Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung; Anforderungen an eine rentenrelevante Einschränkung der Wegefähigkeit
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
Der im November 1969 geborene Kläger hat von September 1985 bis Juli 1987 den Beruf des Tiefbaufacharbeiters und von September
1985 bis Juli 1987 den Beruf des Gleisbauers erlernt. Er war zunächst als Kuppler, von April 1989 bis Mai 1992 als Arbeiter,
von März 1993 bis Februar 1994 als Helfer im Brunnenbau, dann - mit Unterbrechungen - von Januar 1995 bis März 2001 als LKW-Fahrer,
anschließend bis August 2005 als Helfer und zuletzt von November 2005 bis April 2008 als Lagerarbeiter versicherungspflichtig
beschäftigt. Seit 2009 ist der Kläger arbeitslos, nunmehr mit Bezug von Arbeitslosengeld II. Bis November 2013 verrichtete
er daneben einen Minijob als Fahrer.
Mit Antrag vom 15. März 2012 begehrte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung von der Beklagten. Die Beklagte zog diverse
Befundberichte, einen Entlassungsbericht der M.-Klinik vom 17. Juli 2008 über einen stationären Aufenthalt des Klägers auf
orthopädischer Grundlage vom 25. Juni bis 11. Juli 2008 bei, aus dem der Kläger noch mit einem Leistungsvermögen von 6 Stunden
und mehr für schwere Arbeiten entlassen worden war, sowie ein Gutachten der Agentur für Arbeit Ansbach vom 24. November 2009,
in dem ebenfalls noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen festgestellt worden war, bei. Aktenkundig wurde ferner der Entlassungsbericht
der orthopädischen Abteilung der Fachklinik S. vom 23. Mai 2012 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 10. Mai
bis 16. Mai 2012. Hier wurde noch ein Leistungsvermögen von 6 Stunden für leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten
festgestellt.
Die Beklagte holte ein orthopädisches Gutachten von Dr. N. vom 25. Juni 2012 ein, der beim Kläger eine beginnende Retropatellararthrose
beidseits, eine geringgradige mediale Gonarthrose, eine beginnende, geringgradige Coxarthrose beidseits und eine morbide Adipositas
per magna (BMI größer 40) bei Zustand nach Magenreduktions-Operation feststellte. Der Kläger könne als LKW-Fahrer mit Entladetätigkeit
nur noch 3 bis unter 6 Stunden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hingegen noch 6 Stunden und mehr leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten verrichten.
Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag mit angefochtenem Bescheid vom 13. Juli 2012 ab.
Der hier eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2012 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. Das SG hat diverse Befundberichte beigezogen und ein chirurgisches Gutachten von Dr. S. vom 11. September 2013 eingeholt. Dr. S.
hat beim Kläger folgende Diagnosen gestellt: 1. Fehlhaltungen der Wirbelsäule mit Muskelreizerscheinungen und degenerativen
Veränderungen, zeitweilige ausstrahlende Beschwerden, aber keine radikuläre Symptomatik 2. Bewegungsschmerz im rechten Schultergelenk,
Fingergelenkspolyarthrose beidseits 3. Verschleiß in beiden Hüftgelenken bei ausreichender Beweglichkeit 4. Aktivierte Arthrose
im rechten Kniegelenk mit Funktionsbehinderung, Fußfehlform beidseits, geringgradige prätibiale Ödeme 5. Restadipositas nach
Magenverkleinerungsoperation 6. Seelische Störung nach Aktenlage.
Der Kläger könne noch mindestens 6 Stunden täglich leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen, zeitweise im Gehen
und Stehen verrichten. Zu vermeiden seien schwere und mittelschwere Hebe- und Tragebelastungen, Zwangshaltungen, häufige bückende
Arbeiten, knieende Arbeiten und häufiges Steigen, häufige Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm und besondere nervliche Belastung.
Schutz vor Nässe, Kälte und Zugluft sei erforderlich. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt, weitere Gutachten seien nicht
erforderlich.
Das SG hat daraufhin die Klage mit Urteil vom 10. Oktober 2013 unter Berufung auf das Gutachten von Dr. S. abgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und erklärt, nach den Angaben seiner Ärzte
könne er nicht mehr arbeiten. Er sei geistig, nervlich und körperlich am Ende.
Der Senat hat diverse Befundberichte beigezogen und Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens
von Dr. B. vom 23. Januar 2015. Der Sachverständige hat beim Kläger eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen
Faktoren, eine Dysthymie, eine akzentuierte Persönlichkeit, ein Hals- und Lendenwirbelsäulenwurzelreizsyndrom, Übergewicht,
einen Zustand nach Operationen zur Magenverkleinerung und von Haut- und Weichteilüberschüssen bei Fettleibigkeit sowie Abnutzungen
an der Wirbelsäule und an verschiedenen Gelenken diagnostiziert. Der Kläger könne noch leichte und gelegentlich mittelschwere
Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen, überwiegend im Sitzen, vollschichtig mit den arbeitsüblichen Unterbrechungen verrichten.
Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit (Akkord-, Schichtarbeit, Zeitdruck),
schweres Heben und Tragen von Lasten, häufiges Bücken und Knien, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, Kälte und Nässe. Das Restleistungsvermögen
des Klägers erlaube noch die Verrichtung von Tätigkeiten, die üblicherweise in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden
pflegen. Beschränkungen hinsichtlich des Anmarschwegs zur Arbeitsstätte bestünden nicht. Die Umstellungsfähigkeit des Klägers
sei etwas eingeschränkt. Dieser Mangel sei aber bereits in das Erwerbsleben mit eingebracht worden. Der Kläger könne nur noch
für einfache Tätigkeiten angelernt werden. Weitere Gutachten seien nicht erforderlich.
Der Kläger hat hierzu erklärt, er habe seit Jahren Kreuzschmerzen, Kniebeschwerden und Gicht. Er sei nervlich und geistig
am Ende. Bei längeren Autofahrten würden seine Nerven nicht mehr mitmachen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 10. Oktober 2013 sowie des Bescheids der Beklagten
vom 13. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2012 zu verurteilen, Rente wegen Erwerbsminderung
entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 13. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 22. November 2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Rente
wegen voller Erwerbsminderung gemäß §
43 Abs.
2 SGB VI und Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gemäß §
43 Abs.
1 SGB VI zu. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß §§
43 Abs.
1,
240 SGB VI kommt von vornherein nicht in Betracht, da der Kläger nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist (§
240 Abs.
1 Nr.
1 SGB VI).
Gem. §
43 Abs.
1,
2 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert
sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung
oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer
Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs bzw. drei Stunden täglich erwerbstätig
zu sein. Erwerbsgemindert ist gem. §
43 Abs.
3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein
kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach den überzeugenden Feststellungen von Dr. S. und Dr. B. ist der Kläger noch in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich
zumindest leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erledigen.
Bei der Untersuchung durch den erfahrenen Gerichtssachverständigen Dr. S. war der Kläger in einem guten Allgemeinzustand.
Die Wirbelsäule wies Fehlhaltungen, auch eine Seitverbiegung, auf. Die Beweglichkeit war allerdings nur leichtgradig eingeschränkt,
sensomotorische Störungen traten nicht auf. Die Untersuchung der oberen Extremitäten erbrachte eine kräftige Armmuskulatur
beidseits bei etwas geminderter Schultermuskulatur. Die Drehung war frei, Nacken- und Lendengriff waren dem Kläger möglich.
Die Handgelenke waren normal geformt ohne Druckschmerz bei guter Beweglichkeit. Die Fingerendgelenken waren gering verdickt,
aber ohne Druckschmerz. Die Handfunktion war regelgerecht bei kräftiger Handmuskulatur und unauffälliger Neurologie.
An den unteren Extremitäten war die Muskulatur mittelkräftig bei leichter Verkürzung des rechten Beins und geringfügigen Ödemen
bei Fußfehlform beidseits. An den Hüftgelenken war die Beweglichkeit ausreichend, ein Druckschmerz nicht zu objektivieren.
An den Kniegelenken fand sich eine Gonarthrose bei seit einigen Tagen bestehendem Reizzustand rechts. Gang- und Standbild
waren nicht nennenswert verändert.
Daraus hat Dr. S. nachvollziehbar abgeleitet, dass dem Kläger jedenfalls noch leichte körperliche Arbeiten mit den oben genannten
qualitativen Leistungseinschränkungen zumutbar sind.
Diese Leistungsbeurteilung hat Dr. B. auch aus nervenärztlicher Sicht bestätigt. Bei der Überprüfung der Motorik hat Dr. B.
festgestellt, dass der Kläger beide Arme in den Schultergelenken nicht über die Horizontale angehoben hat. Grund hierfür sind
die Auswirkungen der Operationen nach Bruststraffung beidseits. Im Übrigen waren jedoch die Bewegungsabläufe unbehindert.
Lähmungen oder Muskelschwund fanden sich nicht. Koordination und Vegetativum waren unauffällig. In psychopathologischer Hinsicht
war der Kläger bei klarem Bewusstsein und hinsichtlich aller Qualitäten vollständig orientiert. Die Berichterstattung erfolgte
geordnet und sachbezogen. Wesentliche kognitive Beeinträchtigungen bei einfach strukturierter Persönlichkeit und Intelligenz
im unteren Normalbereich fanden sich ebenso wenig wie Denk-, Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen bzw. Hinweise auf hirnorganische
Veränderungen. Die Stimmungslage war leicht depressiv, nach Angaben des Klägers jedoch ohne Tagesschwankungen. Vom Antrieb
her wirkte der Kläger matt und gedämpft. Es fanden sich neurasthenische und depressiv-ängstliche Persönlichkeitsanteile. Der
Kläger habe nach dem Verlust seiner Hauptbezugspersonen - seinen Eltern - nachvollziehbar mit einer depressiven Symptomatik
reagiert. Einen tiefergehenden depressiven Affekt konnte Dr. B. jedoch nicht beobachten. Er hat darauf hingewiesen, dass auch
Dr. N. die Stimmung als stabil bezeichnet habe. Dr. S. hat die Psyche als unauffällig bei allenfalls geringgradiger Dysthymie
und guter Mitarbeit beschrieben. Dr. hat ausgeführt, es liege eine Dysthymie, damit also eine chronische, aber nicht schwerwiegende
Depressivität vor. Der Kläger hat auch nur in großen Abständen Kontakt zu der ihn betreuenden Psychiaterin gesucht, das verordnete
Antidepressivum nicht regelmäßig eingenommen und einem empfohlenen Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst nicht in Anspruch
genommen. Dies spricht auch gegen eine erheblichere depressive Erkrankung.
Bei der vom Kläger geklagten chronischen Schmerzstörung sind seelische Komponenten von erheblicher Bedeutung. Dr. B. hat jedoch
darauf hingewiesen, dass es dem Kläger in den vergangenen Jahren durchaus möglich war, sein ausgeprägtes Übergewicht auf ein
mittlerweile einigermaßen erträgliches Maß zu reduzieren. Damit dürfte sich das allgemein-körperliche und seelische Befinden
eher gebessert haben.
Aus alledem hat Dr. B. unter ausdrücklicher Mitwürdigung der Gesundheitsstörungen des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet
bei Fehlen sozialmedizinisch relevanter internistischer Erkrankungen für den Senat überzeugend abgeleitet, dass dem Kläger
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zumindest leichte Tätigkeiten 6 Stunden und mehr zumutbar sind. Diese Einschätzung macht
sich der Senat zu eigen. Die pauschalen Einwendungen des Klägers hiergegen konnten den Senat nicht überzeugen. Die Sachverständigen
haben insbesondere sämtliche beim Kläger vorliegenden und zu Funktionseinschränkungen führenden Gesundheitsstörungen berücksichtigt.
Ein Rentenanspruch ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden
allgemeinen Arbeitsmarktes keine Tätigkeit finden würde. Denn bei ihm liegen weder ein nur eine Teilzeit erlaubendes Erwerbsvermögen
noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor, durch
die für ihn der Arbeitsmarkt verschlossen wäre. Die von Dr. S. und Dr. aufgeführten qualitativen Leistungseinschränkungen
sind nicht ungewöhnlich und schränken die Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in besonderem
Maße ein. Dr. hat schließlich auch ausdrücklich festgestellt, dass die üblicherweise in ungelernten Tätigkeiten zu verrichtenden
Arbeiten wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren usw. dem Kläger bei insoweit erhaltener Umstellungsfähigkeit - diese ist
nach den Feststellungen von Dr. B. jedenfalls für einfache Tätigkeiten erhalten - noch zugemutet werden können. Damit kommt
die Annahme einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung
nicht in Betracht.
Schließlich besteht auch keine rentenrelevante Einschränkung der Wegefähigkeit. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Das BSG hält dabei eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die es dem Versicherten nicht erlaubt, täglich viermal eine Fußstrecke
von mehr als 500 Metern in weniger als 20 Minuten zurückzulegen, für eine derart schwere Leistungseinschränkung, dass der
Arbeitsmarkt trotz vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (BSG, Urteil vom 21. März 2006, B 5 RJ 51/04 unter Hinweis auf Großer Senat in BSGE 80, 24,35). Bei der Frage, ob der Versicherte derartige Fußstrecken zurücklegen kann, sind alle zumutbaren und dem Versicherten
verfügbaren Mobilitätshilfen zu berücksichtigen, wobei es bei dem anzulegenden generalisierenden Maßstab auf die besondere
Beschaffenheit eines konkreten Weges (z.B. Unebenheiten, Steigungen, Glatteis) nicht ankommt.
Eine Beschränkung der Wegstrecke wurde von keinem Sachverständigen angenommen. Der Kläger ist auch in der Lage, öffentliche
Verkehrsmittel zu benutzen. Schließlich besitzt er nach den Feststellungen von Dr. B. ein Kfz und benutzt es auch. Damit steht
für den Senat außer Frage, dass der Kläger noch eine Arbeitsstelle erreichen kann.
Die Berufung war damit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung (§§
183,193
SGG) berücksichtigt, dass der Kläger auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. §
160 Abs.
2 SGG), liegen nicht vor.