Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren
Ermittlung des Wertes des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage auf Krankengeld als Spitzbetrag über eine andere Sozialleistung
hinaus
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankengeld (Krg).
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte, bis zum 31.12.2013 als Stahlbauschlosser beschäftigt gewesene Kläger bezog
aufgrund ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit bis 31.1.2014 von der Beklagten Krg. Für die Zeit ab 1.2.2014 erhielt der
Kläger von der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosengeld. Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung
am 22.1.2014 ausgeführt hatte, bei dem Kläger könne ab 1.2.2014 wieder von einem positiven Leistungsbild ausgegangen werden,
lehnte die Beklagte die Krg-Weitergewährung über den 31.1.2014 hinaus ab (Bescheid vom 22.1.2014; Widerspruchsbescheid vom
29.7.2014). Das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1.2.2014 bis 31.3.2014 Krg zu zahlen, "soweit der Anspruch nicht
durch Auszahlung von Leistungen durch die Bundesagentur für Arbeit für den gleichen Zeitraum gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gilt". Eine Zulassung der Berufung durch das SG ist nicht erfolgt; es hat dem Urteil eine Vordruck-Rechtsmittelbelehrung angefügt, wonach die Berufung zulässig sei (Urteil
vom 11.1.2016).
Gegen dieses Urteil hat allein die Beklagte Berufung eingelegt. Das LSG hat das Rechtsmittel als zulässig angesehen, weil
der dafür gemäß §
144 Abs
1 S 1 Nr
1 SGG maßgebende Beschwerdewert von 750 Euro überschritten sei: Die Differenz zwischen dem Krg (42,87 Euro täglich) und dem bezogenen
Arbeitslosengeld (34,29 Euro täglich) mache 8,58 Euro täglich aus. Damit ergebe sich vom 1.2.2014 bis 31.3.2014 zwar nur eine
Summe, die 750 Euro nicht erreiche. Für die Erreichung des Beschwerdewerts komme es aber nicht auf diesen Betrag, sondern
auf das ungekürzte Krg von 2572,20 Euro an. Das LSG hat sich sodann in der Sache auf die persönliche Anhörung des Klägers
und eine Zeugenvernehmung gestützt, das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen; aus Rechtsgründen und unter Berücksichtigung der Beweisaufnahme stehe dem Kläger
- wie näher ausgeführt wird - kein Krg über den 31.1.2014 hinaus zu (Urteil vom 20.4.2017).
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des §
144 SGG, da der Beschwerdewert von 750 Euro nicht erreicht sei und weder das SG noch das LSG die Berufung zugelassen hätten. Die Berufung der Beklagten sei daher unzulässig gewesen. Darüber hinaus habe
das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, fehlten entscheidungserhebliche Feststellungen und liege eine
Verletzung der Amtsermittlungspflicht des §
103 SGG vor. Zudem seien Verstöße gegen §
46 SGB V sowie gegen die Grundsätze über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu rügen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. April 2017 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das
Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 11. Januar 2016 zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen,
weiter hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, ihre Berufung sei zulässig gewesen. Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 23.2.2011 - B 11 AL 15/10 R - SozR 4-3250 § 51 Nr 2) spreche dafür, dass in Bezug auf den Beschwerdewert von der vollen Geldleistung auszugehen sei.
Auch die materiell-rechtlichen Ausführungen seien fehlerfrei.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat in der Sache Erfolg.
Auf die Revision des Klägers war das Urteil des LSG vom 20.4.2017 aufzuheben. Die Berufung der beklagten Krankenkasse gegen
das Urteil des SG vom 11.1.2016 musste der Senat nach §
158 S 1
SGG verwerfen, da dieses Rechtsmittel unzulässig war und die - zulassungsbedürftige - Berufung nicht zugelassen wurde.
1. Zu Unrecht hat das LSG angenommen, dass die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zulässig war.
Nach §
144 Abs
1 S 1 Nr
1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die - wie hier - eine
Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Das gilt nach Abs 1 S 2 der
Regelung nur dann nicht, wenn - was hier nicht der Fall ist - die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr
als ein Jahr betrifft. Der danach für die Zulässigkeit der Berufung maßgebende Wert des Beschwerdegegenstandes war hier in
Bezug auf die Beklagte als (alleinige) Berufungsklägerin gegen das SG-Urteil nicht erreicht. Für die Ermittlung dieses Werts und die Frage, ob die Berufung ohne Zulassung statthaft ist oder nicht,
kommt es regelmäßig darauf an, was das SG dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen weiter verfolgt wird (vgl nur Leitherer
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
144 RdNr 14 mwN; Wehrhahn in juris-PK
SGG, 1. Aufl 2017, § 144 RdNr 19; s auch BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 11 S 20). Dies kann zur Folge haben, dass bei einem teilweisen Obsiegen die Berufung eines der Beteiligten zulässig ist,
diejenige eines anderen dagegen zulassungsbedürftig. Entgegen der Ansicht des LSG war ausgehend davon für die Beklagte als
Berufungsklägerin der Beschwerdewert von 750 Euro nicht überschritten.
2. Bei der Berufung eines Leistungsträgers ist insoweit regelmäßig allein vom Gegenstand seiner Verurteilung durch das SG auszugehen (vgl BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 13). Rechtliche oder wirtschaftliche Folgewirkungen sind demgegenüber nicht in die Ermittlung des Werts des Beschwerdegegenstandes
einzubeziehen, selbst dann, wenn die angestrebte Änderung kraft bindender Vorschriften weitere Änderungen nach sich zieht
(vgl zB BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 11 S 20; SozR 4-1500 § 144 Nr 2 RdNr 6 mwN; Leitherer, aaO, § 144 RdNr 15 mwN). Es kommt vielmehr allein darauf an, über welche Forderung "unmittelbar"
gestritten wird (BSG SozR 4-1500 § 144 Nr 2 RdNr 5). Die insoweit im zu entscheidenden Fall maßgebende Summe des Krg, zu deren Zahlung an den Kläger das SG die Beklagte für den Zeitraum vom 1.2.2014 bis zum 31.3.2014 verurteilt hat, macht nach den für den Senat bindenden Feststellungen
des LSG (vgl §
163 SGG) und bezüglich derer auch offensichtliche Unrichtigkeiten wie Rechenfehler nicht ersichtlich sind, weniger als 750 Euro aus.
3. Es kann bei alledem offenbleiben, wie es sich in Bezug auf den Beschwerdewert und die Zulässigkeit der Berufung bei einem
Kläger verhält, der Krg als Spitzbetrag über eine andere Sozialleistung hinaus begehrt, wenn er in erster Instanz unterlegen
ist. Hierzu wird in Rechtsprechung und Literatur die Ansicht vertreten, dass es für den zu erreichenden Beschwerdewert iS
von §
144 Abs
1 S 1 Nr
1 SGG trotz der teilweisen Erfüllungswirkung nach § 107 SGB X nicht auf den verminderten Betrag, sondern - was auch das LSG befürwortet hat - auf den Betrag des ungekürzten Krg ankomme
(so BSG Urteil vom 12.3.2013 - B 1 KR 7/12 R - SozR 4-2500 § 49 Nr 6 RdNr 11, 12; vgl auch BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 45 RdNr 12; ferner zB Leitherer in Meyer-Ladewig ua, aaO, §
144 RdNr 15, sowie Keller, ebenda, §
130 RdNr 2c mwN; Knittel in Hennig,
SGG, §
144 RdNr 18a mwN, Kommentierungsstand Oktober 2017; Wehrhahn, aaO, §
144 RdNr 21; Karl in Zeihe/Hauck,
SGG, Stand 1.8.2017, §
144 Anm 6c ff). Um eine solche Konstellation geht es vorliegend indessen nicht. Grundsätzlich ist für den Beschwerdewert iS des
§
144 Abs
1 S 1 Nr
1 SGG nämlich - wie ausgeführt - nur der Betrag maßgebend, der für den jeweiligen Berufungskläger als Rechtsmittelführer im angestrebten
Berufungsverfahren im Streit ist. Das sind hier für die beklagte Krankenkasse weniger als 750 Euro: Das SG hat die berufungsführende Beklagte nach dem Wortlaut des Urteilstenors nur verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1.2.2014
bis 31.3.2014 Krg zu zahlen, "soweit der Anspruch nicht durch Auszahlung von Leistungen durch die Bundesagentur für Arbeit
für den gleichen Zeitraum ... als erfüllt gilt". Bei einem derart auf einem unbezifferten Antrag aufbauenden Urteilstenor
ist der Wert zu ermitteln (vgl Knittel in Hennig, aaO, § 144 RdNr 20; BSG Beschluss vom 5.8.2015 - B 4 AS 17/15 B - Juris RdNr 6). Dieser Wert liegt hier - wie dargelegt - für die Beklagte unterhalb der Schwelle von 750 Euro. Die Frage
der Bedeutung der Arbeitslosengeldzahlung könnte sich zwar für eine Berufung des Klägers stellen, von vornherein aber nicht
für die Beurteilung der sich bei der Beklagten niederschlagenden wirtschaftlichen Bedeutung des konkreten Berufungsverfahrens
im Verhältnis von Kläger und Beklagter, und zwar auch nicht, soweit sie sich - vom LSG allerdings auch nicht festgestellten
(vgl aber §
163 SGG) - möglicherweise noch konkreten Erstattungsansprüchen der Bundesagentur für Arbeit ausgesetzt sieht (vgl dazu auch - bezogen
auf die ähnliche Frage der notwendigen Beiladung eines Erstattung begehrenden dritten Leistungsträgers - BSGE 61, 66 ff = SozR 2200 § 182 Nr 104). Auf die Erwägungen des LSG, dass es bei einem Versicherten im Gerichtsverfahren für den Erlass
eines Grundurteils (§
130 Abs
1 SGG) unschädlich sein müsse, dass wegen der Erfüllungswirkung des § 107 SGB X wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld ggf nur noch der Krg-Spitzbetrag zu zahlen sei, und dass dem Versicherten ein schutzwürdiges
Interesse an der Klärung zuzuerkennen sei, dass ihm Krg als solches zugestanden habe, kommt es angesichts dessen nicht an.
Abzustellen ist in der vorliegenden prozessualen Konstellation vielmehr allein auf den auf Seiten der Beklagten maßgebenden
Wert des Beschwerdegegenstands iS von §
144 Abs
1 S 1 Nr
1 SGG. Dieser liegt für die Beklagte nach dem Urteilstenor des SG und ihrem Berufungsbegehren (= Aufhebung des SG-Urteils und Abweisung der gegen sie gerichteten Klage) unterhalb von 750 Euro.
4. Da weder das SG noch das LSG - auf eine Beschwerde hin - die zulassungsbedürftige Berufung nach §
144 Abs
2 iVm Abs
1 S 2
SGG zugelassen haben, ist sie unzulässig geblieben. Dieser Mangel der Zulassung einer zulassungsbedürftigen Berufung ist auch
noch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen (stRspr, vgl BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 2 mwN; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 18 S 48; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Stand Juni 2015, §
144 SGG RdNr 15 mwN). Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist insbesondere weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen
des erstinstanzlichen Urteils zu entnehmen. Die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsmittelbelehrung genügt nicht den Anforderungen
an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (so BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 5 mwN). Das LSG hat demgegenüber eine Zulassungsentscheidung nicht getroffen. Ein Berufungsgericht wäre im Übrigen
außerhalb eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens auch nicht befugt gewesen, über die Zulassung der Berufung im Urteil zu
entscheiden oder die Berufung - zumal eines rechtskundigen Leistungsträgers - in eine Nichtzulassungsbeschwerde umzudeuten
(BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 Leitsatz 2 und S 5; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 Leitsatz und S 13 f [Berufung der Krankenkasse gegen ihre Verurteilung zur Zahlung eines Krg-Spitzbetrags über vom Arbeitsamt
gezahltes Übergangsgeld hinaus]; BSG Urteil vom 22.1.1998 - B 14/10 KG 17/96 R). Wird trotz nicht statthafter Berufung - wie hier - vom SG über eine Berufung belehrt, liegt darin zwar eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, jedoch ohne dass die Möglichkeit einer
Umdeutung in eine Nichtzulassungsbeschwerde besteht; es ergibt sich vielmehr die Folge, dass das falsche Rechtsmittel (hier
Berufung) - hier vom Senat - als unzulässig zu verwerfen ist (so bereits BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 2 ff). Der im Revisionsverfahren einzig bedeutsame Fehler des erstinstanzlichen Urteils - dessen Richtigkeit in der
Sache der Senat nicht zu überprüfen hat - besteht in einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung, deren Folgen allein im Gesetz
geregelt sind (vgl §
66 Abs
2 SGG). Ob der zutreffende Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde bei dieser Konstellation innerhalb der Jahresfrist einzulegen
ist oder ob auch danach noch ein Recht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht, bedarf im jetzigen Verfahrensstadium
keiner Entscheidung des Senats; denn dadurch würden die schutzwürdigen Belange des Klägers verletzt, der ein für ihn günstiges
und nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbares erstinstanzliches Urteil erstritten hat. Er hat einen verfahrensrechtlichen
Anspruch darauf, dass die Frage der Rechtsmittelzulassung in dem dafür vorgesehenen Verfahren geklärt wird. Die Berufung ist
aber erst zulässig, wenn der unterlegene Beteiligte form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt und das SG (im Wege der Abhilfe) oder das LSG die Zulassung beschlossen hat (so zum Ganzen erneut bereits BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 6).
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.