Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit einer Beweisaufnahme
Gründe
I
Im Streit sind Leistungen nach dem SGB II für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) in einem Zeitraum vom 1.12.2010 bis 31.5.2014.
Der Kläger, der seit Januar 2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhält, bezog Ende 2010 eine Wohnung in der F.straße in Hamburg, die er bis zum 31.5.2014 bewohnte. Für die Zeit vom 1.12.2010
bis 31.5.2013 bewilligte der Beklagte Leistungen für KdUH. Den Antrag des Klägers auf Überprüfung der Bescheide und Übernahme
weiterer Kosten in Höhe von insgesamt 2050 Euro für diesen Zeitraum lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 7.7.2014; Widerspruchsbescheid vom 14.1.2015). Für die Zeit vom 1.6.2013 bis 31.5.2014 lehnte der Beklagte Leistungen für KdUH insgesamt ab, weil zweifelhaft sei, ob der
Kläger die Wohnung F.straße in Hamburg dauerhaft bewohne (Bescheide vom 25.6.2013 und 1.8.2013 sowie Widerspruchsbescheid vom 20.9.2013 <Zeitraum 1.6.2013 bis 31.1.2014>; Bescheide
vom 13.12.2013 und 13.6.2014 sowie Widerspruchsbescheid vom 23.9.2014 <Zeitraum 1.2. bis 31.5.2014>).
Das SG hat auf die drei Klagen gegen die genannten Bescheide in einem (gemeinsamen) Termin zur mündlichen Verhandlung zwei Zeugen
(Vater und Tochter B.) gehört, die Verhandlung sodann aber vertagt und die Klagen durch Gerichtsbescheide abgewiesen (Gerichtsbescheide vom 10.5.2017). Zur Begründung hat es jeweils ausgeführt, es habe keine ernsthafte Mietzinsverpflichtung bestanden; soweit insbesondere die
Zeugin B., die nach den Angaben des Klägers die Vermieterin gewesen sein soll, anderes ausgesagt habe, sei dies nicht glaubhaft
und die Zeugin unglaubwürdig.
Auf die Berufungen des Klägers hat das LSG - nach Übertragung der Streitsachen durch Senatsbeschluss auf den Berichterstatter
- beide Zeugen zu einem Termin am 7.2.2019 geladen. Der Zeuge B. war allerdings zwischenzeitlich verstorben und die Ladung
der Zeugin B. wurde - ebenso wie die Ladung an den Kläger, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war - nicht zugestellt,
sodass keine Beweisaufnahme stattgefunden hat. Der Bevollmächtigte des Klägers und der Beklagte haben im Termin "ihr Einverständnis
mit dem schriftlichen Verfahren" erklärt. Das LSG hat - nach Verbindung der drei Berufungen noch im Termin - "die Berufung"
ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen (Urteil vom 4.6.2019). Zur Begründung hat es auf das "angefochtene Urteil des Sozialgerichts" verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass die Zeugenaussagen
gerade nicht zum Beweis einer ernsthaften Mietzinszahlung führten, sondern den vom SG dargelegten Zweifeln begegnen würden.
Mit seiner nach Bewilligung von PKH durch den Senat erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel,
dass die Vernehmung der Zeugin B. unterblieben und er nicht selbst persönlich angehört worden sei. Außerdem fehle eine Auseinandersetzung
des LSG mit seinem schriftlichen Vorbringen aus Mai 2019.
II
Dem Kläger ist gemäß §
67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde zu gewähren.
Vor der Bewilligung von PKH war er ohne Verschulden daran gehindert, die Beschwerde rechtzeitig einzulegen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist danach zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung auch begründet. Eine Nichtzulassungsbeschwerde
ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das LSG den in §
117 SGG niedergelegten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme dadurch verletzt hat, dass es die Zeugin B. nicht, wie zunächst
beabsichtigt, selbst gehört hat.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme erfordert ua, dass sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen
persönlichen Eindruck von einem Zeugen gemacht haben, wenn sie über die Glaubwürdigkeit dieser Person befinden; der persönliche
Eindruck, den andere Richter einer früheren Verhandlung gewonnen haben, ist nur dann verwertbar, wenn er protokolliert oder
auf sonstige Weise aktenkundig ist (so BSG vom 15.8.2002 - B 7 AL 66/01 R - SozR 3-1500 § 128 Nr 15, juris RdNr 14; BSG vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 5 = juris RdNr 7). Das LSG hatte vorliegend seine Entscheidung tragend auf die fehlende Glaubwürdigkeit der Zeugin B. gestützt, ohne diese
selbst angehört zu haben. Der Hinweis auf die Aussage der Zeugin vor dem SG reicht nicht aus, denn in der Niederschrift des SG finden sich keine Ausführungen dazu, welchen persönlichen Eindruck die Zeugin hinterlassen hat.
Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers ist nicht wegen des erklärten "Einverständnis mit dem schriftlichen Verfahren" in der
mündlichen Verhandlung durch Verzicht oder unterbliebene Rüge (§
295 Abs
1 ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG) eingetreten. Diese Erklärung ist nicht eindeutig, sodass sich ihr ein Verzicht auf die Einhaltung der für eine Beweisaufnahme
vorgegebenen Verfahrensvorschriften nicht sicher entnehmen lässt. Zudem hat das LSG die Verhandlung (nur) vertagt und hätte
deshalb noch in eine Beweiserhebung eintreten können (vgl BSG vom 14.9.1995 - 7 RAr 62/95 - juris RdNr 18). Davon abgesehen handelt es sich hier um einen Fehler, der erst durch das Urteil selbst mit dessen Absetzung offenbar wurde,
den der Klägerbevollmächtigte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 7.2.2019 also noch nicht kennen und rügen konnte (vgl BSG vom 15.8.2002 - B 7 AL 66/01 R - SozR 3-1500 § 128 Nr 15, juris RdNr 14; BSG vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 5 = juris RdNr 7; BSG vom 28.11.2007 - B 11a/7a AL 14/07 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 7 RdNr 12).
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das
LSG bei Beachtung des §
117 SGG und Vernehmung der Zeugin B. zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensfehler
ebenfalls ausreichend bezeichnet wurden und vorliegen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung.
Gemäß §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.