Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Übernahme von Beiträgen zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung
Gründe:
I. Zwischen den Parteien ist streitig, in welchem Umfang die Beiträge der Antragsteller zu einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung
im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu übernehmen sind.
Die Antragsteller beziehen jedenfalls seit dem 01.01.2009 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Antragsteller sind privat kranken- und pflegeversichert bei der Deutschen Krankenversicherung. Der monatliche Beitrag
für beide Antragsteller zur Kranken- und Pflegeversicherung betrug 823,11 EUR im Jahr 2009, 844 EUR im Jahr 2010, und er beträgt
913,42 EUR seit dem 01.01.2011. Von diesen Beiträgen erkannte der Antragsgegner in den Jahren 2009 und 2010 monatlich 291,36
EUR als Bedarf an, die sich aufteilten zu 124,32 EUR für die Krankenversicherung und 21,36 EUR für die Pflegeversicherung,
jeweils für die Antragstellerin zu 1 und den Antragsteller zu 2. Seit dem 01.01.2011 erkannte der Antragsgegner nur noch einen
Betrag von 129,46 EUR als monatlichen Bedarf an, der sich aufteilte auf 56,91 EUR für die Krankenversicherung und 7,82 EUR
für die Pflegeversicherung, beides jeweils für die Antragstellerin zu 1 und den Antragsteller zu 2.
Am 20.01.2011 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner, dass dieser die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung
rückwirkend zum 01.01.2009 in voller Höhe übernehmen solle.
Am 18.02.2011 haben die Antragsteller beim Sozialgericht München (SG) diesbezüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
Das SG hat mit Beschluss vom 12.04.2011 (Az. S 48 AS 473/11 ER) den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit ab 18.02.2011 bis
zum 31.12.2011, längstens aber bis zum Ende des Leistungsbezuges oder bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig
einen Zuschuss zu den Beiträgen zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung bis zur Höhe des halben Basistarifs zu gewähren.
Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt.
Am 02.05.2011 haben die Antragsteller gegen den Beschluss, der ihnen am 14.04.2011 zugestellt worden ist, Beschwerde eingelegt.
Die Antragstellerin zu 1 bringt vor, sie habe die vom Antragsgegner nicht übernommenen Beiträge in der Vergangenheit teilweise
durch das für ihre Mutter bezogene Pflegegeld decken können. Trotzdem seien Schulden angelaufen. Nach einer Mahnung der Deutschen
Krankenversicherung vom 07.02.2011 sei sie die seit dem 01.12.2010 geschuldeten Beiträge in Höhe von 1.978,14 EUR schuldig.
Es sei ihr nicht zumutbar, in den Basistarif zu wechseln, weil ihr hierbei angesammelte Rückstellungen in einer Größenordnung
von 10.000 bis 15.000 EUR verloren gingen.
Die Antragsteller beantragen,
den Beschluss des SG vom 12.04.2011 dahingehend abzuändern, dass der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung über die darin ausgesprochene
Verpflichtung hinaus verpflichtet wird, die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung in vollem Umfang und rückwirkend
zum 01.01.2009 zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakte Bezug genommen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG). Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt die Beschwerdesumme von 750 EUR (§
172 Abs. 3 Nr. 1 Hs. 1 in Verbindung mit §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG).
Die Beschwerde ist nur insoweit begründet, als vorläufige Leistungen für die Zeit vom 01.12.2010 bis zum 17.02.2011 abgelehnt
worden sind. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet. Zu Recht hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung sowohl insoweit abgelehnt, als Zuschüsse in einer Höhe beantragt werden, die den
halben Basistarif übersteigen, als auch soweit vorläufige Leistungen für die Zeit vor dem 01.12.2010 verlangt werden.
Eine einstweilige Anordnung kann zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog.
Regelungsanordnung) nach §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit zur Abwendung
wesentlicher Nachteile umschreibt den sogenannten Anordnungsgrund (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
920 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl das zu sichernde Recht, der sogenannte Anordnungsanspruch,
als auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (86b Abs. 2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung -
ZPO) oder nach Durchführung der von Amts wegen im Eilverfahren möglichen und gebotenen Ermittlungen glaubhaft erscheinen.
Glaubhaftigkeit bedeutet, dass für das Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit
erforderlich ist als die volle richterliche Überzeugung. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit insoweit genügt, ist bei unklaren
Erfolgsaussichten in der Hauptsache nach einer umfassenden Abwägung der Interessen aller Beteiligten und der öffentlichen
Interessen zu bestimmen: Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige
Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch besteht, gegen die Folgen,
die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren
herausstellen würde, dass der Anspruch nicht besteht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., 2008 §
86b Rdnr. 29a).
Sofern dabei auf Seiten des Anordnungsgrundes das Existenzminimum eines Menschen bedroht ist, genügt für die Glaubhaftigkeit
des Anordnungsanspruchs ein geringer Grad an Wahrscheinlichkeit, nämlich die nicht auszuschließende Möglichkeit seines Bestehens.
Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit entschieden, dass in Fällen, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums
geht, eine Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund fehlender Erfolgsaussichten der Hauptsache nur dann zulässig
ist, wenn das Gericht die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend geprüft hat (BVerfG, Beschluss vom
12.05.2005 Az. 1 BvR 569/05 = NJW 2005, 2982 und Beschluss vom 06.02.2007 Az. 1 BvR 3101/06, unveröffentlicht). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich,
so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die Gerichte eine Verletzung der Grundrechte des Einzelnen, insbesondere
der Menschenwürde, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, zu verhindern haben.
Gemäß § 26 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II gilt für Bezieher von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld, die in der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht versicherungspflichtig und nicht familienversichert sind und die für den Fall der Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen
versichert sind, § 12 Abs. 1c Satz 5 und 6 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG). Danach vermindert sich im Falle der Hilfebedürftigkeit
nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) der Beitrag für den Basistarif um die Hälfte. Besteht auch
danach noch Hilfebedürftigkeit, beteiligt sich der Träger in dem zur Vermeidung der Hilfebedürftigkeit erforderlichen Umfang
gemäß § 12 Abs. 1c Satz 5 SGB II, sofern die Hilfebedürftigkeit nur durch die Zahlung des Beitrags entsteht. Besteht unabhängig
von der Höhe des zu zahlenden Beitrags Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II oder SGB XII, so zahlt gemäß § 12 Abs. 1c Satz 6
SGB II der Grundsicherungsträger den Betrag, der auch für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung
zu tragen ist. Entsprechendes gilt gemäß §
110 Abs.
2 Satz 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) für Beiträge zur privaten Pflegeversicherung.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 18.01.2011 (Az. B 4 AS 108/10 R, ZFSH/SGB 2011, 304) entschieden, dass zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Bedarfsunterdeckung die Beiträge zur privaten
Kranken- und Pflegeversicherung über den in § 12 Abs. 1c Satz 6 SGB II genannten Betrag hinaus, der auch für einen Bezieher
von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen wäre, analog § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Hs. 1 SGB
II zu übernehmen sind. Dabei hat das BSG unter Rn. 20 seiner Entscheidung ausdrücklich offen gelassen, ob der Zuschussbetrag
generell auf die Höhe des hälftigen Basistarifs beschränkt ist. In dem der Entscheidung des BSG zu Grunde liegenden Sachverhalt
war der Beitrag des Klägers zur privaten Krankenversicherung nämlich geringer als der halbe Beitragssatz zum Basistarif.
Der Senat ist der Überzeugung, dass die analoge Anwendung des § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Hs. 1 SGB II nicht dazu führen kann,
dem Hilfebedürftigen einen Anspruch auf Übernahme der Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung in einem größeren
Umfang als bis zur Höhe des halben Beitragssatzes im Basistarif zu geben. Einen solchen Anspruch einzuräumen, wäre Aufgabe
des Gesetzgebers, der diesbezüglich eine ausdrückliche Regelung zu schaffen hätte. Die in Analogie zu § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr.
2 Hs. 1 SGB II gewährten Leistungen können nicht weiter gehen, als sie zur Gewährleistung des von Art.
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art.
20 Abs.
1 GG garantierten menschenwürdigen Existenzminimums unabdingbar erforderlich sind. Weiter ist bei der Bestimmung der Reichweite
der Analogie der in § 2 SGB II verankerte Grundsatz des Vorrangs der Selbsthilfe zu berücksichtigen, wonach die Hilfebedürftigen
alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen müssen und in eigener Verantwortung
alle Möglichkeiten zu nutzen haben, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten. Hierzu gehört auch
die Reduktion der Beitragslast in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung durch Umstellung des Versicherungsverhältnisses
auf den seit dem 01.01.2009 gesetzlich geregelten Basistarif.
Der Wechsel in den seit dem 01.01.2009 gesetzlich vorgesehenen Basistarif war und ist den Antragstellern jederzeit möglich
und zumutbar. Gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Versicherungsvertragsgesetz (VVG) kann der Versicherungsnehmer vom Versicherer verlangen, dass dieser Anträge auf Wechsel in andere Tarife mit gleichartigem
Versicherungsschutz unter Anrechnung der aus dem Vertrag erworbenen Rechte und der Altersrückstellung annimmt. Der Wechsel
in den Basistarif des Versicherers unter Anrechnung der aus dem Vertrag erworbene Rechte und der Altersrückstellung ist möglich,
wenn der Versicherungsnehmer das 55. Lebensjahr vollendet hat oder - wie hier - das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hat
und hilfebedürftig nach dem SGB II oder SGB XII ist. Diese Regelung ist spezieller gegenüber der in § 193 Abs. 5 Satz 2 VVG für (vor dem 01.01.2009 abgeschlossene) Altverträge ausgesprochenen Beschränkung der Mitnahmemöglichkeit von Altersrückstellungen
auf den Zeitraum bis zum 30.06.2009; ansonsten wäre das Nebeneinander der Vorschriften des § 204 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b und
c, die bei Altverträgen den Wechsel nach Buchst. c bis zum 01.07.2009 ohne weitere Voraussetzungen und nach Buchst. b unter
den dort genannten engen Voraussetzungen (u. a. Hilfebedürftigkeit) zeitlich unbeschränkt zulassen, sinnlos. Da die Antragsteller
aufgrund ihrer Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II berechtigt sind, den Wechsel in den Basistarif unter Anrechnung der erworbenen
Altersrückstellungen zu verlangen, stellt sich die Frage von vornherein nicht, ob ein Wechsel in den Basistarif unter Verlust
der Altersrückstellungen zumutbar wäre. Für den Basistarif ist gemäß § 12 Abs. 1a Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) vorgesehen,
dass dessen Leistungen in Art, Umfang und Höhe den Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Fünften Buches Sozialgesetzbuch,
auf die ein Anspruch besteht, jeweils vergleichbar sind. Da auch die in der gesetzlichen Krankenversicherung gewährten Leistungen
dem verfassungsrechtlich garantierten menschenwürdigen Existenzminimum zu entsprechen haben, besteht kein Grund, im Grundsicherungsrecht
den in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung Versicherten die Kostenübernahme eines weitergehenden Krankenversicherungsschutzes
als nach dem Basistarif zuzusprechen. Im Übrigen wäre selbst dann, wenn der Gesetzgeber keine Mitnahme der Altersrückstellungen
in den Basistarif ermöglicht hätte, keine andere Beurteilung gerechtfertigt, weil das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum
- und nicht weiter kann die vom BSG angenommene Analogie zu § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Hs. 1 SGB II gehen - keinesfalls den
Erhalt von Altersrückstellungen, sondern allein die Gewährleistung eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes umfasst,
der durch den Basistarif hinreichend abdeckt wird. Weitergehende Ansprüche könnte allein der Gesetzgeber selbst vorsehen.
Die Beschwerde ist nur insoweit begründet, als das SG Leistungen für den Zeitraum vom 01.12.2010 bis zum 17.02.2011 abgelehnt hat. Nach den von den Antragstellern mit ihrer Beschwerde
eingereichten Unterlagen sind die Beiträge für diesen Zeitraum noch nicht bezahlt. Die Antragsteller sind deshalb nicht nur
mit Verzugszinsen in Höhe von 8,19 % konfrontiert, sondern auch mit der Gefahr, dass bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit der
Versicherer das Ruhen der Leistungen nach § 193 Abs. 6 SGB II feststellt. Angesichts des vorliegenden Anordnungsanspruchs
reichen diese drohenden Nachteile als Anordnungsgrund aus, und zwar wegen der in die Gegenwart weiterwirkenden Folgen ausnahmsweise
auch für Zeiten vor Antragstellung bei Gericht. Für die Zeit vor dem 01.12.2010 besteht dagegen kein Anordnungsgrund, weil
insoweit keine Beitragsrückstände bestehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des §
193 SGG.