträge der Beteiligten gebunden; er kann die Vergütung nur nicht höher festsetzen
als vom Erinnerungsführer beantragt. Nachdem die Erinnerung kein Rechtsbehelf ist, gilt das Verschlechterungsverbot (sog.
"reformatio in peius") bei dieser erstmaligen richterlichen Festsetzung nicht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. September 2009
- L 6 SF 49/08, 13. April 2005 - L 6 SF 2/05, 16. September 2002 - L 6 B 51/01 SF; Meyer/Höver/Bach, Die Vergütung und Entschädigung von Sachverständigen, Zeugen, Dritten und von ehrenamtlichen Richtern
nach dem JVEG, 25. Auflage 2011, § 4 Rdnr. 4.3; Hartmann in Kostengesetze, 40. Auflage 2010, § 4 JVEG Rdnr. 10).
Nach § 8 Abs. 1 JVEG erhalten Sachverständige als Vergütung 1. ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9 bis 11 JVEG), 2. Fahrtkostenersatz (§ 5 JVEG), 3. Entschädigung für Aufwand (§ 6 JVEG) sowie 4. Ersatz für sonstige und besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12 JVEG). Soweit das Honorar nach Stundensätzen zu bemessen ist, wird es nach § 8 Abs. 2 JVEG für jede Stunde der erforderlichen Zeit einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt (Satz 1); die letzte bereits
begonnene Stunde wird voll gerechnet, wenn mehr als 30 Minuten für die Erbringung der Leistung erforderlich war (Satz 2 Halbs.
1).
Das Honorar eines Sachverständigen errechnet sich entsprechend den §§ 9 Abs. 1 S. 1, 8 Abs. 2 JVEG nach der erforderlichen Zeit. Sie wird nach einem abstrakten Maßstab ermittelt, der sich an dem erforderlichen Zeitaufwand
eines Sachverständigen mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung bei sachgemäßer Auftragserledigung mit durchschnittlicher
Arbeitsintensität orientiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2007 - 1 BvR 55/07; BGH; Beschluss vom 16. Dezember 2003 - X ZR 206/98, beide nach juris; Senatsbeschlüsse vom 5. März 2012 - L 6 SF 1854/11 B und 21. Dezember 2006 - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Hartmann in Kostengesetze, 40. Auflage 2010, § 8 JVEG Rdnr. 35). Zu berücksichtigen sind dabei die Schwierigkeiten der zu beantworteten Fragen unter Berücksichtigung der Sachkunde
auf dem betreffenden Gebiet, der Umfang des Gutachtens und die Bedeutung der Streitsache (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember
2003 - X ZR 206/98; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 841). Die herrschenden Meinung geht grundsätzlich davon
aus, dass die Angaben des Sachverständigen über die tatsächlich benötigte Zeit richtig sind (vgl. Senatsbeschluss vom 21.
Dezember 2006, - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Thüringer OVG, Beschluss vom 3. Juli 2006 - 4 VO 487/05, nach juris; Hessisches LSG, Beschluss
vom 11. April 2005 - L 2/9 SF 82/04, nach juris; LSG Baden-Württemberg vom 22. September 2004 - L 12 RJ 3686/04 KO-A, nach juris); werden die üblichen Erfahrungswerte allerdings um mehr als 15 v.H. überschritten (vgl. u.a. Senatsbeschluss
vom 21. Dezember 2006 - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.), ist eine Plausibilitätsprüfung anhand der Kostenrechnung und der Angaben des Sachverständigen
erforderlich.
Die Aufteilung der Sachverständigenleistung erfolgt in Thüringen grundsätzlich in fünf Bereichen: a) Aktenstudium und vorbereitende
Arbeiten, b) Erhebung der Vorgeschichte, c) notwendige Untersuchungen, d) Abfassung der Beurteilung, e) Diktat sowie Durchsicht
des Gutachtens.
Für das Gutachten vom 27. Juli 2012 war angesichts der übersandten Unterlagen und unter Berücksichtigung der üblichen Erfahrungswerte
ein Zeitaufwand von 25,75 Stunden erforderlich. Der beantragte Zeitansatz von 28,62 Stunden, aufgerundet 29 Stunden, übersteigt
ihn nicht um mehr als 15.
Im Einzelnen:
- Für das Aktenstudium wird ein Zeitansatz von 6,5 Stunden akzeptiert. Der Senat unterstellt in ständiger Rechtsprechung,
dass ein Sachverständiger für das Aktenstudium und vorbereitende Maßnahmen einschließlich der Fertigung von Notizen und Exzerpten
einen Zeitaufwand von etwa einer Stunde für etwa 80 Blatt mit ca. ¼ medizinischem Inhalt benötigt (vgl. Beschluss vom 19.
Dezember 2007 - L 6 B 172/07 SF). Unter Abzug von 32 Doppelheftungen errechnet sich daraus für 446 Blatt ein Ansatz von ca. 5,5 Stunden. Allerdings lag
im vorliegenden Fall der medizinische Anteil der Unterlagen bei ca. 50 v.H. (225 von 446 Blatt). In diesem Fall sind die Akten
mit allgemeinem und medizinischem Inhalt getrennt zu erfassen und unterschiedlich zu bewerten (vgl. Senatsbeschluss vom 4.
August 2003 - L 6 SF 275/03). Im Regelfall benötigt ein medizinischer Sachverständiger für die Durchsicht von 100 Aktenblättern mit allgemeinem Inhalt
bzw. von 50 Blatt mit medizinischen Unterlagen jeweils ca. eine Stunde. Damit ist der Ansatz für das Aktenstudium auf 6,5
Stunden zu erhöhen.
- Keine Bedenken bestehen gegen die beantragten Ansätze für die Vorgeschichte (1,25 Stunde) und die Untersuchung (2 Stunden).
- Der Zeitansatz für die Beurteilung beträgt 8 Stunden. Sie umfasst die Beantwortung der vom Gericht gestellten Beweisfragen
und die nähere Begründung, also den Teil des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung verwerten kann, um ohne medizinischen
Sachverstand seine Entscheidung begründen zu können, also die eigentlichen Ergebnisse des Gutachtens einschließlich ihrer
argumentativen Begründung. Der Senat geht seit März 2012 in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein medizinischer Sachverständiger
mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung für die gedankliche Erarbeitung grundsätzlich durchschnittlich eine Stunde
für ca. 1 ½ Blatt benötigt; dabei ist die Schreibweise zu berücksichtigen (vgl. Beschlüsse vom 3. April 2012 - L 6 SF 306/12 B und 26. März 2012 - L 6 SF 132/12 E). Hier erstreckt sich die Beurteilung auf Blatt 28 (unten) bis Blatt 40 Mitte. Nur einmal zu berücksichtigen ist die Aufstellung
der Diagnosen; die Literaturliste ist nicht Teil der Beurteilung.
- Gegen die beantragten 8 Stunden für Diktat und Korrektur bestehen im Ergebnis keine Bedenken.
Zusätzlich zu erstatten sind die besonderen Leistungen nach § 10 JVEG und die Schreibauslagen nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 JVEG sowie die Portokosten. Die beantragte Telefonpauschale in Höhe von 20,00 Euro ist im JVEG nicht vorgesehen und kann daher nicht erstattet werden.
Nicht in Betracht kommt die beantragte Honorierung in der Honorargruppe M3 (§ 9 Abs. 1 JVEG). Die Zuordnung der Leistungen zu einer Honorargruppe bestimmt sich nach § 9 Abs. 1 JVEG nach der Anlage 1 (Satz 2). Wird die Leistung auf einem Sachgebiet erbracht, das in keiner Honorargruppe genannt wird, ist
sie nach billigem Ermessen zuzuordnen; dies gilt entsprechend, wenn ein medizinisches oder psychologisches Gutachten einen
Gegenstand betrifft, der in keiner Honorargruppe genannt wird (Satz 3). In Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG werden die medizinischen Gutachten entsprechend ihrer Schwierigkeit in drei Honorargruppen (M1 bis M3) eingeteilt. Die Honorargruppen
M2 (60 Euro) und M3 (85,00 Euro) werden wie folgt definiert: M2: Beschreibende (Ist-Zustands) Begutachtungen nach standardisiertem
Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einer medizinischen Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem
Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten in Verfahren nach dem
SGB IX, M3: Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtung spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer
Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen.
Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur ordnet Zustandsgutachten - wie hier - im Regelfall der Honorargruppe
M2 zu (vgl. u.a. Senatsbeschlüsse vom 16. März 2012 - L 6 SF 151/12 E und 1. Juni 2011 - L 6 SF 277/11 B; Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. September 2009 - L 15 SF 188/09; Hessisches LSG, Beschluss vom 11. April 2005 - L 2/9 SF 82/04, beide nach juris; Reyels in jurisPR-SozR 18/2010 Anm. 6;
Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 872), denn es handelt sich um typische Gutachten mit durchschnittlicher
Schwierigkeit. Gutachten der Honorargruppe M 3 erfordern dagegen umfassende und vielseitige bzw. vielschichtige Überlegungen;
die Schwierigkeiten können mit den diagnostischen oder ätiologischen Fragen zusammenhängen. Auch andere Gründe sind denkbar,
z.B. eine Vielzahl unklarer oder widerspruchsvoller Befunde oder anamnestischer Angaben. Hierfür sind im vorliegenden Fall
keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Die in sozialgerichtlichen Verfahren übliche Auseinandersetzung mit einschlägigen
Vorgutachten begründet allein nicht den hohen Schwierigkeitsgrad der Honorargruppe M3 (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. März
2012 - L 6 151/12 E und 1. Juni 2011 - L 6 SF 277/11 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. September 2011 - L 2 SF 254/11); zudem ist der Sachverständige hier von ihnen nicht abgewichen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem orthopädischen
Zusatzgutachten war offensichtlich nicht erforderlich und hätte den Erinnerungsführer überfordert.
Damit errechnet sich die Vergütung des Erinnerungsführers wie folgt:
29 Stunden x 60,00 Euro (Honorargruppe M2)
|
1.740,00 Euro
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Besondere Leistungen
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288,88 Euro
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Schreibauslagen
|
83,00 Euro
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Porto
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9,10 Euro
|
Gesamtbetrag
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2.120,98 Euro
|
Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 4 Abs. 4 S. 3 JVEG).