Nachweis eines Gesundheitserstschadens in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Feststellung von Unfallfolgen und einen Anspruch auf Verletztenrente.
Der 1972 geborene Kläger erlitt am 13.10.2002 auf dem Weg zur Arbeit mit seinem PKW einen Verkehrsunfall, bei dem er frontal
mit einem anderen PKW kollidierte. Der Kläger war angeschnallt, sein Fahrzeug mit Kopfstützen ausgerüstet. Der Kläger wurde
unmittelbar nach dem Unfall von Dr. L. im Krankenhaus A-Stadt untersucht. Es wurde eine Schädelprellung diagnostiziert. Amnesie
und Übelkeit wurde verneint. Arbeitsfähigkeit wurde ab 21.10.2002 festgestellt.
Am 19. Februar 2004 ging bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf Berufskrankheit ein. Beim Kläger liege
ein Hörverlust am linken Ohr nach Unfall vom 13.10.2002 vor. Am 19.12.2003 war beim Kläger ein CT der Felsenbeine durchgeführt
worden. Es fand sich kein Nachweis einer abgelaufenen Fraktur sowie keine Entzündungszeichen. Der HNO-Arzt Dr. S. teilte mit,
dass am 11.12.2003 eine audiometrische Untersuchung eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr gezeigt
habe.
Die Beklagte holte einen Auszug der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers bei der AOK Bayern ein und ernannte Frau Prof. Dr.
S. zur Sachverständigen auf HNO-ärztlichem Fachgebiet. Bei der Anamnese gab der Kläger an, die Kopfschmerzen hätten etwa drei
Monate nach dem Unfall angehalten und seien dann von alleine weggegangen. Ca. drei Monate nach dem Unfall sei seiner Frau
aufgefallen, dass er schlecht höre. Im März 2003 sei bei einer Vorsorgeuntersuchung eine Schwerhörigkeit links diagnostiziert
worden, die in der darauf folgenden Zeit noch zugenommen habe. Ohrgeräusche, Schwindel und Unsicherheitsgefühl habe er auch
später nicht bemerkt. Die Sachverständige kam zum Ergebnis, es könne nicht mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden,
dass die Taubheit des linken Ohres unfallbedingt sei. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger die Taubheit gar nicht bemerkt
habe, sei es eher wahrscheinlich, dass diese Jahrzehnte zurück liege oder sich schleichend entwickelt habe. Unberücksichtigt
der Genese schätzte sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 v.H.
Daraufhin erließ die Beklagte am 29.04.2005 einen Bescheid, mit dem sie die Gewährung von Verletztenrente ablehnte und als
Unfallfolge nur eine folgenlos ausgeheilte Schädelprellung feststellte. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 01.12.2005).
Hiergegen erhob der Kläger am 08.12.2005 Klage beim Sozialgericht München (SG). Dieses holte ein Gutachten bei dem Neurologen Dr. S. ein. Der Sachverständige führte am 23.06.2006 aus, dass der Unfall
eine Schädelprellung verursacht habe. Diese sei folgenlos ausgeheilt. Dr. S. empfahl ein weiteres Gutachten auf HNO-ärztlichem
Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. S. legte in seinem vom SG daraufhin eingeholten HNO-ärztlichen Gutachten vom 10.09.2006 dar, dass die Einzelheiten des Unfalls nicht ganz eindeutig
seien. Entweder handele es sich um ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma durch Schädelprellung am Türholm oder um ein Knalltrauma
nach Entwicklung des Airbags. Ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma, das zu einer Ertaubung führe, setze eine Bewusstlosigkeit
im Rahmen einer Commotio oder Contusio cerebri voraus. Der Kläger habe sich allerdings selbst in die unfallchirurgische Ambulanz
begeben, wo keine Contusio oder Commotio festgestellt werden konnte. Damit sei bereits ein adäquates Unfallereignis nicht
wahrscheinlich. Auch bei der Frage eines Knalltraumas durch einen Airbag sei im Allgemeinen von einer Hochtonsenke, jedoch
nicht von einer vollkommenen Ertaubung auszugehen. Für eine HWS-Distorsion bestünden keine Anhaltspunkte. Das geschilderte
Unfallereignis könne nicht adäquat sein für die Taubheit links.
Auf Antrag des Klägers nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) holte das SG ein nervenärztliches Gutachten vom 21.03.2007 bei Dr. S. ein. Der Kläger habe eine Schädelprellung und eine Beschleunigungsverletzung
der Halswirbelsäule mit daraus resultierendem lokalem posttraumatischem Cervikalsyndrom und cervikoencephalem posttraumatischem
Syndrom mit vermutlicher Kontusion des Innenohres erlitten. Die MdE betrage für das lokale Cervikalsyndrom 10 v.H. und für
die Ertaubung des linken Ohres 20 v.H.
Weiter wurde ein Gutachten nach §
109 SGG bei Frau Prof. Dr. S. eingeholt. Nach nochmaliger Untersuchung des Klägers stellte die Sachverständige in ihrem Gutachten
vom 16.11.2007 eine Taubheit links bei Normalhörigkeit rechts und eine nicht kompensierte, an Ausfall grenzende Untererregbarkeit
des linken Labyrinthes fest. Im Gegensatz zu ihrem Gutachten vom 30.03.2005 kam die Sachverständige nunmehr zum Ergebnis,
dass die beim Kläger festzustellende Taubheit links mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 12.10.2002
zurückzuführen sei: Dies wahrscheinlich als Folge einer Rund- oder Ovalfensterruptur. Bei einer Fensterruptur müsse nämlich
die Schwerhörigkeit nicht sofort in vollem Ausmaß vorhanden sein. Andere Ursachen seien ausgeschlossen worden. Die MdE schätzte
sie auf 25 v.H. ab 01.07.2007, davor auf 20 v.H. ab 01.10.2003.
Auf die Einwendungen der Beklagten nahm die Sachverständige am 12.02.2008 ergänzend Stellung. Sie wies darauf hin, dass eine
Fensterruptur nicht ohne Operation im Sinne des Vollbeweises bewiesen werden könne. Es spreche jedoch eindeutig mehr dafür
als dagegen, dass die Taubheit links und die nicht kompensierte, an Ausfall grenzende Untererregbarkeit des linken Labyrinthes
durch eine Fensterruptur nach Schädelprellung entstanden sind.
Mit Urteil vom 14.10.2008 verurteilte das SG die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide zur Gewährung einer Verletztenrente von 20 v.H. ab 01.10.2003 und 25 v.H. ab 01.07.2007.
Zur Begründung verwies es auf das Gutachten und die ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen Prof. Dr. S ... Das Gutachten
des Dr. S. sei hingegen weniger fundiert und nicht überzeugend begründet.
Hiergegen hat die Beklagte am 14.01.2009 Berufung eingelegt. Der HNO-Sachverstän-dige Dr. S. habe in seinem für das SG erstellten Gutachten vom 10.09.2006 die bis dahin bestehende Gutachtenslage bestätigt. Dem gegensätzlichen Gutachten der
Frau Prof. Dr. S. für das SG vom 16.11.2007 sei nicht zu folgen. Es fehle am Vollbeweis für den Erstschaden der Fensterruptur. Der Senat hat den Direktor
der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universität D-Stadt, Prof. Dr. D., mit einem weiteren Gutachten beauftragt. Dieser ist am 13.06.2009
zum Ergebnis gekommen, dass die Ertaubung links nicht durch den Unfall herbeigeführt worden sei. Die Annahme einer Membranruptur
stelle zwar eine mögliche, aber keine wahrscheinliche Erklärung dar. Die peripher vestibuläre Störung im Sinne einer kalorischen
Untererregbarkeit sei gut kompensiert. Die Diagnose eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels sei bei der gutachterlichen
Untersuchung nicht objektivierbar gewesen. Die MdE hat der Sachverständige auf 0 v.H. wegen Unfallfolgen geschätzt.
Der Vertreter der Beklagten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.10.2008 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 29.04.2005 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2005 abzuweisen.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 29.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 01.12.2005 ist rechtmäßig. Die Klage war deshalb abzuweisen.
Der Arbeitsunfall des Klägers vom 13.10.2002 hat keine Folgen in rentenberechtigendem Grade hinterlassen. Dies hat der vom
Senat ernannte Sachverständige Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 13.06.2009 überzeugend dargestellt.
Am 11.12.2003 wurde erstmals die Diagnose einer ausgeprägten Hörminderung bis Taubheit links mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
gestellt. Prof. Dr. D. weist darauf hin, dass eine sichere Trennung zwischen ausgeprägter Hörminderung und Taubheit anhand
der Befunde nicht möglich sei. Eine vor dem Unfall bestehende Taubheit links schließt der Gutachter aufgrund des Tonschwellenaudiogramms
vom 19.02.2002 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus. Aufgrund der methodischen Mängel beim Tonschwellenaudiogramm vom
02.09.2003 kann der Befund von diesem Tag nicht als verwertbar angesehen werden. Deshalb muss die Ertaubung bzw. ausgeprägte
Hörminderung links im Zeitraum vom 19.02.2002 bis zum 11.12.2003 eingetreten sein. Aufgrund der vorliegenden Befunde schließt
es Prof. Dr. D. aus, dass es unmittelbar durch den Unfall zu einer Ertaubung links gekommen ist. Eine plötzliche einseitige
Ertaubung tritt nicht unbemerkt ein. Somit ist davon auszugehen, dass die Hörminderung "schleichend", d.h. im Verlauf mehrerer
Wochen bis Monate allmählich zugenommen hat. Die festgestellte peripher-vestibuläre Störung links entwickelte sich parallel
hierzu, denn der Kläger gab zeitnah zu dem Unfall keine Schwindelsensationen an. Eine durch einen Schädelanprall ausgelöste
Commotio bzw. Contusio labyrinthi führt in der Regel zu einer deutlich wahrnehmbaren (Dreh)schwindelsymptomatik. Entwickelt
sich eine peripher-vestibuläre Störung jedoch "schleichend", so können parallel hierzu einsetzende zentrale Kompensationsmechanismen
eine klinische Manifestation von Schwindel unterdrücken.
Laut Prof. Dr. D. ist eine Schädigung des Hör- und Gleichgewichtsorgans bei gegebenem Unfallmechanismus in dreifacher Hinsicht
möglich: Durch ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma verursacht durch einen Schädelanprall an Fahrzeugteilen, durch ein Knalltrauma
durch Auslösung von Airbags und durch eine indirekte Schädigung durch eine Distorsion der Halswirbelsäule. Ein Schädelanprall
verlangt allerdings einen sofortigen Eintritt der Hörminderung und/oder des Tinnitus. Eine solche Hörminderung wird hierbei
zeitnah zu dem Unfall wahrgenommen und zwar innerhalb weniger Stunden. Der Kläger hat aber die Hörminderung erst mehrere Wochen
nach dem Unfall bemerkt und hierbei auch nur durch Fremdbeobachtung durch seine Ehefrau. Somit ist eine Commotio bzw. Contusio
als Unfallmechanismus mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.
Auch bei einem Knalltrauma kommt es zu einer direkten, also unmittelbaren Schädigung des Hörorgans. Eine Hörminderung hätte
auch hier sofort nach dem Unfall bemerkt werden müssen, weshalb ein Knall- bzw. Explosionstrauma mit hinreichender Sicherheit
auszuschließen ist.
Dasselbe gilt bei einer Distorsion der Halswirbelsäule. Eine Latenzzeit von mehreren Wochen ist keinesfalls kausal mit einer
(möglichen) Distorsion der Halswirbelsäule in Verbindung zu bringen.
Der fehlende Nachweis einer Felsenbeinfraktur in der Computertomographie spricht gegen die Annahme einer schweren strukturellen
Schädigung des Felsenbeins. Auch Prof. Dr. D. hält dies für eine vorstellbare Erklärung für den Verlauf der Hörminderung.
Jedoch ist die Ruptur der Membran des runden Fensters, die zu einer solchen schleichenden Hörminderung mit begleitender peripher-vestibulärer
Störung führen kann, nicht bewiesen. Rundfenstermembranrupturen entstehen durch plötzliche Druckerhöhungen. Es handelt sich
um ein Akutereignis mit plötzlicher Ertaubung und plötzlichem Schwindel. Protrahierte Verläufe sind zwar in der Literatur
beschrieben, jedoch bleibt die Annahme eines solchen protrahierten Verlaufs im vorliegenden Fall nur eine mögliche Hypothese,
jedoch keine hinreichend wahrscheinliche Erklärung, da Anknüpfungstatsachen fehlen. Prof. Dr. D. schließt deshalb einen Zusammenhang
zwischen der Hörminderung bzw. Ertaubung links und dem Unfall aus.
Im Gegensatz zu den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten ist die Fensterruptur nicht bewiesen. Insbesondere der fehlende
Nachweis einer Felsenbeinfraktur in der Computertomographie spricht gegen die Annahme einer solchen schweren strukturellen
Schädigung des Felsenbeins.
Das Gutachten des Prof. Dr. D. überzeugt, da er sämtliche möglichen Ursachen für die Ertaubung des Klägers, die im Unfallzusammenhang
stehen könnten, prüft. Nicht gefolgt werden kann jedoch dem Gutachten der Frau Prof. Dr. S. für das SG. Auch Frau Prof. Dr. S. hält die Diagnose einer sogenannten "Fensterruptur" als Ursache für die Taubheit links und die Gleichgewichtsstörung
für nicht bewiesen. Sie spricht selbst von einer Verdachtsdiagnose. Dies ist jedoch nicht ausreichend, da der Erstschaden
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis) bewiesen sein muss und dann im Rahmen der Prüfung der haftungsausfüllenden
Kausalität weitergehend zu prüfen ist, ob auch ein zu einem Rentenanspruch führender unfallbedingter Dauerschaden vorliegt.
Das Gutachten der Frau Prof. Dr. S. für das SG überzeugt auch deshalb nicht, da sie im Verwaltungsverfahren eine andere Ansicht vertrat, ohne dass sie überzeugend darlegen
konnte, warum sie ihre Meinung nun geändert hat. Frau Prof. Dr. S. vertritt in ihren Gutachten aus den Jahren 2005 und 2007
völlig gegensätzliche Meinungen, wann die Taubheit beim Kläger eingetreten ist. Im zweiten Gutachten bestätigt sie, dass nach
den Audiogrammen von Dr. W. unmittelbar vor dem Unfall auf beiden Seiten ein regelrechtes Hörvermögen vorhanden war. In ihrem
ersten Gutachten war sie dessen nicht sicher, da sie die Hörprüfung vom 19.03.2002 für nicht überzeugend hielt. Während sie
im Gutachten vom 30.03.2005 noch von keiner schweren Gewalteinwirkung auf den Kopf des Klägers ausging, bejahte sie in ihrem
zweiten Gutachten ohne nachvollziehbare Argumente und entgegen den dokumentierten Erstbefunden eine erhebliche Intensität
der Gewalteinwirkung auf den Schädel. Dass der Kläger die Ertaubung links nach dem Ereignis nicht bemerkt hatte, war im Erstgutachten
noch mit ausschlaggebend für die Verneinung einer unfallbedingten Entstehung der Taubheit. Im zweiten Gutachten wird diesem
Faktum ohne nähere Begründung keine entscheidende Bedeutung mehr beigemessen.
Somit kann die über ein Jahr nach dem Unfall entdeckte Taubheit des Klägers links nicht als Unfallfolge anerkannt werden.
Beim Kläger sind keine Unfallfolgen verblieben, aufgrund derer eine Verletztenrente zu gewähren ist.
Die Berufung ist deshalb begründet und die Klage abzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.